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Beim lieben Gott sind wir alle neun Jahre alt

In dieser Woche bespricht Siggi Seuß Bücher aus Schweden. Klassiker von Astrid Lindgren und auch Neuerscheinungen.

Ein Feature von Siggi Seuß | 29.10.2011
    Wird etwas gestohlen, an irgendeinem Ort, dann muss man sich holen, unbedingt sofort: Kalle Blomquist, den Meisterdetektiv, Kalle Blomquist, den Meisterdetektiv.

    Das waren noch Zeiten - und vielleicht sind sie es auch noch für die nachgewachsenen jungen Meisterdetektive -, das waren noch Zeiten, als wir uns an der Seite Kalle Blomquists durch schwedische Wälder pirschten und genau wussten, wo wir uns befanden, egal, ob wir Kleinköping jemals leibhaftig gesehen hatten oder nicht.

    "Ich denke, es hat mit Astrid Lindgren zu tun und mit Elsa Beskow. Weil die beschreiben die Kindheit als einen verlorenen Paradeis."

    Das glaubt die schwedische Kinderbuchautorin Rose Lagercrantz.

    "Und ich weiß auch - ich kannte Astrid ganz gut -, sie wollte immer in ihre Kindheit zurück, weil als Erwachsene war sie eigentlich melancholisch. Und die Kindheit war schön. Da stand die Sonne hoch am Himmel und keine Schatten und - man spielte. Man spielte und die Eltern waren gut und die waren auch nicht so nahe dran. Und das hat sich auch immer ausgespielt in einer Zeit, wo man sich nicht so schnell geschieden hat und die Kinder wussten nicht so viel von den Eltern und kein Television - die konnten nicht sehen, wie Leute verbluten. Und ich denke: Das war nur eine einzige Sache, was wichtig war im Leben und das war ulkig zu haben. Und das, find ich, das ist so schön bei Astrid Lindgren und ich denke, das hat ein bisschen geprägelt die schwedischen Kinderbücher: die Idylle."

    "Aber Astrid Lindgren mochte ich nicht besonders. Pippi Langstrumpf allerdings schon. Aber ich glaube, mehr habe ich von ihr als Kind nicht gelesen."

    Die schwedische Idylle in der Kinderliteratur funktioniert - wie wir wissen - auch heute noch. Man denke nur an den Erfolg der Bilderbücher von Sven Nordqvist, der hier gerade bekennt, die Geschichten von Astrid Lindgren hätten ihn nicht geprägt. Von ihm - der sich bereits vor zehn Jahren von Pettersson und Findus verabschiedet hat - und von Rose Lagercrantz sind bei uns vor Kurzem zwei neue Kinderbücher erschienen, die ein bisschen mit dem Idyll spielen, es aber nicht - wie einige schwedische Realisten unter den Jugendbuchautoren - infrage stellen.

    "Es gibt einige Schriftsteller, die kein Happy End mögen und wenigstens den Hauch einer dunklen Seite ins Spiel bringen. Sie können das tun, aber ich gebe darauf nichts. Ich möchte den Kindern Sicherheit, Geborgenheit vermitteln. Früher oder später werden sie eh herausfinden, dass es nicht immer ein Happy End im Leben gibt. Aber das müssen sie noch nicht, wenn sie gerade mal fünf Jahre alt sind."

    Infrage gestellt wird die schwedischen Idylle bereits seit Beginn seiner Karriere von dem bekanntesten Realisten unter den schwedischen Jugendbuchautoren, Mats Wahl, von dem bei uns ebenfalls ein neuer Roman erschienen ist.

    "Also, im Leben gibt's viele, viele Zustände, wo alles ist nicht gut. Auch in Bücher für Kinder und Jugendliche ist es, glaub ich, nicht notwendig, aber es ist eine gute Dinge, etwas zu erzählen, das nicht immer gut endet. Was immer endet gut, das wird nach einigen Erzählungen in dieser Tradition - das wird eine große Lüge. Auch Kleinkinder wissen, dass also alles endet nicht gut. Ich glaube, was Astrid Lindgren geschrieben hat, das ist nicht über Schweden. Das ist über etwas idealisiertes Zustand - damals."

