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Berge, Bücher und braunes Bier

"Zeitverschwendung" hat Jean Paul, der seinen Schreibtisch über alles liebte, Reisen und Klavierspielen einmal genannt. Unterwegs war er dennoch fast immer. Zwischen diesen Widerspruchspolen entwickelt Dieter Richter eine originelle Reisebiografie des Dichters.

Von Nils Kahlefendt | 22.03.2013
    Die ersten Schritte in die Welt, die der kleine Johann Paul Friedrich Richter ganz allein unternimmt, führen ihn vom Heimatdorf Joditz zu den Großeltern nach Hof. Knapp 20 Kilometer hin und zurück, das Ganze per pedes – heute bekämen Erziehungsberechtigte für derlei das Jugendamt auf den Hals. In seiner "Selberlebensbeschreibung" zählt Jean Paul die Wanderung durchs Saaletal zu den "Sommeridyllen" seiner Kindheit. Die letzte Reise im September 1825, zwei Monate vor seinem Tod, ist weniger idyllisch – der fast blinde Autor konsultiert in Begleitung seiner Frau einen Nürnberger Augenarzt. Für den in Hof aufgewachsenen, lange Jahre in Bremen lehrenden Germanisten Dieter Richter sind die Daten Anfangs- und Endpunkt eines ungewöhnlichen Unternehmens: Er erzählt das Leben Jean Pauls im Spiegel seiner Reisen, in einer mitreißenden Komposition aus Briefauszügen, Zeugnissen von Zeitgenossen und elegant verbindenden Texten. Doch - galt der geniale Aphoristiker und Romanautor nicht als notorischer Stubenhocker?

    Dieter Richter: "Man hat sich ja angewöhnt, diesen Autor als einen "Idylliker" zu bezeichnen - das ganze 19., später auch das 20. Jahrhundert hat ihn immer so wahrgenommen, sein Leben auch so wahrgenommen. Er, der von Bayreuth dann immer in die Rollwenzelei wandert, aber im Grunde, wie er mal gesagt hat, das "häusliche Schaltier" ist. Und überhaupt nicht raus möchte. Ich war bass erstaunt, als ich im Grunde seine gesamten Briefe gelesen habe, dass er permanent unterwegs war. Sein Leben wird durchzittert von einer permanenten Unruhe. Und das ist - für mich persönlich, und ich denke, auch für den Leser - ein neues Bild, was aus dieser Reisebiografie entstehen kann."

    75 größere und kleinere Reisen zählt Richter, auf denen Jean Paul Tausende Kilometer durch Deutschland zurückgelegt hat. In seiner Jugend bewältigte er – notgedrungen, das Geld war knapp - große Strecken noch zu Fuß, später ist er in "Kutscheneinsamkeit" unterwegs, nur der Pudel darf mit. Sein Reiseradius bleibt begrenzt: Berlin und München sind die entferntesten Ziele, die er je erreichen wird. Sein "Landschaftssinn" bleibt ein Leben lang geprägt von der oberfränkischen Heimat. Jean Paul, die "ewige Wanderratte", möchte auch auf Reisen "stubenglücklich" sein, die eigenen vier Wände, die vertrauten Requisiten und Leibspeisen nicht missen. Von den "drei Bs", die er zum Leben brauche, hat er einmal gesprochen: "Berge, Bücher und bittres braunes Bier." Ein seltsamer Reisender, der einen Ortswechsel davon abhängig macht, ob am Zielort sein Lieblingsgetränk gebraut wird. Jean Paul will auch reisend der bleiben, der er immer war.

    "Das ist ja auch das Verrückte: Er pendelt permanent zwischen dem, was er selber in einer schönen neuen Wortbildung "Heimsehen" und "Fernsuchen" nennt. Kaum ist er unterwegs, sehnt er sich wieder nach Hause, sagt einmal: "Das Schönste am Reisen ist, dass man nach Hause kommen kann." Auf der anderen Seite: Kaum ist er zu Hause, treibt ihn sein "Fernsuchen" wieder hinaus. Zwischen diesen beiden Polen pendelt er - und das macht sein Leben so extrem nervös."

