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Berg-Oper am Theater Bremen
Lulu reloaded

Für "Lulu" schrieb Alban Berg selbst keinen vollständigen dritten Akt, die Oper blieb ein Fragment. Nun hat Detlef Heusinger, Leiter des SWR Experimentalstudios, seine Version des fehlenden Teils am Theater Bremen präsentiert: mit Elementen des Jazz und des Zirkus'.

Von Dagmar Penzlin | 28.01.2019
    Szene aus "Lulus" am Theater Bremen
    In Heusingers Version des Dritten Aktes von „Lulu“ erinnern E-Gitarre, Theremin und Hammondorgel an den Klang eines Orchestrions. (Theater Bremen / Jörg Landsberg )
    "Ich wollte schon Berg eigentlich so schreiben, wie wenn er heute wieder auf die Welt käme und sagt: ‚Ich muss das Werk jetzt mal überholen und mach das mit den neusten Mitteln.’"
    Detlef Heusinger spricht mit einem Lächeln von "Lulu reloaded": Seine Neufassung des dritten Aktes von Bergs Oper hat der Komponist als Live-Elektronik-Kosmos konzipiert – aus dem Geist des Zirkus und der grotesken Überzeichnung, zugleich aus dem Geist des Jazz. Was bei Berg noch die Drehorgel ist, die die Bühnenmusik liefert, ersetzt Heusinger durch die Idee eines Orchestrions, eines mechanischen Musikautomaten.
    "Das war damals ganz neu. Das gab’s im Zirkus, wenn es keine Zirkuskapelle gegeben hat oder auf den Jahrmärkten. Und er war ja offen für die Jazz-Musik und für Zeitgenössisches. Er hat sich ja, um die Jazz-Kapelle im ersten Akt zu instrumentieren, eine Instrumentationslehre für Jazz-Musik gekauft und sich mit all diesen Instrumenten auseinandergesetzt."
    Aus dem Geist des Zirkus und des Jazz
    Berg interessierte sich also für Jazz und fürs Orchestrion, wie ein Brief aus der Entstehungszeit von "Lulu" belegt. Das Orchestrion erfindet Heusinger in seiner "Lulu"-Neufassung des dritten Aktes entsprechend klanglich mit Hammondorgel beziehungsweise Synthesizer neu – dazu gesellen sich E-Gitarre und Theremin.
    "Was es allerdings zur Zeit von Berg schon gab. Das ist ja 1920 erfunden worden. Ein Theremin ist ein Instrument, das wird körperlos gespielt. Also sprich: Es geht nur um das Eintreten in ein elektrisches Feld. Die Hand geht da hinein und gibt diesen wunderbaren Klang, den man auch von der Singenden Säge her kennt. Da jetzt diese neue Klangfarbe mit dem Orchestrion zusammen, was ich letztlich über die Synthesizer hergestellt habe.
    Also das Orchestrion ist bei mir eine Synthesizer-Adaption. Und es gibt auch eine E-Gitarre: Warum eine E-Gitarre? Es gibt in der Jazz-Musik im 1. Akt schon ein Banjo. Und es gibt das Wedekindsche Lautenlied, was natürlich ein Gitarrenlied ist. Insofern war es absolut naheliegend - auch die Verkörperung der Frau als Gitarre – eine E-Gitarre da einzubauen. Die fügt sich klanglich extrem gut ein. Spiele ja selbst noch E-Gitarre, was das mir das allergrößte Vergnügen, Alban Berg auf der E-Gitarre spielen. Kein Mensch erwartet, dass das so gut klappt, weil es Jazz-Akkorde darin gibt, die bestens fürs Instrument gedacht."
    Mit E-Gitarre und Theremin
    Als Leiter des SWR Experimentalstudios bringt Detlef Heusinger zur Bremer Uraufführung seines "Lulu"-Aktes das dreiköpfige Ensemble Experimental mit. Es spielt durchgehend auf der Bühne – eine der "radikalsten" Eingriffe in die Partitur, sagt der Komponist; in Bergs Particell, in seinen Skizzen und dem bereits instrumentierten ersten Fünftel des dritten Aktes erklingt diese Bergsche Bühnenmusik nur an wenigen klar definierten Stellen. Zugleich hat Detlef Heusinger das Orchester im Graben halbiert, wobei die Klänge der klassischen Instrumente oft ebenfalls elektronisch verarbeitet werden.
    "Teilweise holen wir die Klänge aus dem Graben in eine Art Orchesterklavier, was auf der Seitenbühne steht, wo wir kleine Lautsprecher drin haben und alles an Nachklang, alles an Pedalwirkung aus dem Orchester in ein Instrument hineinsetzen, ein Klavier. Ohne Pianist – das Klavier wird als Klangobjekt wiederverwendet."
    So intensiv sich Detlef Heusinger Gedanken gemacht hat über die neuen Klangfarben, die eine "Lulu reloaded" ausmachen, so zurückhaltend war sein Umgang mit den erhaltenen Materialien aus der Feder von Alban Berg. Gut 15 Prozent habe er gekürzt, hier und da den dritten Akt dramaturgisch gestrafft, dabei neue Übergänge auf Grundlage der vorliegende Zwölfton-Reihentabellen komponiert. Heusingers Ziel: eine Neufassung "aus einem Guss" – das ist ihm gelungen, wie die gestrige Uraufführung zeigte.
    Nur hier und da gelang die Balance zwischen unverstärkten Gesangsstimmen und elektrisch verstärkter Bühnenmusik nicht so gut, wodurch der Gesang teilweise drohte, überdeckt zu werden. Insgesamt überwog aber der Reiz des neuen Klanggewands: Elegant mischten sich Theremin-Einwürfe und Gesang, die E-Gitarren-Linien bürsteten den gewohnten "Lulu"-Sound in ungewohnte, doch stimmige Richtungen. Die Bremer Philharmoniker unter Leitung von Hartmut Keil trugen die ganze Aufführung souverän.
    Lulu im #MeToo-Zeitalter
    Hinzu kommt: Die sphärisch anmutenden Klänge unterstreichen den utopischen Ansatz der Inszenierung von Marco Štorman. Er hinterfragt gängige Bilder von "Lulu" als Femme fatale. Bühnenbildnerin Frauke Löffel hat Štorman ein düsteres, labyrinthisch anmutendes Spiegelkabinett auf die leere Bühne gebaut. Hier hinein verirren sich zahlreiche Männer, alle – auch der Gymnasiast – mit grauer Kurzhaarfrisur, auf der Suche nach ihrem weiblichen Ideal. Lulu durchschaut zunehmend die Mechanismen und entzieht sich auf komplett leerer Bühne im dritten Akt endgültig dem männlichen Zugriff. Die Begegnungen mit den Freiern spielt sie als distanzierte Erzählerin durch. Jack the Ripper ermordet Lulu in Bremen nicht, sondern liegt selbst am Ende zitternd am Bühnenrand. Wie ein Häuflein Elend.
    Eine überzeugende Inszenierung aus dem Geist von #MeToo, getragen von einem sehr starken Ensemble mit Marysol Schalit als Lulu im Zentrum.