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Bekennender Internationalist

Geboren ist er am 31. März 1899 in Moskau, aufgewachsen in Russland, Finnland, der Schweiz und Frankreich - und in eben diesen Ländern studierte er auch Musik. Ab 1922 dirigierte er in Berlin Arbeiterchöre: Leo Borchard, der dann in den 30er Jahren einer der meistverpflichteten Dirigenten bei den Berliner Philharmonikern wurde. Während der Naziherrschaft beteiligt er sich an einer Widerstandsgruppe und bereits drei Wochen nach der Befreiung, am 26. Mai 1945, kann er mit Erlaubnis der Besatzungsmächte das erste Konzert des Philharmonischen Orchesters im Berliner Titaniapalast dirigieren. Am 23. August 1945, heute vor 60 Jahren wird Leo Borchard durch ein schreckliches Versehen von einem amerikanischen Militärposten erschossen.

Von Matthias Sträßner | 23.08.2005
    "Seit 1934 Auftritte in Konzerten des Philharmonischen Orchesters in Berlin. Mit anhaltendem Erfolg wächst die Anzahl der Konzerte in Berlin. Im Jahre 1937 beurteilt das Ministerium für Propaganda und Kultur diese Konzerte als "nicht wünschenswert" angesichts des in den Programmen überaus starken Vorherrschens der neuen ausländischen musikalischen Literatur. "

    Zeilen aus dem handgeschriebenen Lebenslauf Leo Borchards, notiert im Jahr 1945. Was dem verhaltenen, fast resignativen Ton nicht zu entnehmen ist: hier steht ein junger Dirigent wenige Tage nach Ende des Zweiten Weltkriegs auf der höchsten Position, die Deutschland bis heute für Dirigenten zu vergeben hat. Er steht am Pult der Berliner Philharmoniker, die sich nach dem Krieg erstaunlich schnell wieder zusammengefunden haben.

    "Immer besser beginnen sich Andriks Konzerte einzuspielen. Titania-Palast, Volksoper. Umschichtig wechseln die Programme, wechselt das Publikum, das ihnen lauscht. Amerikanische Truppen, englische Truppen, deutsche Zivilpersonen aus dem einen Sektor, deutsche Zivilpersonen aus dem anderen.....Auch in Andriks Künstlerzimmer vergisst man über Tschaikowsky, Beethoven und Richard Strauss, dass es Sieger und Besiegte gibt. "

    Leo Borchards langjährige Lebensgefährtin Ruth Andreas-Friedrich nennt ihren Freund Andrik. Ihr Buch "Der Schattenmann", ein großer publizistischer Erfolg nach dem Krieg, setzt bereits im Jahr 1938 an. Da aber findet sich Borchards künstlerische Lebenspartitur schon auf Notenzeilen geschrieben, deren fünf Linien von fünf Dirigenten gezogen scheinen: Wilhelm Furtwängler, Bruno Walter, Otto Klemperer, Leo Blech und Hermann Scherchen. Diese Dirigenten hatten das Konzertleben Berlins nach dem 1. Weltkrieg entscheidend geprägt:

    Bei Scherchen bekommt Borchard die ersten Möglichkeiten für eigene Auftritte in Berlin. Und auch nachdem Borchard 1925 Verpflichtungen bei der Städtischen Oper unter Bruno Walter und 1927 an der Staatsoper unter Klemperer eingeht, ist es wieder Scherchen, der den begabten jungen Dirigenten nach Königsberg holt, wo Scherchen bei der Ostmarken-Rundfunk AG ein neues Rundfunkorchester aufbauen will."

    Als Otto Klemperer sich einmal selbst in einer Dirigierkrise befindet, nimmt er bei Borchard Unterricht. Furtwängler wiederum steht an der Spitze des Berliner Philharmonischen Orchsters, an dessen Pult Leo Borchard von 1933 bis 1936 Spielzeiten des Glücks erlebt. Der jüdische Dirigent Leo Blech, dessen Schwiegersohn mit Leo Borchard eng befreundet ist, wird kurz nach dem 2. Weltkrieg um ein Haar Borchards größter Konkurrent. Denn Heinz Tietjen, der frühere Generalintendant der Preußischen Staatstheater, empfiehlt den russischen Besatzern mit dem erfahrenen und beliebten Leo Blech den Berliner Neuanfang zu wagen, und nicht mit Borchard. Doch Borchard kann sich durchsetzen, wobei dem in Moskau geborenen Dirigenten sicher seine russischen Sprachkenntnisse und seine guten Kontakte zu den russischen Besatzern zugute kommen.

    "Herr Leo Borchard, Berlin-Steglitz, Hünensteig 6, wird bis zur endgültigen Entscheidung mit der künstlerischen Gesamtleitung des Berliner Philharmonischen Orchesters und als Dirigent der Konzerte beauftragt. Herrn Borchard steht das Recht zu, die Mitglieder des Orchesters, die als Mitglieder der NSDAP sich aktiv politisch betätigt haben, zu entfernen.
    Abteilung für Volksbildung beim Magistrat der Stadt Berlin." (2.6.1945) "

    Mehr als 120 Tage werden es nicht. Und so bleiben die künstlerischen Pläne Leo Borchards, der während des 2. Weltkriegs auch Kontakte zum Widerstand pflegte, weitgehend im Dunkeln. Nur in einem Interview vom 7. Juni 1945 mit der "Täglichen Rundschau" äußerte er sich:

    "Über mein zukünftiges Programm kann ich noch nichts Endgültiges sagen. Ich möchte Schostakowitsch, der zu den bedeutendsten sowjetischen Komponisten gehört und Weltruf besitzt, so bald wie möglich in Berlin spielen. Wir planen eine feste Reihe von Konzerten, die namhafte Dirigenten leiten werden. Mir liegt daran, neben den bekannten Werken, die man schon oft gehört hat und immer wieder hören will, endlich einmal Neues zu bringen. Es ist erfreulich, dass man jetzt schon das Gefühl haben kann: die Philharmoniker sind wieder da, sie sind ohne größere Wunden aus dieser Zeit hervorgegangen. Es gibt natürlich eine Einbuße an Instrumenten, einige Leute werden vermisst ....."
    ("Tägliche Rundschau" 7. Juni 1945 Artikel "Schostakowitsch im Berliner Musikleben. Leo Borchards Pläne mit den Philharmonikern" von Annemarie Schuckar). "

    Im Anschluss an ein Konzert am 23. August wollte ein britischer Oberst den Dirigenten nach Hause fahren. Als das Diplomatenfahrzeug an einem Kontrollpunkt der Amerikaner nicht anhielt, wurde das Feuer eröffnet. Leo Borchard war sofort tot.