    "Dann denk ich immer: Ich fang immer an mit meinen Büchern, wenn ich wirklich traurig bin über etwas. Und da muss ich mir erarbeiten bis zum roten Punkt oder eine kleine Sonne oder ein liebes Wort. Aber wenn man für Kinder schreibt, dann hat man nur ein Ziel - oder ich hab nur ein Ziel: Ich muss zum Happy End kommen. Und Happy End ist sooo wichtig. Und das ist so eine Belohnung, wenn man es findet, weil es darf nicht eine Lüge sein. Es muss irgendwie geschehen können. Sonst ist es Falschspiel."

    Damit haben wir so ungefähr das augenblickliche Spektrum an Realitätsbezug in der schwedische Kinder- und Jugendliteratur beschrieben. Was die Autoren allerdings eint - so unterschiedlich ihre Realitätssicht auch sein mag -, ist die Liebe zur Natur, zu schwedischen Landschaften.

    "Ich liebe es und ich lebe es. Ich bin hier seit 66 Jahre und ich hab hier gelebt in dieser Landschaft. Und hier ist mir alles geschehen. Als ich Junge war, war ich immer im Gebirge, um Fliegenfischen zu machen. Und als ich Kind war, lebte ich auf der Insel Gotland, wo ich immer im Wald war. Ich hab, glaub ich, eine konstante Erfahrung von den Wäldern Schwedens, den Schären Stockholms, die Gebirge nördlichen Schwedens. Ich habe diese schöne Erfahrung von schwedischer Landschaft. Die Landschaft ist schön, aber ich habe die Landschaft nicht schöner gemacht."

    "Aber als ich ungefähr zehn, zwölf Jahre alt war, habe ich einige Sommerferien auf dem Land verbracht - auf Bauernhöfen. Das hat mich schwer beeindruckt. Als ich ein Kind war, wollte ich immer Bauer werden, wirklich. Deshalb liebe ich das Landleben, die Natur und die Tiere und diese Art freien Lebens - tatsächlich ist es ja gar nicht so frei, aber es sieht so aus."

    Dass das Landleben nicht so frei ist, wie es beim ersten Anblick scheint, dass es darin Abgründe, albtraumhafte Szenen und schreckliche Geschöpfe gibt, das sieht man in Nordqvists letzten großen Werk, "Wo ist meine Schwester?", für das er den renommiertesten schwedischen Literaturpreis bekommen hat. Zwar hat sich Nordqvist, nach eigenem Bekunden, von der Welt von Pettersson und Findus längst verabschiedet, trotzdem schuf er mit "Lisa wartet auf den Bus" noch ein Bilderbuch für die ganz Kleinen, in dem die schöne schwedische Landschaft als Kulisse für eine liebenswerte, kleine Alltagsgeschichte dient: Ein buntes Grüppchen höchst verschiedener Menschen wartet an einer Bushaltestelle am Rande eines Dorfes auf den Bus in die Stadt. Mittendrin die kleine Lisa.

    Lisa und ihre Mama wollten in die Stadt fahren und dort in ein Puppentheater gehen. Sie liefen zur Bushaltestelle und setzten sich auf die Bank. Da stand auch schon Söderkvist mit seiner kleinen Tasche und wartete auf den Bus. "Schönes Wetter", sagte Söderkvist. "In Paris sind es heute zweiunddreißig Grad." "Donnerwetter", sagte Mama.

