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Belgrad
"Viele Flüchtlinge leiden an Erfrierungen"

Tausende Flüchtlinge harren derzeit bei eisigen Temperaturen auf dem Balkan aus - in der Hoffnung, irgendwie in die EU zu gelangen. Ninja Taprogge von der Hilfsorganisation CARE International hat mehrere offizielle und inoffizielle Camps in Belgrad besucht. "Die Zustände sind wirklich verheerend", sagte Taprogge im DLF.

Ninja Taprogge im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 13.01.2017
    Ein Mann steht vor einem eingeschneiten Iglu-Zelt. Die Kamera blickt durch einen Zaun.
    Flüchtlinge harren in Sommerzelten im Schnee aus (AFP)
    Anmerkung der Redaktion: Im folgenden, live geführten Interview ist an einigen Stellen davon die Rede, dass die in Serbien ausharrenden Flüchtlinge nach Europa streben. Gemeint ist in diesem Kontext jeweils die Europäische Union. In Serbien befinden sich diese Flüchtlinge bereits in Europa.
    Nach Angaben von Ninja Taprogge hat es in den vergangenen Tagen in Serbien geschneit, es herrscht eisiger Wind und Temperaturen von minus zehn Grad. "Viele Flüchtlinge hier leiden an Erfrierungen und Husten", sagte die CARE-Mitarbeiterin. Besonders dramatisch sei die Lage in den inoffiziellen Camps von Belgrad, dort fehle es an Heizmöglichkeiten und warmer Kleidung. Dennoch harrten viele Menschen dort aus, weil sie sich nicht in den offiziellen Unterkünften registrieren lassen wollen. Der Grund: "Sie fürchten eine Rückführung nach Mazedonien."
    Nach Einschätzung von Ninja Taprogge seien viele Flüchtlinge, anders als vielleicht angenommen, dennoch "guter Dinge". Es sei der dringende Wunsch, in die EU zu kommen, der die Menschen antreibe und sie am Leben halte. Taprogge krisierte, dass der Registrierungsprozess für Flüchtlinge in Serbien nicht ausreichend tranparent sei: Vielfach wüssten die Menschen nicht, wo und wie sie in dem Land Hilfe in Anspruch nehmen könnten.
    Zudem forderte sie eine kurzfristige Aufstockung der finanziellen Hilfen für Flüchtlinge in Serbien. Dies sei dringend erforderlich, um den Menschen dort warme Kleidung und Heizungen zur Verfügung zu stellen und auch die hygienischen Bedingungen zu verbessern, betonte sie im Deutschlandfunk.

