Freitag, 29. März 2024

Archiv

Belarus - Texte und Stimmen (5/7)
Die Frage der Nation

Einen essayistischen Versuch, Weißrussland zu verstehen, unternahm der Philosoph Valentin Akudowitsch. Mit der Unabhängigkeitserklärung von Belarus am 25. August 1991 begann ein neues Kapitel, das die Frage nach einer weißrussischen Identität neu stellte.

Mit Texten von Valentin Akudowitsch und einem Gespräch mit Martin Pollack | 01.01.2021
Der Unabhänigkeits-Platz in Minsk.
Der Unabhängigkeitsplatz in Minsk (imago)
In einem außerordentlich gut lesbaren Essay, im Original 2007 in Minsk erschienen, befasst Akudowitsch sich mit den Ursachen der schwachen Identität seines Landes. Er distanziert sich von Versuchen, eine eindeutige weißrussische Identität zu konstruieren. Das sei Mythenbildung. Dem von der Regierung und demokratischer Opposition favorisierten Verständnis einer weißrussischen Nation setzt er die Idee eines Staates von freien und gleichen Bürgerinnen und Bürgern unterschiedlicher Sprache und Herkunft entgegen und plädiert für bürgerliche Aufgeklärtheit und Emanzipation.
Der Essay bietet wichtige Einsichten in die Widersprüche eines krisengeschüttelten, von diktatorischen Verhältnissen geprägten Landes, verbunden mit einer profunden historischen Analyse mit provokanten Thesen.
Valentin Akudowitsch, geboren 1950, Literat, Redakteur, Philosoph, Schlüsselfigur der intellektuellen Szene in Belarus. Seit 2001 ist er Kurator der Abteilung Literatur und Philosophie am weißrussischen Kollegium. Seine Texte erscheinen weltweit, dieser Essay ist unter dem Titel "Der Abwesenheitsode. Versuch, Weißrussland zu verstehen" 2013 im Suhrkamp Verlag erschienen.
Martin Pollack, geboren 1944, Slawist und Osteuropahistoriker, war bis 1998 Redakteur beim "Spiegel" und lebt in Wien.

Belarus - Texte und Stimmen

Eine Reihe in sieben Teilen

"Wenn ich früher ab und zu in meine Heimatstadt Swislatsch fuhr, begrüßte mich mein Vater mit den Worten: 'Der Weißrusse ist da.' Er nannte mich nicht 'Sohn', nicht 'Schriftsteller', nicht 'Minsker', nicht einmal 'Taugenichts'. All dies schien ihm weniger bemerkenswert als die Tatsache, dass ich ein 'Weißrusse' bin.

Ich ärgerte mich ein wenig über diese Begrüßung und hätte manchmal gern gefragt: 'Und Sie, mein Vater, sind Sie vom Himmel gefallen, sind Sie etwa kein Weißrusse?'

Doch ich schwieg, weil ich verstand, dass mein Vater recht hatte. Denn schon immer verhält es sich bei uns so, dass man mit dem Wort 'Weißrusse' in erster Linie jemanden bezeichnet, der eine Wahl getroffen hat, der sich für die nationale Idee engagiert, der für die Unabhängigkeit eintritt, der bewusst eine exotische Sprache spricht, der also ein spezifisches Denken pflegt und ein spezifisches Leben führt. Erst in zweiter Linie versteht man darunter die Nationalität eines Menschen, die für sich genommen zunächst gar nichts weiter bedeutet.