    Dann kommt noch eine alte Frau hinzu, die einen Zitherkasten trägt und ein Liedchen für Lisa zupft, ein Lied über die Sehnsucht des Herzens. Zwei Kindergärtnerinnen warten ebenfalls mit einem quicklebendigen Papagei im Käfig. Dann taucht der kleine Johan mit einer geheimnisvollen Tasche auf und man sollte meinen, jetzt müsse der Bus eigentlich kommen. Tut er aber nicht. So vertreiben sich Lisa und Johan die Zeit auf ihre Weise. - Eine banale Geschichte? Ja und nein. Wie Nordqvist durch seinen Pinsel- und Buntstiftstrich Atmosphäre schafft, in der sich die charakteristischen Figuren mit wenigen aber passenden Worten und Taten bewegen - das ist bewundernswert. So zaubert der Künstler selbst aus der alltäglichsten Situation ein kleines Universum des Augenblicks. Dass die aquarellierte Kulisse - vereinzelte Gehöfte, Felder, Wiesen, Wälder, Weiden in sanft hügeliger Landschaft - gegenüber den detailliert ausgearbeiteten Landschaften in "Wo ist meine Schwester?" nahezu verblassen, könnte man als Zeichen dafür sehen, dass sich Nordqvist langsam aber sicher von jener Art zu zeichnen und zu malen verabschieden möchte. - Auch Rose Lagercrantz' neue Geschichte "Mein glückliches Leben" lebt von einer ganz besonderen Atmosphäre - auch wenn ihr nur eine Stadtlandschaft als Hintergrund dient.

    Es ist schon spät, aber Dunne kann nicht einschlafen. Manche zählen Schafe, wenn sie nicht schlafen können, aber sie nicht! Dunne zählt, wie oft sie in ihrem Leben glücklich war. Wie das eine Mal, als sie von ihrem Cousin Axel einen Frosch geschenkt bekam. Da war sie noch ganz klein. Und als sie zum ersten Mal drei Schwimmzüge schaffte, ohne zu ertrinken. Und als sie ihren Schulranzen kriegte. Sie war ja so glücklich, dass sie in die erste Klasse kam. Ihr ganzes Leben hatte sie sich darauf gefreut. Der Sommer war ihr furchtbar lang geworden, weil sie solche Sehnsucht nach der ersten Klasse gehabt hatte.

    "Mein glückliches Leben" lebt auch von einem liebenswerten Humor, der schon Rose Lagercrantz' Metteborg-Schulgeschichten auszeichnete - voller Empathie für die handelnden Personen. Es ist eine weitaus diffizilere Welt als die der kleinen Lisa, in die uns die Autorin führt und die durch viele treffend schlichte Schwarzweiß-Bilder von Eva Eriksson mehr als untermalt werden.

    "Weil wir haben irgendwie denselben Humor, denselben Gedanken von Kinder. Sie hat diesen Understatement-Humor in ihre Bilder. Die sind ulkig, ich weiß immer nicht, warum sie ulkig sind. Und ich liebe das auch so im Text. Es muss nicht so groß Lachen zu sein, bloß man soll Gefühl haben: das Leben ist eigentlich ganz lustig Und dann mach ich diesen Buch und dann kommt es zu ihr an und dann treffen wir uns und diskutieren, wo die Bilder sein können. Und ich liebe, dass sie so generös ist und macht viele Bilder. Weil ich denke, so viele Kinder haben in diesem Alter noch schwer zu lesen."

    Man kann sagen: Kein Wort zu viel, kein Bild zu wenig. Natürlich ist das glückliche Leben - jedenfalls von außen betrachtet - nicht immer so glücklich, wie Dunne es sich wünscht. Sie lebt allein mit ihrem Vater und mit der Katze. Ihre Mutter ist gestorben, als Dunne noch ganz klein war. Und in der Schule ist das glückliche Leben auch nicht gerade ein ständiges Zuckerschlecken: die Mühen, eine Freundin zu finden, sich gegen die Rabauken zur Wehr zu setzen und der Kummer, wenn man von einem lieb gewonnenen Menschen Abschied nehmen muss. - Das alles lassen Lagercrantz und Eriksson herzerfrischend lebendig werden. In Schweden ist bereits ein zweites Büchlein von Dunne erschienen, "Mein Herz springt und lacht". - Und es ist erstaunlich: Es gibt noch eine schwedische Geschichte für Kinder, die genau den Ton trifft, den Sven Nordqvist, Rose Lagercrantz und Eva Eriksson vorgeben.

