Aus den Feuilletons

Ein Konzert als Befreiung

04:14 Minuten
Kirill Petrenko beim Dirigieren
Das erste Konzert seit mehr als einem Jahr: Kirill Petrenko dirigierte die Berliner Philharmoniker. © picture-alliance / dpa / Hermann Wöstmann
Von Ulrike Timm · 22.03.2021
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Zum ersten Mal seit dem Lockdown haben die Berliner Philharmoniker und ihr Chefdirigent Kirill Petrenko ein Konzert gegeben. Tausend getestete Menschen saßen im Publikum und fühlten sich "wie Kühe auf der Weide nach einem langen Winter", so die "taz".
"Die Wiederverzauberung der Welt" kann man derzeit wirklich gebrauchen, also sollten wir damit beginnen. Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG führt ein ausführliches Gespräch mit der Lyrikerin Marion Poschmann über Bäume; für einen Text namens "Laubwerk" hat sie gerade einen Preis erhalten. Und sie weiß viel über alle möglichen Formen von Blattwerk.
Zum Beispiel, dass in Hamburg seit 1945 ein Forsythien-Kalender geführt wird, um das erste Erblühen zu dokumentieren. Die Bäume im Berliner Regierungsviertel wollte man ungern "Sumpf-Eichen" nennen, auch wenn es sich um Sumpf-Eichen handelte. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt. Jedenfalls wurde so die "Spree-Eiche" erfunden, und die wächst ausschließlich im Berliner Regierungsviertel.
Weiter meint Lyrikerin und Baumexpertin Poschmann: "Die Linde steht in einem literarischen Kontext, sie erzeugt einen symbolischen Hallraum".

"Es geht also doch"

Wir bleiben naturnah und wechseln kurz in die TAZ. Felix Zimmermann hat nämlich einen der Konzertbesucher belauscht, die beim Konzert der Berliner Philharmoniker dabei sein durften. Vor 1000 frischgetesteten Zuschauern spielte das Orchester erstmals seit vielen Monaten.
Auf Publikum und Feuilletons wirkte dieser Auftritt wie eine Befreiung. "Wie Kühe auf der Weide nach einem langen Winter", platzte einer der Besucher heraus. "Er meint das voller Anerkennung und Bewunderung", schiebt die TAZ schnell hinterher. Und warum soll man Begeisterung und Erleichterung nicht auch mal so Ausdruck geben.
"Es geht also doch", schreibt die WELT über dieses Konzert, das erst einmal eine Ausnahme war. Jede kulturelle Aktivität stehe schließlich seit einem Jahr "unter Verdacht. Und das, obwohl viele mutige Institutionen, allen voran die Salzburger Festspiele im Sommer, aufgezeigt haben, wie man verantwortungsvoll und angstfrei in gut gelüfteten, auf Abstand besetzten Räumen Oper, Schauspiel und Konzert stattfinden lassen kann."

Gratulation an Wikipedia

In der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG erzählt uns der Schriftsteller Steffen Kopetzky, dass man im Mittelalter für volles Bürgerrecht Ledereimerbesitzer sein musste. Wegen der Feuerwehr. "Nur Ledereimerbesitzer konnten bei Feuer Flusswasser schöpfen und eine Kette bilden, damit vielleicht ein Haus, aber nicht die ganze Stadt abbrannte."
Und dann schlägt Kopetzky elegant den Bogen zu seinem eigentlichen Thema, er gratuliert nämlich Wikipedia zum 20. Geburtstag. Wikipedia, jenes unendliche und nützliche Work in Progress, das die "Ledereimer des Weltwissens schleppenden ehrenamtlichen Autoren" aufgebaut haben. Organisiert in einem Verein, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, möglichst das gesamte Weltwissen jedem zugänglich zu machen.
Den Moserern hält er entgegen: "Es sind gerade die kleinen Fehler, die das Portal lebendig machen". Die ausführliche Gratulation finden Sie in der SZ unter der Überschrift "Unendlich verbesserlich".

Zagajewskis rabiater Zartsinn

Alle Feuilletons würdigen den polnischen Dichter Adam Zagajewski, der im Alter von 75 Jahren verstorben ist. "Heiterkeit und Tiefe" attestiert ihm Paul Ingendaay in der FAZ und meint, Zagajewski habe "ebenso höflich wie eigensinnig" geschrieben. "Mit seinen Gedanken wollte er nicht auftrumpfen, nur mitteilen, dass er sie habe. Wenn er spürte, dass seine Zeilen auf seine Zuhörer stark wirkten, blieb er diskret.
So entdeckten nur Bücherleser, nicht Nachrichtengucker seine Originalität, seinen rabiaten Zartsinn." Und dann zitiert die FAZ Zagajewski in einer Selbstbeschreibung aus seinem neuesten Buch:
"Ich bemühe mich, als freier Mensch zu sprechen, als halbwegs freier Mensch (übertreiben wir nicht)." So viel Klugheit und Bescheidenheit lässt sich entdecken – einige Gedichtbände vom großen Zagajewski gibt es auch auf Deutsch.
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