In Weißrussland ein Weißrusse zu sein, heißt daher, dass man von der Norm abweicht, und – ob man will oder nicht – für die einen als Missionar eines neuen Glaubens gilt, für die anderen als bedrohlicher Fremder und für alle Übrigen als lächerlicher Narr. Selbst die Verwendung des Weißrussischen ist in Weißrussland eine politische (und natürlich eine ästhetische) Entscheidung."
Das Buch "Der Abwesenheitscode. Versuch, Weißrussland zu verstehen" steht im Mittelpunkt der Sendung. Der Minsker Philosoph Valentin Akudowitsch – oder belarussisch Waljanzin Akudowitsch – ist ein wichtiger Vertreter der intellektuellen Szene von Belarus. Heute arbeitet er als Kurator der Abteilung Literatur und Philosophie am weißrussischen Kollegium. In einer historisch umfassenden Vorlesungsreihe über die Grundlagen der weißrussischen Mentalität suchte er Anfang des Jahrtausends nach Gründen dafür, warum es der weißrussischen Bevölkerung nicht gelungen sei, sich politisch zu emanzipieren und stattdessen in einer gewissen Apathie den Ruf der letzten Diktatur Europas zu ertragen.
Die zentrale Frage, die Akudowitsch aufwirft, betrifft das Thema Nation. Dem von Regierung und demokratischer Opposition favorisierten Verständnis einer weißrussischen Nation setzt er die Idee eines Staates von freien und gleichen Bürgern unterschiedlicher Herkunft und Sprache entgegen.
Das Original erschien 2007, in Deutschland im Jahr 2013 in der Edition Suhrkamp. Martin Pollack hat das Buch damals mit einem klugen Nachwort versehen – "für alle Unwissenden". Der Slawist und Osteuropa-Historiker, bis 1998 Redakteur beim Magazin "Der Spiegel", ist ein vielfach ausgezeichneter Autor und Übersetzer und hat sich um die Osterweiterung des europäischen Bewusstseins verdient gemacht.

"Es gab nicht einen Staat Weißrussland"

