Donnerstag, 18. April 2024

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Bei mir laufen Fäden zusammen

Um wie der Schweizer Literaturkritiker Max Rychner Zusammenhänge herstellen zu können, um Verhältnisse der Literatur zu entfalten, die nicht nur einem Buch, einem Autor und seinem Werk Rang und Ort zusprechen, sondern die auch imstande sind, Lektüren zu prägen: dazu bedarf es seltener Fertigkeiten. Rychner zitiert in seinem berühmten Vortrag Deutsche Weltliteratur von 1951 ein Credo der Selbstreflexion aus Goethes Divan: "Daß ich mir bewußt sei, / Darauf kommt es überall an." Da findet der 1897 geborene Rychner ein literarisches Programm formuliert, gar das "Lebensgesetz der Literatur" vom Manierismus bis in die Gegenwart, zumindest wohl der Literatur, die ihm als die bedeutendste gilt. Zugleich kann Goethes Vers aber auch als Selbstbeschreibung Rychners verstanden werden. Als Feuilletonredakteur und als Autor hat er Zusammenhänge erkannt, beschrieben und gestiftet. Für ihn erfüllt sich Goethes Selbstbewußtseinsforderung in der Form der Kunst, in einer Ethik der Form.

Guido Graf | 01.03.1999
    Ansichten zur Ästhetik bindet Rychner immer an die Praxis der Lektüre zurück. Ihm gelingt immer wieder das Kunststück, seine kritische Tätigkeit zur Darstellung eigener Autorschaft zu treiben, ohne die Bücher, die er durchstreift, zum bloßen Anlaß zu degradieren. Zugleich ist er lehrreich und vermittelnd. Das geschieht durch Selbstbeschränkung: in "Arachne", einem seiner bekanntesten Aufsätze, verfolgt Rychner geradezu Buchstabe für Buchstabe die Episode aus Ovids Metamorphosen um den Wettstreit der kunstvollen Weberin Arachne mit der Göttin Pallas Athene. Erst scheint Rychner kaum mehr als den Inhalt wiederzugeben. Der Ökonomie von Ovids Erzählung begegnet er mit kommentierender und stilistischer Präzision. Seine Interpretation drängt er am Ende in einen einzigen Satz, der an Deutlichkeit und Überzeugung nichts missen läßt: "Arachne ist die Traumfigur seines" – also des Ovid – "künstlerischen Willens, ist die menschliche Siegesgöttin des Bildners." Ohne mit Rychner immer einverstanden sein zu müssen, macht ihn heute lesenswert, kann uns immer noch interessant und lehrreich sein, wie er zu seinen Urteilen kommt. "Überhaupt formuliert er seine Vorbehalte", schrieb Hans Wolffheim 1960 über Rychner, fünf Jahre vor dessen Tod, "gern in Prägungen, die einen serenen Humor zu erkennen geben."

    Als wesentlicher Pol im literarischen Betrieb einer ganzen Epoche, der sogenannten klassischen Moderne, übte Rychner Anziehungskraft aus durch seine Schreibweise, gleichermaßen in Essays und Rezensionen wie auch in seiner umfangreichen Korrespondenz. In dieses Schreiben ist ein Geflecht gesponnen, das Beziehungen zu Hofmannsthal, Rilke und Thomas Mann einbindet, Lektürefäden ziehen zu Lessing und Goethe, Proust und Valéry oder Arno Schmidt und Uwe Johnson. Man kann nur staunen, was Rychner alles wahrgenommen hat, auch die "kleineren Gewächse", wie er 1927 – er hat als Redakteur und Autor inzwischen die "Neue Schweizer Rundschau" zu einer der wichtigsten europäischen Kulturzeitschriften gemacht – an Hofmannsthal schreibt: "Sie suchen Redaktionen gern auf. In ihren Taschen sind angegilbte Manuskripte, religiöse Untersuchungen, Pamphlete gegen Größen der Wissenschaft, philosophische Systeme, Verse. Wären es gänzlich Abgeirrte, Verrückte, so bliebe alles belanglos. Aber es hat merkwürdig subtile Intelligenzen und imponierende Temperamente darunter. Der gemeinsame Zug ist vielleicht eine innerste Auflehnung oder Gefühllosigkeit gegen das, was Goethe ‘das Rechte’ nennt. … Ihr Blick ist von einem Absoluten gebannt; sie werden leicht inhuman." Rychners Ethik der Form verlangt Genauigkeit im Detail. Das kehrt in seinen Texten immer wieder, zugleich als störrische Zurückhaltung und spielerische Leichtigkeit.

    Kritik und Neugier Rychners verharren nie in einmal gewonnenen Positionen. Er blieb bei seiner Verehrung für Dante und Goethe, ohne daraus die alleinigen Richtlinien der Kritik abzuleiten. Neben solchen Konstanten war ihm vor allem an jeweiliger Orientierung im großen, ständig bewegten Gewebe der Weltliteratur gelegen. Dem Vorwurf der Rückwärtsgewandheit entgegnete Rychner 1949: "Die Zukunft! Der neue Mensch! Da alles aus der Gegenwart zu rennen begann, sah ich meine Aufgabe darin, das allzu radikale Abreißen der Fäden, die das Gewebe mit Gegenwart und Vergangenheit ausmachen, zu verhindern." Daß Rychner dies ganz praktisch dachte, zeigt seine Tätigkeit als Redakteur, während der er, wie er 1931 in persönlich schwieriger Lage selbstbewußt schreibt, "mit einer großen Zahl deutscher und französischer Schriftsteller und Gelehrter in Verbindung" gekommen sei. Und das ist nicht übertrieben: Ernst Robert Curtius schrieb bei ihm über Joyce und Proust, er druckte Gedichte von Rilke und Robert Walser, Texte von Hofmannsthal und Walter Benjamin. 1929 schreibt Rychner an Curtius: "Ich bin eine Mondnatur: die Strahlen der Mitarbeiter treffen mich – und ich leuchte." Dem jungen, noch unbekannten Paul Celan verhalf Rychner 1947 zu ersten Veröffentlichungen seiner Gedichte im Feuilleton der Zürcher Tageszeitung "Die Tat", das Rychner seit 1939, nach diversen Zwischenspielen auch bei Zeitungen in Deutschland, leitete. Daß mit der Unterstützung Celans ein wichtiges Datum der Literaturgeschichte dieses Jahrhunderts bestimmt ist, hat Celan selbst in einem Brief zu Rychners 60. Geburtstag markiert: "…damit, daß Sie damals ermutigten, was in mir nur Wunsch war und nach Worten tastender Gedanke, haben Sie diesem Wünschen und Tasten … das Morgen ermöglicht."