    Für Jean Paul bedeutet Reisen nicht nur Bewegung in der realen Topografie, sondern zugleich in den Räumen der Fantasie – Poetisierung der Welt und der eigenen Existenz als romantisches Programm. Für den Genussgiften aller Art sehr zugetanen Jean Paul wird Reisen zur Droge, deren Wirkung immer neuer Stimuli bedarf. "Elysium und Ernüchterung" liegen, so Richter, eng beieinander:

    "Das ist der große Unterschied zu einem Reisenden wie beispielsweise Goethe - der mit den Augen gereist ist, der sehen wollte, der wahrnehmen wollte. Jean Paul will seinen Seelenzustand verändern. Und das ist für mich das, was ich "Rausch" nenne - und das geht bis dahin, dass er aus Heidelberg, wo er gefeiert wird als großer Autor, an seine Frau schreibt: "Seit 14 Tagen nehme ich schon kein Opium mehr." - Er braucht kein Opium in diesem Fall, weil er die Reise als Rauschmittel hat."

    Nachdem Jean Paul, die elenden Jugendjahre liegen hinter ihm, den literarischen Durchbruch geschafft hat, genießt er seine Prominenz in vollen Zügen – auch und gerade auf Reisen. Als er 1796 nach Weimar eingeladen wird, wandert er zunächst von Hof nach Jena, bestellt sich dann aber für den kurzen Rest der Strecke eine Extrapost – schließlich will er in der "Stadt Gottes" nicht als schlichter Fußgänger ankommen. Aufs Publikum wirkt er polarisierend: Während ihm vor allem die weibliche Leserschaft zu Füßen liegt, begegnen ihm Dichterkollegen wie Goethe und Schiller reserviert. Verleger im eventgesteuerten Literaturbetrieb unserer Tage hätten ihre helle Freude an diesem Autor.

    "Jean Paul ist der erste Star, vielleicht der erste Star der deutschen Literatur gewesen. Er reist zu seiner Lesergemeinde. Oder er spricht von seiner "Brüder- und Schwesterngemeinde" und sagt "Ich bin ein zweiter Zinzendorf." Wo er hinkommt, hat er Widmungsexemplare in der Hand, verteilt Widmungsexemplare. Er macht Lesereisen. Er möchte gelesen, er möchte geliebt werden. Insofern ist er ein Star - und er würde sehr gut in den heutigen Literaturbetrieb passen, denn da passiert ja bei literarischen Stars etwas Ähnliches: Man schneidet ihnen nicht mehr die Locken ab. Aber man möchte ein Autogramm. Und das hat schon Jean Paul gemacht mit seinen Widmungsexemplaren."

    Ist der Star auch noch Ehemann und Vater, wird es kompliziert. Zu den reizvollsten Stücken des Bandes gehört der Reisebriefwechsel der Eheleute, in dem ein ums andere Mal die Fetzen fliegen. In hier erstmals abgedruckten Briefen bietet Caroline ihrem spleenigen und nicht allzu treuen Gatten erstaunlich souverän Paroli.

    "Sie muss sehr unter ihm gelitten haben. Und es gibt einen Brief, da rastet sie wirklich aus - da protestiert sie, da tut sie das, was alle Feministinnen Frau Caroline Richter heute raten würden: Lass dir das doch nicht länger gefallen!"

    Im "Titan", seinem größten Roman, gelingt Jean Paul das Kunststück, die italienischen Schauplätze der Handlung – vom Lago Maggiore bis zur Besteigung des Vesuv – so anschaulich zu beschreiben, dass einige seiner Leser das Buch praktisch als Reiseführer nutzten. Er selbst hat nie das Meer gesehen wie sein Luftschiffer Giannozzo, die Alpen nur von fern. "Das Herz muss nach der Schweiz seine Erhebungen und nach Italien seinen Himmel mitbringen: Sonst findet man keine Schweiz und kein Italien", notiert er ins Stammbuch einer Freundin.

    "Das ist ein Satz, der ebenso falsch wie richtig ist: Wir brauchen, um auf Reisen große Empfindungen zu haben, um zur Anschauung zu kommen, tatsächlich etwas, was wir vorher uns einverleibt haben, durch Lektüre beispielsweise, heute durch Filme, durch Erzählungen. Und wir finden das Fremde nicht, wenn es nicht auch schon in uns ist. Es ist aber auch ein Satz, der falsch ist, weil er so tut, als würde jede Anschauung im Grunde sekundär sein - und das Bedeutende eigentlich aus der Imagination, aus der Fantasie kommen."

    Jean Paul hätte Dieter Richters schmale, doch ungeheuer dicht gewebte "Reise-Biographie" vermutlich als "Reiselebensbeschreibung" bezeichnet. Uns ermöglicht sie einen neuen, noch dazu ziemlich unterhaltsamen Blick auf jenen Autor, für den einer wie Arno Schmidt sich "mit der ganzen Welt geprügelt" hätte.


    Dieter Richter: Jean Paul. Eine Reise-Biographie.
    Transit Verlag, 144 Seiten, 16,80 Euro.