Barbara Schäfer: Herr Pollack, Weißrussland oder heute Belarus war lange Jahrzehnte ein blinder Fleck auf der Landkarte. "Hic sunt leones – hier sind Löwen", hätten die Römer auf diese Landkarte geschrieben. Warum blieb dieser Fleck so hartnäckig blind?
Martin Pollack: Das ist eine gute Frage. Er ist ja eigentlich bis heute fast blind geblieben. Gerade in letzter Zeit hat man sich mehr mit Weißrussland oder Belarus beschäftigt wegen der Demonstrationen, wegen der Brutalität der Staatsgewalt und so weiter, aber insgesamt wissen wir nach wie vor beschämend wenig über dieses Land. Wir wissen beschämend wenig über seine Kultur, seine Literatur, die Menschen, die dort leben. Wahrscheinlich hängt diese Abwesenheit, die ja schon im Titel angesprochen wird von Akudowitsch, damit zusammen, dass ja Weißrussland als Staat, als staatliches Gebilde eigentlich nie existierte, erst bis zu unserer Zeit herauf. Es gab nicht einen Staat Weißrussland, so wie es Polen gab – Polen ist dann durch die Teilungen verschwunden, aber trotzdem war es immer präsent, es war auch im Bewusstsein Europas präsent, man wusste von Polen. Andersrum Weißrussland – das wurde so gesehen als ein Teil vom Russischen Reich. Später wurden die westlichen Gebiete abgetrennt und kamen zu Polen, also die Polen betrachten das als polnische Gebiete, aber das Weißrussland als solches existierte nicht. Das hat wohl auch bewirkt, dass wir uns sehr, sehr wenig damit beschäftigt haben.
 MINSK, BELARUS - NOVEMBER 26, 2020: Belarus President Alexander Lukashenko is pictured during a meeting with Russia s Foreign Minister Sergei Lavrov at the Palace of Independence. Valery Sharifulin/TASS PUBLICATIONxINxGERxAUTxONLY TS0EFBE1
Weißrussland auf der Suche nach seiner IdentitätWeißrussland ist einer der Staaten Europas, über die man wenig und vor allem wenig Gutes weiß. Der weißrussische Philosoph Valentin Akudowitsch beschäftigt sich in einem Essay mit der Frage, warum seinen Landsleuten die Identitätsfindung besonders schwerfällt.
Schäfer: Die jüngeren Intellektuellen, Philosophinnen und Essayisten in Belarus beziehen sich auf Valentin Akudowitsch als dem Patriarchen der belarussischen Philosophie, auch seiner Beschäftigung mit der notorisch schwachen Identität des Landes und seiner Ursachenforschung, die er in seinem Buch betreibt, folgen sie alle. Es gibt Neuauflagen jetzt zum Beispiel zu Überlegungen, wer denn nun der Belarusse, die Belarussin genau sei. Welche Rolle spielte Valentin Akudowitsch in Weißrussland damals, als er dieses Buch veröffentlichte, welche Rolle spielt er jetzt?
Pollack: Tatsächlich war Valentin Akudowitsch damals - das war eine Sensation, dieses Buch, es ist ja auch der Opposition nicht wirklich gelegen gekommen. Er greift ja auch die Opposition ziemlich heftig an, also er verwahrt sich dagegen, dass man Weißrussland, also eine weißrussische Identität so als Ganzes betrachtet. Er sagt, es gibt nicht so etwas wie eine einheitliche weißrussische Identität, anders zum Beispiel, noch einmal auf Polen zurückgreifend, anders als eine polnische Identität. Das erklärt er auch sehr, sehr gut. Wir haben ihn 2013 nach Leipzig eingeladen. Ich habʹ damals das Schwerpunktprogramm der Buchmesse Transit kuratiert, und da kam mir dieses Buch, das im Suhrkamp-Verlag erschienen ist, gerade recht, weil es wirklich einen unglaublich präzisen Blick auf diese Region wirft. Akudowitsch – an das kann ich mich sehr gut erinnern – war damals ein bisschen so etwas wie ein Fremdkörper. Es gab Weißrussen, die dort bei uns aufgetreten sind, die ihn eigentlich überhaupt nicht goutieren, die gerade seine Sicht darauf, dass man nicht von einer einheitlichen weißrussischen Identität sprechen kann, dass man nicht das Weißrussische, die Sprache, das Weißrussische als einheitliche Sprache anpeilen kann. Die haben ihn abgelehnt, und er hat trotzdem dort unglaublich tapfer seinen Standpunkt vertreten und hat, glaube ich, in Weißrussland insgesamt einen großen, sehr, sehr großen Einfluss gehabt auf die jüngeren Intellektuellen, die ihn heute wohl immer noch lesen, nach wie vor mit ihm diskutieren. Ich weiß einfach zu wenig darüber, wie er heute dort rezipiert wird, aber ich nehme an, dass er immer noch eine sehr, sehr große Rolle für die Opposition spielt.
Schäfer: Im Gegensatz zur Opposition und zur Demokratiebewegung und auch im Gegensatz zur Machthaberschaft Lukaschenkos bezieht er sich ja nicht auf die Frage der Nation, die unbedingt ein Belarus als Nation darstellen möchte, sondern er vertritt eine Idee eines Staates von freien und gleichen Bürgern, was insbesondere in Weißrussland eine ganz schwierige Frage zu sein scheint, auch für die Zukunft, was immer jetzt passiert. Wie ordnen wir das ein?
Pollack: Das hängt sicherlich damit zusammen, dass Weißrussland oder die Weißrussen ja bis in unsere Zeit herauf nie Freiheit geübt haben, also sie haben das eigentlich nie kennengelernt. Sehr viele sind indifferent der Freiheit, dem Begriff Freiheit gegenüber. Akudowitsch beschreibt das sehr schön an dem Beispiel: Wenn man die Menschen fragt, Wurst oder Freiheit, dann werden die meisten die Wurst wählen. Erst jetzt gibt es eine breitere Bewegung, die eigentlich Akudowitsch nicht vorausgesehen hat. In seinem Buch schreibt er, diese Protestbewegungen laufen alle ins Leere, also da eher eine pessimistische Meinung, aber gerade jetzt gibt es eine breite Freiheitsbewegung, die wohl auch nicht nur für Akudowitsch, sondern vor allem natürlich für Lukaschenko überraschend kommt, weil Lukaschenko hat sich das überhaupt nicht so vorgestellt. Er hat eigentlich geglaubt, damit, dass er diese Protestbewegungen 2000 und auch schon vorher niedergeschlagen hat mit unglaublicher Brutalität, was er ja auch jetzt wieder versucht, aber da hat er geglaubt, damit ist er gerettet, damit ist er aus dem Schneider und damit hat sich die Sache gehabt und seine Herrschaft ist gesichert. Er denkt ja durchaus auch daran, dass er die vielleicht an seinen Sohn übergeben wird, dass da so eine Dynastie errichtet werden könnte. Heute weiß man, dass Lukaschenko und sein Herrschaftsmodell, dass das ein Auslaufmodell ist, dass das keinen Bestand haben wird.