    Es war ein ganz normaler Freitag Ende Mai, mitten in der Stadt. Ellika Tomson war auf dem Heimweg von der Schule und ging sehr langsam.
    Sie ließ den Kopf hängen, sah und hörte nichts.
    Fast wie im Schlaf.
    Bis sie Karlsson sah. Oder ihn hörte. Oder vielleicht fast über den langen Besen stolperte, auf den Karlsson sich stützte.


    "Ellika Tomson und ihre Entdeckungen im blauen Haus", ein Roman von Åsa Lind, der Schöpferin der Zackarina-Geschichten, mit pfiffigen Schwarzweißkarikaturen von Philip Waechter. Auch bei ihr finden wir das, was in den Büchern von Nordqvist und Lagercrantz auf jeder Seite spürbar ist und was sich bereits bei Astrid Lindgren - egal, ob das die Autoren selbst so sehen oder nicht - so wunderbar zu einem Ganzen zusammengefügt hat: die Erschaffung eines lebendigen kleinen Universums, eines Mikrokosmos, in dem uns Lesern alle Geschehnisse und Handlungsorte so nahe kommen, als seien sie ein Teil unserer Welt. - Die neunjährige Ellika ist so deprimiert, weil sie einen doofen Aufsatz über Entdecker schreiben soll und keine Ahnung hat wie. Sie hat nur noch das Wochenende Zeit und hört schon das Gezeter ihrer Lehrerin. Und da hat Karlsson, der Hausmeister des großen blauen Hauses, in dem Ellika mit ihrer Mutter lebt - der Papa sitzt wegen einer dummen Sache im Gefängnis -, da hat Karlsson eine Idee.

    Er durchsuchte seine Taschen, kramte ein kleines Notizbuch heraus und zog einen Stift, der hinter seinem Ohr steckte, hervor. Er öffnete das Buch und schrieb etwas hinein. Er schrieb ziemlich lange. Schließlich reichte er Ellika feierlich das Buch.
    Sie nahm es und las auf der ersten Seite:
    Ellika Tomsons Entdeckungsreise durch das
    blaueste Haus in der ganzen Trompeterstraße.
    EINES TAGES entdeckte sie ...


    Das ist der Beginn einer wundersamen Entdeckungsreise durch die sieben Stockwerke des Hauses, von der tiefsten Finsternis des Kellergewölbes bis zum höchsten Dachbodenhimmel. Das Mädchen lernt unbekannte Nachbarn kennen, sieht alte Bekannte in einem neuen Licht und wird mit Situationen konfrontiert, die ihr vorher nicht einmal im Traum eingefallen wären. - Åsa Lind erzählt von Ellikas Entdeckungsreise so, dass wir neben der kleinen Welterforscherin zu stehen glauben. Alles wirkt überraschend neu und spannend, selbst wenn es die Entdeckung eines erbsengroßen, kohlschwarzen Käfers ist, der im ersten Stock an der Wand lang kriecht. Und wann haben wir uns das letzte Mal so gefühlt? Als wir selbst noch die Welt vor dem nahen Horizont erforschten.

    "Was wir vorher stark waren in Schweden war die Seele von einem Neunjährigen oder Zehnjährigen zu beschreiben. Und ich weiß, einmal als ich ein Buch schrieb und Lennart Hellsing, unser großer Nonsense-Project-Poet - da hat er eine Rezension geschrieben und da hat er gesagt: Bei Lieber Gott sind wir alle bloß neun Jahre. Und das fand ich so! Und das war so wirklich für die schwedische Kinderbücher. Wir waren wirklich bloß neun Jahre alt in die schwedische Kinderbücher. Wenn ich manchmal etwas lese, was zu mir kommt - die letzte Zeit waren es Jugendbücher, von Schweden geschrieben - und die waren außerordentlich. Und die waren genauso stark wie vorher die Kinderbücher."

