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Berichterstattung
Volkssport "Ostdeutschland-Bashing"

Die Berichterstattung über die ehemalige DDR wurde anfangs primär von West-Journalisten gemacht. "Ossis" fühlten sich dabei oft missverstanden und abgewertet. Auch wenn sich das geändert hat: Der spezifischen Konditionierung der DDR-Bevölkerung gerecht zu werden, bleibt eine Gratwanderung, bis heute.

Von Henry Bernhard | 10.11.2016
    Am Tag nach der Maueröffnung nutzen einige DDR-Bürger ihr Begrüßungsgeld zum Einkauf von Bananen, die in der DDR sehr teuer waren.
    10.11.1989 - am Tag nach der Maueröffnung: DDR-Bürger werden in der Presse mit Klischeebildern von sich selbst konfrontiert und fühlen sich dadurch abgewertet. (imago / Sven Simon)
    Seit die DDR in den letzten Zügen lag, arbeite ich als Journalist. Seit es auch im Osten Journalismus gab und es möglich war, über alles zu berichten und seine Meinung zu sagen. Ich war jung und naiv und habe viele Fehler gemacht. Ich war froh über die wenigen neuen Kollegen, die aus dem Westen kamen und so etwas wie journalistische Standards mitbrachten, die wir bitter nötig hatten. Und ich habe mich immer wieder maßlos geärgert über West-Journalisten, die aus der Ferne von der DDR erzählten, ohne die geringste Ahnung von ihr zu haben, die sogar noch mit ihrem Unwissen kokettierten.
    Diese Zeiten sind – für mich – vorbei. Über inkompetente DDR-Erklärer habe ich mich lange nicht mehr richtig geärgert. Aber viele unserer Hörer werfen uns Unwissen über die Verhältnisse im Osten vor. Mitte Oktober beispielsweise hatte der Journalist Thoralf Staudt bei uns im Interview folgenden Erklärungsansatz dafür, dass sich die Ostdeutschen im ARD-Deutschlandtrend deutlich unzufriedener mit der Demokratie zeigten als die Westdeutschen.
    "Aus der DDR-Vergangenheit sind viele Leute im Osten einen anderen Staat gewöhnt, einen Staat, der sich viel tiefer in den Alltag einmischt, der Sicherheit bietet, der Ordnung bietet. Vergessen wir nicht: Die DDR war ein sehr autoritärer Staat, wo man mit 18 schon wusste, wo man mit 65 immer noch arbeiten wird. Wer in der DDR ein bisschen schräg lebte, wer längere Haare hatte, wer schräge Musik hörte, der fiel da schon aus dem Rahmen."
    Keine Zivilgesellschaft in der DDR
    Außerdem, so Staudt, habe es in der DDR schlicht keine Zivilgesellschaft gegeben, also keinen Lebensbereich, der nicht durch den Staat gesteuert, organisiert oder kontrolliert wurde. Dagegen protestierten viele Hörer. So sei es nicht gewesen. Auch die Meinungen in der Forschung gehen da durchaus auseinander. Der Erfurter Politikwissenschaftler Alexander Thumfart differenziert.
    "Nicht jeder Gesangsverein ist automatisch politisch, die wollen zunächst mal singen. Und dann gibt es eine politische Zivilgesellschaft, die sagt: 'Wir wollen die Politik mit unseren Problemen adressieren.' Und in dem Sinn von: 'Wir drehen den Rücken zur Politik' gibt es einen bürgerschaftlichen oder einen gesellschaftlichen Zusammenschluss von Leuten, die irgendwas machen wollen. Das ist in diktatorischen oder in autoritären Staatsformen natürlich immer politisch überfärbt. Aber einfach zu sagen 'Es gibt keine Zivilgesellschaft in solchen Regimes' halte ich für zu einfach."
    Hoher Preis für selbstbestimmtes Handeln
    Auch Gabi Stötzer, eine Erfurter Künstlerin, meint: Ja, es habe Möglichkeiten gegeben, abseits des Staats zu handeln. Aber immer nur eine bestimmte Zeit lang und nie ohne Konsequenzen. Sie machte Studententheater, bis es nach der ersten Inszenierung verboten wurde; sie betrieb eine Galerie, bis die Stasi diese liquidierte; sie mischte sich an der Hochschule ein, bis sie exmatrikuliert wurde; sie protestierte gegen die Biermann-Ausbürgerung und kam dafür für ein Jahr ins Gefängnis. Selbstbestimmtes Handeln hatte für Gabi Stötzer in der DDR einen hohen Preis:
    "Erst mal Armut, Verzicht auf eine Karriere, Verzicht auf Anerkennung von außen, viel Isolation von der Familie, weil die Familie hat sich dann distanziert von solchen Leuten. Und dann schon eine existenzielle Einsamkeit auch, ja. Und die Stasi hatte dann zusätzlich immer noch Leute aus dieser Gruppe herausgeholt und zu Inoffiziellen Mitarbeitern gemacht, um die Gruppe nicht nur auszuhorchen, sondern auch zu zerstören."
