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Beobachter der Revolution

Normalerweise melden sich Menschen wie Célestin Guittard in der Geschichte nicht zu Wort. Hier ist das einmal anders. Einem gewöhnlichen Hausvater gelingt es, unbeschadet durch die blutige Französische Revolution hindurch zu kommen.

Von Harro Zimmermann | 27.04.2010
    Vorgestern gab es am Luxembourg schon einmal Alarm. Kurz, alle Tage gibt es Alarm, man merkt, wie sich die Köpfe erhitzen, und manchmal bedarf es lediglich eines kleinen Funkens, um alles in Flammen aufgehen zu lassen, was ein großes Unglück wäre. Ich fürchte mich immer davor, denn wenn das Volk einmal in Wut geraten ist, handelt es ohne jede Vernunft.

    So oder so ähnlich lauten etliche Notate im Tagebuch dieses Célestin Guittard, er ist ein neugieriger und umtriebiger Beobachter der Verhältnisse, aber er hält auf Distanz zu den umstürzenden, manchmal sogar gefährlichen Ereignissen. Das aufgebrachte Volk vor allem ist es, das ihn zur Vorsicht mahnt, keinesfalls will er sich an die revolutionäre Meute im Paris der Jahre 1791 bis 1796 heranwagen – überlegen und vernünftig bleiben will dieser damals immerhin schon fast 70-jährige Steuerbürger Frankreichs. Denn er ist kein armer Mann, sondern verzehrt eine recht stattliche Leibrente, muss sich aber täglich auch Gedanken machen um sein Geld, einmal scheint er ein größeres Kapital in Übersee sogar verloren zu haben.

    Die Revolution und ihr schlimmster Brandherd in Paris, das weiß er, ist eine Sache des Mannes auf der Straße, der Hungerleider, der Fischweiber, der Arbeiter und sozial bedrohten Kleinbürger. Revolution – das ist Furor des Magens, des Hungers und der drohenden Verelendung, da muss man mit dem Schlimmsten rechnen, jeden Tag. Aber Célestin Guittard ist kein Verächter dieser großen historischen Veränderung, die sich in Frankreich angebahnt hat und nun ganz Europa in Beschlag nimmt. Der 14. September 1791 zum Beispiel ist einer dieser bedeutenden Tage im Leben der Nation:

    Abends wurde ganz Paris illuminiert, und den ganzen Tag über wurde in ganz Paris ununterbrochen geschossen, bis zwei Uhr morgens, man hätte meinen können, die Stadt würde belagert. Alle Menschen sind voller Freude, denn das wird die Dinge beträchtlich verändern: Die eidverweigernden Priester lachen nicht mehr, die Aristokratie auch nicht. Der 14. September ist einer der schönsten Tage für Frankreich und für den König: Das ist das Grab für alle Aristokraten, kein Adel mehr, keine Parlamentsgerichtshöfe mehr, weder Mönche und Nonnen noch Generalsteuerpächter.
    Der Autor dieses Revolutionstagebuches weiß, wovon er redet, und er nimmt eine selbstbewusste gesellschaftliche Haltung ein. Dieser nicht ganz unbegüterte Kleinbürger ist natürlich gegen die eitle, anmaßende Aristokratie, er verachtet die sich mästenden Kirchenfürsten und Pfaffen, und er möchte die reichen Steuerpächter, die dem kleinen Geldanleger das Blut aussaugen, zur Hölle wünschen. Das immerhin scheint diese Revolution zu bewerkstelligen, um diesen Preis will er das über den zerstörerischen Interessen stehende Königtum der Franzosen vor den "Schurken" verteidigt wissen.

    Célestin Guittard ist bei all der politischen Erregtheit, bei dem vielen Schießen und Morden, trotz der unzähligen Hinrichtungen, die ab 1793 in Paris zum täglichen Ereignis werden, ein Mann der kulturellen und der leiblichen Genüsse. Um vieles bekümmert er sich, um die täglichen Wetternachrichten, um aktuelle Wirtschaftsdaten und –ereignisse, um Renten- und Renditefragen, um Ämter- und Verwaltungsangelegenheiten, auch um seine Familie in der Hauptstadt und in der Provinz und um das Neueste aus der Welt, aber er vergisst nicht die schönen Dinge des Lebens. In Cafés, in Theatern und Konzerten, bei den großen historischen Spektakeln, den Festen des "Höheren Wesens", der "Göttin Vernunft", und bei den grandiosen Aufmärschen der Nation erleben wir ihn die Ästhetik der Politik genießen. Geschichte ist ein bewegendes Alltagsereignis geworden, Politik ist nicht mehr identisch mit dem Arkanum der höfisch repräsentierten Adelsmacht. Die alten monarchischen Mächte und die neuen bürgerlichen Kräfte stoßen jetzt direkt aufeinander:

    Gestern ist der Justizminister feierlich in die Nationalversammlung eingezogen, er trat vor den Präsidenten der Nationalversammlung und überreichte ihm einen Brief, den der König an die Nationalversammlung geschrieben hat. Der Präsident nahm ihn zuerst zur Kenntnis, danach las er ihn der Nationalversammlung vor und sagte ihr, dass der gesamte Brief und die Unterschrift von der Hand des Königs stammen. Der König verkündet der Nationalversammlung, dass er die Verfassung geprüft habe, die sie ihm am Samstag zugestellt hat: und dass er sich morgen Mittag feierlich in den Saal der Nationalversammlung begeben wird, wo diese Verfassung gemacht wurde, und dass er trotz seiner Erklärung und seinem Einverständnis in seinem Brief das eine wie das andere in Gegenwart der Nationalversammlung und vor dem gesamten Volk wiederholen wird. Der König bittet um einen Straferlass für alle und um allgemeine Vergebung. Sein Brief ist überaus ergreifend, das Volk wie auch seine Deputierten weinten vor Freude, und alle klatschten Beifall, außer den Aristokraten, die kein Wort sagten.
    Wie man weiß, wird es so friedlich nicht weitergehen mit dieser Revolution, zwei Jahre später werden Ludwig XVI. und seine Gemahlin in Paris öffentlich geköpft, die radikalen Jakobiner sind dann an der Macht, Zehntausende von Menschen fallen ihrem Zwangsbeglückungsregime zum Opfer, die Napoleonischen Kriege werden ganz Europa in einen Veränderungstaumel reißen. Aber das liegt schon jenseits der Zeitgrenzen dieses Tagebuches. Célestin Guittard hat all die nachfolgenden Politikdesaster und blutigen Eruptionen nicht gewollt, er ist ein kleinbürgerlicher Republikaner, der die Ordnung schätzt, der dem monarchischen Staat als Garantiemacht eines vernünftigen Wirtschaftsverkehrs hohe Bedeutung zumisst - ein sympathischer, aber auch wohl egoistischer Bürger des damaligen republikanischen Frankreich.

    Normalerweise melden sich Menschen wie er in der Geschichte kaum oder gar nicht zu Wort. Hier ist das einmal anders. Einem gewöhnlichen Hausvater gelingt es, gleichsam in Pantoffeln und unbeschadet durch die blutige Revolution hindurch zu kommen. Zu berichten hat er von wahrhaft großen Ereignissen, wenn auch in kleiner Münze.

    "In Pantoffeln durch den Terror. Das Revolutionstagebuch des Pariser Bürgers Célestin Guittard."
    Ausgewählt und eingeleitet von Wolfgang Müller, 430 S., 32 Euro. Eichborn 2009