    Am gegenüberliegenden Seeufer verkehren die Pendelzüge nach Stockholm. Wenn der Wind von drüben kommt, kann man sie hören. In der hohen Hecke ist eine kleine Pforte, die fast völlig überwuchert ist, und zehn Meter davon entfernt ein größeres Tor mit zwei eisernen Flügeln, deren gelbe Farbe abgeblättert ist.

    Und damit sind wir bei Mats Wahl - dem großen Realisten unter den schwedischen Jugendbuchautoren. In seinem neuen Roman "Du musst die Wahrheit sagen" weht immer noch der Wind zwischen Schären und Mälaren rund um Stockholm, der schon in seinem 1996 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichneten Roman "Winterbucht" wehte. Und er weht so frisch, dass man dem Autor sofort glaubt, es habe sich - trotz wahnwitziger Digitalisierung gerade des Alltags schwedischer Jugendlicher - nichts am grundsätzlichen Befinden des Menschen verändert.

    "An Oberfläche findet man natürlich große Veränderungen, aber im Herzen des Menschen und in Ambitionen des Menschen gibt's keine Veränderung, glaub ich. Wäre es im Jahre Goethes oder im Jahre Mats Wahls oder im Jahre meines Tochters in the future - ich glaube, wir sind dieselben Menschen."

    Der Rasen war lange nicht gemäht worden und sah aus wie ein Kornfeld, in dem der Hafer durch den letzten Regenguss platt gedrückt worden war. Die Apfelbäume trugen schon Früchte, und am See standen Erlen mit ihren glänzenden Blättern. Man sah den Steg und das an Land gezogene Ruderboot, das an eine der Erlen gekettet war. Alles sah ungefähr so aus, wie ich es in Erinnerung hatte.

    Zwei Nachbarhäuser in einem Vorort Stockholms. Sie sehen sich ausgesprochen ähnlich, außen und innen. In einem lebt ein alter Mann, ein Deutscher, in das andere ziehen gerade der 16-jährige Tom, der Erzähler der Geschichte, seine Mutter und seine beiden Halbgeschwister ein. Es gibt zwei Handlungsstränge im Roman. Der eine betrifft die Familie, das spannungsreiche Verhältnis Toms zu seinem Halbbruder und die Beziehung zum neuen Liebhaber der Mutter, einem Polizisten. Der interessiert sich nicht nur für die Mutter, sondern auch für die Tochter. Eine Katastrophe scheint sich anzubahnen. Der andere Handlungsstrang - oder Spannungsbogen - zieht sich von Tom zu dem alten Mann im Nachbarhaus. Es gibt etwas, was den alten mit dem jungen Mann verbindet. Was, das erfahren wir erst, wenn sich die beiden Handlungsstränge am Ende vereinen.

    "Alles hat angefangen im Unbewusste, im Fantasia. Ich hab diese zwei Häuser in Fantasie gesehen. Ich hab diese zwei Häuser niemals in Wirklichkeit gesehen. Die Fantasie ist voller Realität, nicht wahr? Und etwas ist geschehen zwischen diesen Häusern. Eine Liebespromenade oder ein Walk of Life has taken place. And the result is no living in one of the houses. ... In dem einen Haus geht es um das Ende eines Lebens, im anderen um den Beginn eines anderen Lebens. Und dieser Gedanken war plötzlich in mir. In meiner Fantasie konnte ich diese Häuser sehen. In Wirklichkeit habe ich sie natürlich nie gesehen."

    Da haben wir sie wieder: Eine Landschaft, die mehr ist als eine pittoreske Kulisse. Ein Roman, der mehr sein will als spannende Unterhaltungsliteratur. Es mag Lesern, die Action, Kicks und Chaos gewohnt sind, schwerfallen in eine solche Geschichte einzudringen. Alles entwickelt sich in einer Langsamkeit, die mehr unbewussten als bewussten Entscheidungen der Handelnden geschuldet ist. Und am Ende steht bei Mats Wahl - wie wir ahnen - nicht unbedingt ein Happy End.