    Nachwirkungen der DDR im Heute
    Im Dezember 1989 gehörte sie in Erfurt zu den Frauen, die als erste eine Stasi-Bezirksverwaltung besetzten. Auch das: zivilgesellschaftliches Engagement. Doch zurück zum Interview mit Thoralf Staudt vor zwei Wochen, das viele Hörer erregte. Staudt sprach nicht nur über die DDR, sondern auch über ihr Nachwirken im Heute. Er sprach über die Ostdeutschen, die seiner Meinung nach mit der seit den 60er Jahren liberalisierten westdeutschen Gesellschaft fremdeln.
    "Der neuen Vielfalt, der neuen Freiheit ausgesetzt zu sein, sich jetzt auch noch mit Flüchtlingen beschäftigen zu müssen, mit anderen Lebensstilen sich beschäftigen zu müssen, das ist im Osten tatsächlich nicht gelernt, das führt zu einer tief sitzenden Irritation eines Homogenitätsanspruches."
    Keine selbstkritische Auseinandersetzung mit NS-Vergangenheit
    Staudt ist nicht zimperlich. Er bescheinigt den Ostdeutschen, nach Autorität zu suchen, nach geordneten Verhältnissen, nach unveränderlichen, beschaulichen Inseln in einer Welt voller Wandel. Er gibt ihnen zu verstehen, dass zum Westgeld auch das Grundgesetz gehört –mit dem Asylrecht, mit Minderheitsrechten. Für eine ausdifferenzierte, selbstbewusste Bürgergesellschaft aber bedarf es jahrzehntelanger Diskussion, bestätigt Norbert Frei, Historiker in Jena. So habe in den 60er Jahren im Westen eine kritische Jugend eine Fundamental-Liberalisierung angestoßen.
    "Und dass Vergleichbares in der DDR nicht möglich gewesen ist, das ist offensichtlich. Und insofern kommt das noch hinzu, dass ja insgesamt die selbstkritische Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit ein schwieriger, mit Rückschlägen behafteter Prozess im Westen in der Form schon aufgrund der nichtvorhandenen bürgerlichen Öffentlichkeit im Osten nicht möglich gewesen ist. Und das alles zusammen sind natürlich Elemente, die auch bis heute eine wichtige Rolle spielen."
    Ein befreiendes 1968 fehlt im Osten
    Ein solch befreiendes 1968 fehle im Osten. Hier widerspricht Alexander Thumfart: In der heutigen Gesellschaft erlebten wir ein tägliches 1968. Wir müssten es nur aushalten.
    "Und in den 70ern wir mussten alle erst lernen, mit abweichenden Meinungen umzugehen, mit Streit umzugehen, die eigene Meinung zu vertreten, Gründe zu finden, nicht beleidigt und verletzt sein, wenn man sich nicht durchsetzt, das muss man lernen. Und das muss man auch weiterhin lernen in den neuen Bundesländern. Und die Bereitschaft, sich auf andere Positionen einzulassen oder dem anderen auch mal Vernunft zu unterstellen, das ist noch ausbaufähig."
    Gemischte Bilanz
    Und noch einmal zurück zur Berichterstattung über den Osten, über Vorurteile und Ignoranz. Cornelius Pollmer, selbst Dresdner und Mitteldeutschland-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, zieht eine gemischte Bilanz.
    "Es gibt immer noch assoziative Vorurteile, die sind teilweise berechtigt. Meine Gesamtwahrnehmung ist die, dass es ein bisschen besser geworden ist in letzter Zeit, was die Vermeidung von Pauschalurteilen angeht und die Vermeidung von zu platten Klischees. Also, ich glaube, dass es da Fortschritte gibt und dass auch es sich ausgezahlt hat, dass der Osten ab und zu aufgeschrien hat und gesagt hat: 'Wir sind nicht komplett braun, und bitte schaut bei uns genauso fair und präzise hin, wie ihr es anderswo tut!' Ich würde mir wünschen, dass der Osten zusätzlich auch in anderen Farben häufiger vorkäme, auch in helleren Farben, weil: Die gibt es hier auch!"