    Das Interview in voller Länge:
    Dirk-Oliver Heckmann: Dass es kalt werden würde auch diesen Winter, das ist keine Überraschung. Doch der Kälteeinbruch war dann doch heftiger als erwartet. Kein Problem für die meisten Deutschen, dann werden die Heizungen ein bisschen höhergestellt. Für Tausende Flüchtlinge, die auf den griechischen Inseln oder auf dem Balkan gestrandet sind, ist das schon schwierig. Tausende Menschen leben unter extremen Bedingungen in inoffiziellen oder aber auch in offiziellen Flüchtlingslagern.
    Ninja Taprogge von CARE Deutschland ist uns jetzt telefonisch zugeschaltet aus Belgrad. Sie macht sich gerade ein Bild von der Lage in Serbien. Schönen guten Morgen, Frau Taprogge.
    Ninja Taprogge: Guten Morgen, Herr Heckmann.
    Heckmann: Sie machen sich ein Bild von der Lage in Belgrad und um Belgrad herum, haben sich ein inoffizielles Lager angeschaut, wo die Menschen der Kälte so richtig ausgesetzt sind, und haben gestern das größte serbische Flüchtlingslager rund 100 Kilometer westlich von Belgrad besucht, haben Sie mir erzählt. Wie sind da die Zustände?
    Taprogge: In Belgrad sind die Zustände wirklich verheerend. Es hat hier in den letzten Tagen sehr stark geschneit. Es herrscht eisiger Wind. Es sind minus zehn Grad und die Menschen leben hier in Lagerhallen, in denen sie Feuer anzünden, um sich ein bisschen warm zu halten. Sie sind dem Rauch ausgesetzt. Viele leiden bereits unter Erfrierungen oder unter starkem Husten.
    Heckmann: Wie reagieren denn die Menschen, die in dieser Situation leben? Was haben die Ihnen gesagt? Sie haben ja sicherlich mit dem einen oder anderen gesprochen.
    Taprogge: Sie sind doch guter Dinge, anders als angenommen vielleicht. Ich habe mit einem jungen Iraner gesprochen, der vor etwa drei Monaten hier nach Serbien gekommen ist, und der sagt, ich habe so viel Willenskraft, ich will es auf jeden Fall nach Europa [siehe Anm.] schaffen, und das ist das, was mich hier am Leben hält.
    Heckmann: Woran liegt das aus Ihrer Sicht, dass die Zustände dort in diesem inoffiziellen Lager, das Sie besucht haben, so schlecht sind? Tut die serbische Regierung da nichts oder nicht genug, oder spekuliert man vielleicht darauf, dass diese Bilder um die Welt gehen und dass andere Flüchtlinge möglicherweise abgeschreckt werden?
    Taprogge: Im ganzen Land verteilt hat die Regierung mehrere Lager aufgebaut. In Belgrad ist die Situation so, dass in diesen Lagerhallen vor allem Flüchtlinge leben, die sich hier in Serbien nicht registrieren wollen, weil sie unter anderem Angst haben, dass sie gegebenenfalls nach Mazedonien zurückgeführt werden können.
    Die Flüchtlinge sind dort diesen schlechten Bedingungen ausgesetzt und harren dort aus, weil sie immer noch hoffen, dass sie es irgendwie nach Europa [siehe Anm.] schaffen können.
    "Registrierungsprozess ist nicht ausreichend transparent"
    Heckmann: Ist diese Furcht bestätigt und belegt, dass man registriert wird und möglicherweise dann abgeschoben wird? Ist diese Furcht begründet?
    Taprogge: Ich denke, dass diese Furcht besonders deshalb aufkommt, weil der Registrierungsprozess nicht ausreichend transparent ist. Es muss in Zukunft eine bessere Bereitstellung von Informationen über die Registrierung und über die Hilfe, die Flüchtlinge hier in Serbien in Anspruch nehmen können, bereitgestellt werden.
    Heckmann: Aber was führt Sie zu der Annahme, dass dann die Flüchtlinge sich anders verhalten würden? Wenn die Registrierung vonstattengeht und dann doch eine Abschiebung erfolgt, dann werden diese Personen wahrscheinlich ihr Verhalten nicht ändern. Oder meinen Sie doch?
    Taprogge: Flüchtlinge, die in den Camps untergebracht sind, haben sich hier registriert, aber haben hier kein Asyl beantragt und hoffen auch in diesen Camps, noch weiter nach Europa [siehe Anm.] reisen zu können.
    "Finanzielle Mittel müssen kurzfristig aufgestockt werden"
    Heckmann: Was müsste jetzt kurzfristig aus Ihrer Sicht passieren, um diesen Menschen zu helfen?
    Taprogge: Kurzfristig müssten auf jeden Fall finanzielle Mittel aufgestockt werden, um den Flüchtlingen weiterhin warme Kleidung verteilen zu können, um Heizsysteme zu verbessern. Hilfsorganisationen wie CARE stellen sanitäre Anlagen bereit, von denen es gerade auch in Belgrad neben diesen Lagerhäusern viel zu wenige gibt. Es können 20 Flüchtlinge pro Tag dort duschen und es sind wesentlich mehr als 2.000 Flüchtlinge in diesen Lagerhallen untergebracht.
    Heckmann: Sie haben gestern sich auch dieses offizielle Flüchtlingslager angeschaut, 100 Kilometer westlich von Belgrad. Wie ist da die Situation?
    Taprogge: Die Situation ist deutlich besser als in Belgrad. Dort sind Flüchtlinge in beheizten Räumen untergebracht. Auch wenn der Platz dort relativ eng ist, haben die Flüchtlinge dort eine Chance, gut untergebracht zu sein. Sie bekommen einmal am Tag warme Mahlzeiten. Für Kinder werden von Hilfsorganisationen wie CARE zum Beispiel Freizeitaktivitäten angeboten, wo sie malen können oder basteln oder Brettspiele spielen.
    "Die Bedingungen hier sind wettertechnisch sehr schlecht"
    Heckmann: Was raten Sie den Flüchtlingen, die Sie jetzt in dem inoffiziellen Lager in Belgrad getroffen haben und angetroffen haben? Raten Sie diesen Personen, sich in dieses offizielle Lager zu verlegen, weil dort die Situation einfach besser ist?
    Taprogge: Die Bedingungen hier sind wettertechnisch sehr schlecht. Viele der Flüchtlinge leiden bereits an Erfrierungen und müssen gucken, dass sie in Unterkünfte kommen, wo sie beheizt sind, damit sie weiter leben können.
    Heckmann: Ninja Taprogge war das von CARE Deutschland über die Situation von Flüchtlingen in Serbien. Frau Taprogge, danke Ihnen für dieses Gespräch.
    Taprogge: Danke auch, Herr Heckmann.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.