"Wir müssen uns dem Land öffnen"

Schäfer: Kommen wir noch mal zu der Frage Belarus und Europa: ein Nichtverhältnis, insbesondere auch Belarus und die EU. Es gab mehrere Experten, die immer wieder darauf hingewiesen haben, dass es dort diesen blinden Fleck Weißrussland gibt und eigentlich keiner sich drum kümmert, dass dieses Land verschwindet. Wollten wir nichts wissen und wollen wir es denn jetzt, wir Europäer?
Pollack: Ich bin da immer ein bisschen skeptisch. Ich gehöre ja zu denen – das kann ich jetzt in aller Bescheidenheit sagen –, die schon sehr früh darauf hingewiesen hatten. Auch dieses Schwerpunktprogramm in Leipzig für drei Jahre lang hat ja Belarus bewusst einbezogen, das galt der Literatur von Belarus, Ukraine und Polen. Das war damals auch ein bisschen ein Wagnis. Ich glaube, dass man in Europa sich schwertut mit Belarus, in verschiedenen Ländern hat man einfach keine Beziehung dorthin – Spanien, Frankreich. Was anderes - in Deutschland spürt man vielleicht auch, dass das sowohl im Ersten als auch im Zweiten Weltkrieg Frontgebiet war, da waren die Deutschen dort, und die haben keine guten Erinnerungen hinterlassen. Gerade im Zweiten Weltkrieg gab es unglaubliche Massaker in Weißrussland, die primär natürlich einmal den Juden galten, die wurden ausgerottet, aber auch den Weißrussen. Vielleicht hat das was damit zu tun, dass man sich ein bisschen schwertut mit diesem Land, das eben nie wirklich auf den Landkarten existierte. Wir brauchen ja immer etwas, was wir uns anschauen können, was wir angreifen können, und Weißrussland ist irgendwo nicht greifbar gewesen für uns. Das hängt irgendwo in der Luft, ist abwesend, wie Akudowitsch das ja treffend sagt.
Es ist eine neue Generation herangewachsen, ein weltoffenes Land, sie wollen reisen, also die kommen schon rum. Wenn sie dann zurückkommen – und viele wollen zurück, weil sie sagen, das ist mein Land, da bin ich geboren, da gehöre ich hin –, dann sehen sie, dass das so eine verkrustete Gesellschaft ist, mit der sie nichts mehr anfangen können. Daher, glaube ich, auch diese Massenproteste heute, die irgendwo diese Rückkehr nach Europa anstreben. Weil eines, das sagt auch Akudowitsch, Weißrussland hat immer zu Europa gehört, nicht zum eurasischen Raum, also nicht zu Russland im weitesten Sinn, sondern es war ein europäisches Land, europäische Region, wenn man so will. Daher ist auch dieses Bestreben heute, nach Europa zurückzukehren, heute sich Europa anzuschließen, von Europa anerkannt zu werden. Das ist, glaube ich, höchste Zeit. Das ist auch unsere Bringschuld, das sind wir den Weißrussen schuldig. Wir müssen uns mit ihnen beschäftigen, wir müssen mehr weißrussische Literatur übersetzen, uns dem Land öffnen und die Weißrussen einladen, wo es nur möglich ist.

Auszug aus dem Buch "Der Abwesenheitscode. Versuch, Weißrussland zu verstehen" aus dem Jahr 2013:
"Ich bin in einem Land der totalen Unfreiheit geboren und unter Menschen aufgewachsen, die seit Generationen unfrei sind. Jene kurze Zeit Ende der 1980er-, Anfang der 1990er-Jahre, die man unter Vorbehalt als Epoche der Freiheit bezeichnen könnte, war natürlich viel zu kurz, um zu verstehen, was echte Freiheit bedeutet. Sie war allenfalls lang genug, um sich bewusst zu werden, dass das bisherige Leben ein Leben in Unfreiheit gewesen war. Dies führt mich zu folgenden Überlegungen:
Der Gedanke, der Mensch sei frei geboren und strebe deshalb sein Leben lang nach Freiheit, wurde in einer Epoche formuliert, in der man eher als wir heute zu romantischen Vorstellungen neigte. Doch seltsamerweise hält sich diese Idee hartnäckig. Dabei sollte doch bekannt sein, dass alle Freiheiten, die Mitte des 20. Jahrhunderts in der Erklärung der Menschenrechte festgehalten wurden, im Laufe von Kriegen und Revolutionen errungen, der Menschheit also mit Gewalt aufgezwungen wurden.

