Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Berichte über Polizistinnen-Video
Eine Mücke wird zum Medien-Elefanten

Kommissaranwärterinnen aus Sachsen drehten im vergangenen Jahr ein privates Video, das erst von einem Boulevard-Reporter verbreitet und dann von "Bild" und anderen Medien aufgegriffen wurde. Richtig groß wurde das eigentlich kleine Thema aber mithilfe eines Medienjournalisten, meint Arno Orzessek in seiner Glosse.

Von Arno Orzessek | 06.02.2019
    Blick auf vier Zeitungsautomaten.
    Das private Video einiger Kommissaranwärterinnen wurde von vielen Medien aufgegriffen (picture alliance / dpa / Rolf Vennenbernd)
    Aufgepasst, liebe Leute! Heute zeigen wir Ihnen, wie die Medien aus einer Mücke einen Elefanten machen. Holen Sie ruhig Ihre Kinder dazu. Rufen Sie doch: Kinder, im Radio wird jetzt ein Elefant gemacht! Denn die Sache ist so kompliziert, die erklärt man am besten einfach.
    Die Metamorphose der Mücke
    Also los! Die Mücke, das ist dieses private Video der tanzenden Kommissaranwärterinnen; wir wollen es Tanz-Video nennen. Es ist wirklich hübsch gemacht. Da tollen sympathische junge Frauen zu angesagter Mucke durch die Umkleide-Kabine der Bautzener Polizei-Schule. Sie geben sich lasziv, geben sich ein bisschen sexy, zählen erkennbar auch die Lust zur Lebenslust. Alles wirkt frei, cool und selbstbestimmt. Man denkt: Wenn Polizei so geht, geh ich da auch hin!
    So weit die Mücke. Und der Elefant? Nun, den kann man leider nicht anfassen, liebe Kinder. Seid deshalb nicht gleich sauer – mit Metaphern ist das oft so. Unser Elefant ist nämlich ein Umstand. Und zwar der Umstand, dass das Online-Magazin "Übermedien", die "Deutsche Presseagentur", die Tageszeitung "Die Welt" und wer weiß, wer sonst noch, über die Mücke berichten, also ein elefantöses Getröte veranstalten.
    "Bild"- und "B.Z."-Reporter postete das Video
    Doch der Reihe nach. Die Verwandlung der Mücke begann damit, dass der "Bild"- und "B.Z."-Reporter Axel Lier das Tanz-Video auf Twitter gepostet hat. Seine Quelle: der ominöse #Polizistenchat, über den er kein weiteres Wort verliert.
    Dass Lier übrigens ein seriöser Journalist ist, verrät seine Job-Beschreibung im Netz: "reporting and leaking [...] about crime & justice". Was übersetzt nicht ganz so Pulitzerpreis-verdächtig klingt, deshalb lassen wir's hier so stehen.
    Sobald die sächsische Polizei allerdings rechtliche Bedenken vortrug, Schutz der Privatsphäre und so, hat Lier das Video schwuppdiwupp gelöscht. Und vergessen war's.
    Das heißt, wäre es gewesen, hätte nicht die Dresdner "Bild"-Zeitung ganzseitig unverpixelte Screenshots daraus abgedruckt, ohne indessen Axel Lier zu erwähnen. Überschrift: "Die frechen Polizei-Schülerinnen und das Huren-Lied."
    Dem Video ist nämlich ein Song der Sängerin Fergie unterlegt, in dem es heißt: "Ich bin so eine Lady, aber tanze wie eine Hure."
    Vom Journalisten zum Unschuldslamm
    Unklar ist, ob es der Dresdner "Bild" in puncto Verbrechen gerade an relevantem Stoff gefehlt hat. Immerhin ließ die Sächsische Polizei kürzlich wissen: "Herausragende Kriminalitätsschwerpunkte in Dresden auf sechs reduziert".
    Vielleicht mussten die hübschen Anwärterinnen in der "Bild" einen akuten Mangel an schweren Jungs und Taten ersetzen - was die Frage aufwirft, ob sie später überhaupt noch genug zu tun kriegen.
    Aber so oder so, fest steht: Axel Lier hat bei Twitter dann doch gleich wieder auf die Online-Ausgabe der bilderreichen "Bild"-Seite verlinkt.
    Vom Journalisten zum Unschuldslamm mutiert, dichtete Lier dazu, das Tanz-Video sei halt irgendwie "an die Öffentlichkeit" gelangt. Und er rundete die Tarnung seiner Täterschaft mit dem Hinweis ab, die "Kollegen in Sachsen [würden] selbst entscheiden, was sie wie formulieren".
    So war aus der Mücke schon mal ein Elefanten-Baby geworden.
    Die Empörung fördert die Verwandlung
    Doch Stefan Niggemeier von "Übermedien" ist überaus reizbar. Er empörte sich im Netz lang und breit über die "bemerkenswerte Form perfekt organisierter Verantwortungslosigkeit".
    Niggemeiers Behauptung vom Montag, das Tanz-Video sei nun ein "bundesweites Medienthema", hatte noch etwas Suggestives. Er wollte gern, dass es so kommt. Und so kam's!
    Denn nun, liebe Kinder, haben wir mit Euch wirklich bundesweit darüber gesprochen. Und worüber bundesweit gesprochen wird, das ist in den Medien niemals eine Mücke, das ist immer ein Elefant.
    Damit wisst Ihr ein für alle Mal, wie gewisse Journalisten das machen - aus einer Mücke einen Elefanten. Und jetzt könnt Ihr wieder spielen gehen.