    "Ich würde mich als Diener der Geschichte bezeichnen. Es ist meine Pflicht, sie so gut ich kann zu erzählen. Und die Geschichte ist eine hoffnungsvolle oder ganz, ganz realistische oder vielleicht ebenso schlimme Geschichte - also, das ist etwas, was hat Konsequenzen zu mir. Also, ich kann nicht über die Geschichte herrschen. Ich kann die Geschichte."

    "Das könnte fast als Schlusswort gelten, wäre da nicht noch eine, auch bei uns erfolgreiche schwedische Kinderkrimiserie: die "Detektivbüro LasseMaja"-Geschichten von Martin Widmark. Zwar versucht der erfolgreiche Autor auch in der neuesten - der zehnten - LasseMaja-Story, "Das Goldgeheimnis", ans Milieu der Kalle-Blomquist-Krimis anzudocken, aber das misslingt. Keine Spur von Leben hinter den Figuren, oder besser: hinter den Karikaturen von Menschen. Als Leseeinstieg für Kleine sind die Geschichten sicher geeignet. Dieses zauberhafte Gespinst aus Atmosphäre, Milieu und Handlung jedoch, das die hier vorgestellten Bücher auszeichnet, bleibt den LasseMaja-Abenteuern fremd. Und deshalb wenden wir uns am Ende wieder flugs den Sonnen- und Schattenseiten Stockholms, Kleinköpings, Lönnebergas und Bullerbüs zu und lassen noch einmal Rose Lagercrantz zu Wort kommen, die mit ihren ganz eigenen Worten erklärt, warum man nicht in Bullerbü - oder wo auch immer sonst in Schweden - gewesen sein muss, um mit einem Ort vertraut zu sein."

    "Ich selber weiß als Kind, dass ich hab geliebt die Bücher. Es war mein Leben. Es war so in Bullerbyn von Astrid Lindgren. Da ist die kleine Lisa, die hat ein Lämmchen bekommen, was sie mit die Flasche Milch geben musste, weil die Mutter hat gestorben. Und die will nicht das Lämmchen lassen. Und sie nimmt das Lämmchen zur Schule. Und alle, alle, alle lachen, weil sie sagen: "Lisa kommt mit einem Lämmchen zur Schule!" Und ich hab den Gefühl - später, als Erwachsene: Ich war mit einem Lämmchen in der Schule. Ich hab nie ein Lamm gesehen, als ich klein war! In meinem Vorort in Stockholm. Aber das ist das: Du lebst das Buch. Du liest ein Buch und du bist tief drin. Das ist wunderbar."

    Astrid Lindgren: Kalle Blomquist, Eva-Lotte und Rasmus. Hörspiel von Rose Marie Schwerin, Oetinger Audio 2007, 13,95 Euro, ab 6 Jahren

    Sven Nordqvist: Wo ist meine Schwester? Deutsch von Angelika Kutsch; Oetinger, Hamburg 2008, 19,90 Euro, ab 5 Jahren

    Sven Nordqvist: Lisa wartet auf den Bus. Deutsch von Svenja Drewes, Ellermann, Hamburg 2011, 12,95 Euro, ab 4 Jahren

    Rose Lagercrantz: Mein glückliches Leben. Mit Illustrationen von Eva Eriksson. Deutsch von Angelika Kutsch, Moritz Verlag, Frankfurt 2011, 11,95 Euro, ab 7 Jahren

    Åsa Lind: Ellika Tomson und ihre Entdeckungen im blauen Haus. Mit Bildern von Philip Waechter. Deutsch von Birgitta Kicherer, Beltz & Gelberg, Weinheim 2011, 12,95 Euro, ab 9 Jahren

    Mats Wahl: Du musst die Wahrheit sagen. Deutsch von Angelika Kutsch, Hanser, München 2011, 13,90 Euro, ab 14 Jahren


    Martin Widmark: Detektivbüro LasseMaja - Das Goldgeheimnis. Deutsch von Maike Dörries, Uebereuter, Wien. 2011, 8,95 Euro, ab 8 Jahren