Für Sicherheit nimmt der Mensch Unfreiheit in Kauf

Wenn Freiheit das höchste Gut aller Menschen ist, warum wurde sie dann nicht im Konsens etabliert, sondern mit Gewalt? Wahrscheinlich weil die Freiheit nie ein absoluter Wert war, auf jeden Fall kein größerer Wert als soziale Sicherheit und materielle Versorgtheit. Die Beispiele sind Legion. Zu Zeiten des Römischen Reichs dienten sich die freien Barbarenvölker den Römern als Sklaven an – so viele waren es, dass die Römer gar nicht alle nehmen konnten –, weil die Unfreiheit mehr Wohlstand versprach als das Leben in unbehauster Freiheit. Die schwarzen Sklaven unterstützten aufopferungsvoll ihre Sklavenhalter im Krieg gegen die Nordstaaten, die sie aus der Sklaverei befreien wollten. Die größte Unzufriedenheit mit der Bauernbefreiung herrschte in Russland nicht bei den Gutsbesitzern, sondern unter den Bauern. Doch es geht nicht um einzelne Beispiele, bei denen man das Streben nach Sicherheit immer historisch oder sozialpsychologisch erklären kann. Es geht darum, dass die gesamte Geschichte der Menschheit davon zeugt, dass der Mensch sich nach Sicherheit sehnt und dafür Unfreiheit in Kauf nimmt. Wir halten die Demokratie nicht nur deshalb für die beste politische Ordnung, weil sie Freiheit ermöglicht, sondern auch, weil wir glauben, dass sie Wohlstand und Sicherheit bringt.
Dem Menschen das Recht auf Sicherheit zu rauben, ist weitaus grausamer, als ihm das Recht auf Freiheit zu nehmen, denn jener, den der Genius der Freiheit gerufen hat, der wird die Freiheit im Kampf erringen, sei es im Tod oder im Sieg. Die Sicherheit aber kann man nur als natürliches Recht erhalten.
Freiheit ist eine zu schwere Last, als dass man sie jenem auf die Schultern zwingen darf, der sie nicht freiwillig tragen möchte.
Daher sind die Verfassungen aller demokratischen Staaten und auch die Erklärung der Menschenrechte ein Kompromiss zwischen dem Recht des Menschen auf Freiheit und seinem Recht auf Sicherheit. Auch wenn die Verfassungen und die Menschenrechtserklärung dies verbergen, so konstituieren sie gleichwohl beides: das Recht auf Freiheit wie das Recht auf Sicherheit. Von Letzterem machen die Menschen immer wieder Gebrauch, wenn auch mit sehr unterschiedlichen Folgen für sich selbst und bisweilen für die ganze Menschheit. Dies war beim letzten Referendum in der Sowjetunion im Jahr 1991 der Fall, und im Frühjahr 1991, als die Arbeiter der Minsker Fabriken in großen Kolonnen durch die Stadt zum Platz der Unabhängigkeit zogen.

Massenprotest gegen die Perestroika

Fernsehsender der ganzen Welt präsentierten ihren Zuschauern in den Nachrichtensendungen einige Tage lang dieses beeindruckende Spektakel. Sie präsentierten es als Zeichen, dass das weißrussische Volk aus dem totalitären Traum erwacht, dass das Volk mithilfe der jungen weißrussischen Demokratie seine Rechte und Freiheiten erringen will und kann. Genau so deuteten die Journalisten und die Politologen, die weißrussischen wie die ausländischen, das Geschehen. Der damalige Führer der weißrussischen Opposition Sjanon Pasnjak gab in den USA unzählige Interviews, in denen er erklärte, er sei stolz auf das weißrussische Volk, das mit aller Macht und doch so zivilisiert der ganzen Welt seinen Hunger nach Freiheit, Unabhängigkeit und Demokratie demonstriere. Nur in einigen unabhängigen weißrussischen Medien erklangen im allgemeinen Chor der Begeisterung auch hier und da Töne, die von einer gewissen Beunruhigung zeugten, schließlich war völlig unklar, warum der weißrussische Arbeiter eines schönen Morgens statt Bier plötzlich Freiheit fordern sollte.
Doch bis heute hat offensichtlich niemand verstanden, dass in diesen Tagen nicht das freie, unabhängige und demokratische Weißrussland auf den Platz der Unabhängigkeit strömte. In den endlosen schweigenden Kolonnen marschierte die weißrussische Vendée.
Dies ist die Wahrheit: Die weißrussische Vendée, die an sozialer Sicherheit orientierte 'Provinz' unseres Landes, marschierte im Gleichschritt ins Zentrum von Minsk. Jene Menschen, die in den 1960er- und 1970er-Jahren aus den Dörfern und Kleinstädten nach Minsk gekommen waren, forderten vom Obersten Sowjet, dass er ihnen die soziale Sicherheit zurückgeben möge. Über der hunderttausendköpfigen Menge wehte zwar hier und da eine weiß-rot-weiße Fahne, und in manchen Reden wurden nicht nur höhere Löhne und niedrigere Preise, sondern es wurde auch der Rücktritt der Regierung (die bereits mit ansatzweise demokratischem Verfahren ins Amt gekommen war) gefordert. Gewiss, es war viel von Demokratie und Freiheit die Rede, und doch handelte es sich in Wahrheit um einen Massenprotest gegen die Perestroika, gegen Reformen, gegen das herannahende Ende der Sowjetunion, gegen die Abwicklung des Sozialismus, gegen die Demokratie. Die weißrussische Vendée konnte oder wollte ihren Protest damals noch nicht in entsprechende Worte fassen, doch es dauerte nur wenige Jahre, bis sie ihre Sprache gefunden hatte und bei den Präsidentenwahlen anstelle von Schuschkewitsch Lukaschenka wählte und bei Referenden gegen die weißrussische Sprache, gegen nationale Symbole, gegen die Unabhängigkeit und sogar gegen das Recht stimmte, die Bürgermeister und Lokalparlamente selbst zu wählen. […]

Freiheit nicht für alle Mensch gleich bedeutsam

Ich bin davon überzeugt, dass unsere 'Provinz' sich damals nicht irrte und sich auch heute nicht irrt. Es gibt keine abstrakte Freiheit, keine Freiheit für alle. Jede Freiheit ist eine Freiheit für jemanden. Freiheit ist ein so konkretes Ding wie eine Zahnbürste, jeder hat seine eigene. Ein Maulwurf in seiner Höhle ist nicht weniger frei als eine Schwalbe am Himmel, lediglich der Horizont und die Formen ihrer Freiheit sind verschieden. Wenn man den Maulwurf am Fell packt und ihn gen Himmel schleudert, so wird er dies zu Recht als Gewalt empfinden und nicht als Befreiung, die ihm die Möglichkeit gibt, ein wenig zu fliegen.
Für mich als Schriftsteller sind die Freiheit des Wortes und die Freiheit der Presse keine abstrakten Begriffe, sondern konkrete materiale Bedingungen meiner Arbeit, wie ein Stift und ein Blatt Papier. Ich sehe einen Sinn darin, für sie zu kämpfen, denn ohne die Möglichkeit, meine Gedanken frei zu äußern, kann ich mich in meiner Tätigkeit nicht entfalten. […]
Eine Gruppe von Demonstranten in Minsk.
Belarus: Proteste ohne Pressefreiheit
Alexander Lukaschenko bleibt Präsident von Belarus – doch dieses Mal lehnen sich Tausende gegen ihn auf. Dabei gibt es im Land selbst kaum noch Medien, die frei berichten könnten. Denn auch für internationale Journalisten hat sich die Lage weiter verschärft.
Doch daraus folgt nicht, dass dies auch für alle anderen gilt. Welchen Wert hat die Freiheit der Presse und die Freiheit des Wortes etwa für meine Eltern, die in ihrem ganzen Erwachsenenleben kein einziges Buch gelesen und keine einzige Zeitung in die Hand genommen haben, es sei denn, dort war ein Text ihres Sohnes mit seinem Bild abgedruckt. Die sich im Fernsehen alle erdenklichen Sendungen anschauten, nur keine Nachrichten und keine politischen Debatten. Was kümmert es sie also, ob es irgendeine Freiheit des Wortes gibt, ob manche Bücher oder Zeitungen verboten sind. Wenn es verboten wäre, im Frühjahr Kartoffeln zu stecken oder zu Weihnachten ein Schwein zu schlachten – das wäre etwas anderes. Von Zeitungen und einem Parlament wird man nicht satt, von Kartoffeln und einem Schwein aber schon. Wer Kartoffeln und Schweine hat, der kann Kinder großziehen und sich sogar noch an Enkeln erfreuen.
Daher rührt ihr Misstrauen gegenüber allen möglichen Freiheiten, die sich kluge Leute in den Städten ausdenken. Welchen Nutzen sollen diese Freiheiten für einen Menschen haben, der sein Brot im Schweiße seines Angesichts erarbeitet? Die klugen Leute werden aus ihren Freiheiten irgendeinen Vorteil ziehen, für den einfachen Menschen gibt es aber, ganz egal, wer an der Macht ist, nur eine Freiheit: sein Leben lang zwischen Feld und Stall hin und her zu stapfen (in der Stadtvariante zwischen Fabrik und Bushaltestelle).

Streben nach Freiheit heißt Wille zur Macht

Es ist natürlich etwas anderes, ob man sein Leben lang zwischen Feld und Stall hin und her stapft oder auf einem Blatt Papier. Das sind zwei Lebensformen, die auf grundverschiedenen Werten beruhen. Im ersten Fall handelt es sich um ontologische Werte des Seins, wie ich es nennen möchte, d.h., es geht vor allem um die Sicherung des eigenen Daseins und der Existenz der Familie, im weiteren Sinne um das materielle Fortdauern der Menschheit. Im zweiten Fall handelt es sich um existentielle Werte, hier geht es im Kern um Selbstverwirklichung.
Das Sein kennt die Freiheit nicht. Freiheit ist eine existentielle Kategorie, daher wählt die Provinz, die sich an ontologischen Werten orientiert und den Menschen ihr Dasein garantiert, die Unfreiheit. Die Freiheit überlässt sie dem Zentrum, der Metropole als jenem Ort, an dem existenzielle, engagierte Menschen aufeinandertreffen und sich zusammentun. Den Anstrengungen dieser Menschen, die sich auf die Suche nach den Grenzen des eigenen Ich begeben wollten, verdankt die Freiheit die große Bedeutung, die sie heute erlangt hat, obwohl ihr schönes Antlitz ganz und gar nicht ihrem Wesen entspricht. Wenn jene, die von den Fragen der eigenen Existenz besessen sind, die Freiheit idealisieren, indem sie sie zu einem absoluten Wert erklären, dann sind sie nicht ehrlich. Der Freiheit eignet nichts besonders Schönes und Humanes – und falls doch, dann allenfalls in gleichem Maße wie der Unfreiheit. Bei vielen Freiheiten handelt es sich um nichts anderes als um die 'Rechte' der Stärkeren, der Aktiveren, der Klügeren, der Unersättlicheren, die ihre Macht über die weniger Starken, weniger Aktiven, weniger Klugen, weniger Unersättlichen ausüben wollen – wenn auch nicht mit eigenmächtiger Gewalt, sondern unter dem Schutz einer Verfassung und der Erklärung der Menschenrechte.
Man muss sich darüber im Klaren sein, dass die Freiheit nur eine Erscheinungsform des Willens zur Macht ist. Wenn an irgendeinem Ort eine Sehnsucht nach Freiheit auftaucht, so bedeutet das, dass dort jemand an die Macht strebt. Die blutigen Exzesse der mit der berühmten Forderung nach 'Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit' angetretenen Französischen Revolution zeugen nicht davon, dass eine Epoche der Freiheit anbrach, sondern dass die Macht von der Aristokratie an das nationale Bürgertum überging.
Sobald Gutenberg die Druckerpresse erfunden hatte und dieser Apparat Hunderten, ja Tausenden klugen, aktiven, unersättlichen Menschen die Möglichkeit gab, sich an der Produktion von Worten zu beteiligen, forderten diese für sich Freiheiten, um ein von der Verfassung garantiertes Recht auf die Verwirklichung ihres Willens zur Macht über den Leser zu erhalten. Zu guter Letzt haben sie dieses Recht erhalten. Und wenn nach dem Zerfall der UdSSR über Weißrussland von allen Seiten die Forderung nach verschiedenen Freiheiten hereinbrach, dann zeugt das in erster Linie davon, dass auch bei uns eine kritische Masse an Leuten entstanden war, die ihren Willen zur Macht mithilfe der Freiheit des Wortes, der Pressefreiheit, der Versammlungsfreiheit und vieler anderer Freiheiten durchsetzen wollten. Schade nur, dass sie zu wenige waren, um die Provinz aus der Metropole hinauszudrängen und auf den ihr angemessenen Platz zu schieben – in die Vendée. Denn Weißrussland wird nur dann zum Subjekt der Geschichte werden, wenn es zuvor zum Objekt der Umsetzung der existentiellen Ambitionen jener wird, die sich nach Freiheit für Weißrussland sehnen, auch weil dies ihnen die Verwirklichung ihres Willens zur Macht ermöglicht. Doch da es um die Verwirklichung eigener Ambitionen geht, sollte man der Provinz auch nicht vorwerfen, dass sie sich in ihrer Unfreiheit verkriecht und lediglich darum besorgt ist, ob die Kartoffeln zur rechten Zeit gelesen werden können oder ob noch Zeit ist, Holz für den Winter zu sammeln.
Die Provinz und die Metropole orientieren sich an unterschiedlichen Maßstäben. Die Provinz trägt die Verantwortung für das Sein in seiner ontologischen Unversehrtheit. Die Metropole ist nur für die eigene Existenz verantwortlich, die sich durch verschiedene Freiheiten ausdrücken möchte, da diese die effektivsten und zivilisiertesten Erscheinungsformen des Willens zur Macht sind. Eine solche Erscheinungsform des Willens zur Macht ist etwa die Idee der nationalen Wiedergeburt, die in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre in Weißrussland eine so große Rolle spielte.

Demokratische Reformen nur vordergründig

Weißrussland erklärte seine Unabhängigkeit am 25. August 1991. Jeder Tag, ja, jede Stunde dieser Zeit sind es wert, in Erinnerung gerufen zu werden. Hier muss ich mich mit der Feststellung begnügen, dass in den zwei, drei Jahren, die der Gründung der Republik Weißrussland vorausgingen, fast jeder Tag ein Fest der Unabhängigkeit war.
Alles hat bekanntlich mit Gorbatschows Perestroika angefangen. Genauer: mit der Pressefreiheit. Nachdem Gorbatschow die Zensur abgeschafft hatte, begann die gesamte Gesellschaft, unermüdlich 'fortschrittliche' Zeitungen und Zeitschriften zu lesen.
Diese Jahre der freiwilligen Beseitigung des Analphabetismus führten zu einem so weitreichenden Umdenken, dass die Menschen begannen, ihre Küchengespräche auf der Straße fortzusetzen. Die Epoche der Versammlungsdemokratie brach an. Bereits 1989 kam es des Öfteren vor, dass an einem einzigen Tag in Minsk zur gleichen Zeit mehrere Kundgebungen stattfanden. Von dieser Epidemie wurden rasch auch die anderen großen Städte des Landes angesteckt und bald sogar die Kleinstädte. Nur auf dem Dorf gab es keine politischen Versammlungen. Das heißt nicht, dass das Dorf nicht diskutiert hätte, dort traf man sich vor dem Haus, auf der Bank, bei einem Schnaps.
Nach dem ersten Tschernobyl-Marsch 1989 trafen sich die Menschen vor den Versammlungen zu Protestmärschen, bei denen Tausende mit weiß-rot-weißen Fahnen durch die Straßen zogen. Was für eine Zeit!
Das Land kochte. Genauer: Die ganze eurasische Welt kochte und wir mit ihr. Die Wut auf die Kommunisten war so groß, eine solche Spannung hatte sich aufgebaut, dass bei ihrer Entladung in einem einzigen historischen Augenblick eine für absolut stabil gehaltene politische Ordnung zusammenbrach.
Doch bald wurde klar, dass Antikommunismus allein noch keine Alternative zum Kommunismus darstellt, dass eine solche Alternative erst noch gefunden werden muss. Die siegreiche Opposition fand sie bald in der Demokratie. Daran ging kein Weg vorbei, hatten doch die demokratischen Länder schon lange gegen den Kommunismus gekämpft und einige Energie auf den Sturz des 'Reichs des Bösen' verwendet.
Daher wurden alle politischen Ereignisse mit dem Label 'demokratisch' ausgezeichnet. Doch das war nur Rhetorik, denn im Kern ging es in dieser Zeit um etwas ganz anderes. Vordergründig fanden demokratische Reformen statt, doch als sich der Nebel verzog, wurde klar, dass der Nationalismus strategische Positionen besetzt hatte. Zwar beeilten sich alle Staaten von Ungarn bis zur Mongolei zu erklären, sie hätten die Demokratie gewählt, in Wirklichkeit war ihre Wahl aber auf den Nationalismus gefallen. Dies war das Prinzip, nach dem sie ihre staatlichen Institutionen errichteten. Demokratisch waren diese Institutionen allenfalls der Form nach. Mancherorts war die Bezeichnung 'demokratisch' nichts als Fassade."