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Berlin
Auf den Spuren von Sankt Petersburg

Ein militärisches Bündnis, welches Zar Alexander I. mit dem preußischen König Friedrich Wilhelm II. schloss, sorgte 1805 für Begeisterung in der Berliner Gesellschaft. Das hat auch architektonisch Spuren hinterlassen - und einer der bekanntesten Plätze der Stadt ist nach dem Zaren benannt worden.

Von Mario Bandi | 02.08.2015
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    Auf dem Alexanderplatz. (Paul Zinken/dpa)
    Berlin ist eine Stadt der Warenhäuser, heißt es in einem im Krieg entstandenen Witz: Hier war ein Haus und dort war eins. Berlin ist auch ein Gespenst, man braucht etwas Vorstellungskraft, um Berlin wirklich kennenzulernen. So ist es am Alex zum Beispiel: Nichts ist "Walter Ulbricht" geblieben, nur der alte Name – der Alexanderplatz.
    Als Zar Alexander I. im Oktober 1805 in Berlin eintraf, stand die Berliner Garnison Ehrenwache. König Friedrich Wilhelm III. schloss ein geheimes Militärbündnis mit dem russischen Kaiserreich gegen Napoleon. Zar und König schworen sich Treue und umarmten sich am Grabe Friedrichs des Großen in der Potsdamer Garnisonkirche. Einen Monat später kam der königliche Erlass, den früheren Königsplatz zu Ehren des russischen Zaren in Alexanderplatz umzubenennen.
    Die Berliner Gesellschaft war im Herbst 1805 begeistert: Poeten, Künstler hatten viel zu tun, auch das Blumengeschäft bekam eine neue Aufregung. Der Alexanderstrauß war en vogue. Anemonen, Lilien, Eicheln, Xeranthemum – auf Deutsch Streublumen. Dann Akazie, Nelken, Dreifaltigkeitsblume, Efeu und Rose. Eine Idee für die Blumengeschäfte am Alex.
    So kann heute ein russischer Tourist stolz darauf sein, dass der Platz seit über 200 Jahren den Zarennamen trägt. Den majestätischen Glanz und das Gloriose hatte Russlands großer Dichter Alexander Puschkin damals allerdings verspottet.
    "Ein Schwächling, Lügner, Volksbetrüger,
    als tatenloser Geck bekannt,
    durch Zufall nur berühmt als Sieger,
    beherrschte damals unser Land."
    Übrigens: Alexander-Puschkin-Straßen- und Alleen gibt es dagegen im Berliner Raum acht mal.
    "Wir fahren mit einem Berliner Vis-à-vis einige hundert Meter und auch einige Jahre in der Geschichte weiter. Währenddessen erlebte Preußen die Niederlage des Tilsiter Vertrages. Dann kam das Jahr 1812. Die Grand Armee dringt in die russischen Weiten ein. Berliner bestaunen das Diorama des jungen Karl Schinkel "Brand von Moskau" und hoffen auf den Sieg der Russen. Dabei musste General York an der Seite Napoleons gegen die Russen kämpfen, seine Soldaten und Offiziere ließen sich gerne in Gefangenschaft nehmen und traten sofort in den russischen Militärdienst ein, um nun endlich gegen Napoleon zu kämpfen."
    Nach dem Krieg und nach der Siegesfeier in Paris ist die die heilige Allianz gegründet, Preußen in den alten Grenzen wiederhergestellt. Ab 1815 beginnt Berlin, mit einem neuen Lebensgefühl schnell zu wachsen.
    Politisch ist Preußen an der Seite des mächtigen Verbündeten, des russischen Kaiserreiches. Viel mehr sogar, ab 1817 sind Hohenzollern mit den Romanows eng verwandt: Prinzessin Charlotte von Preußen, die ihren Vater so an die geliebte Königin Luise erinnert, heiratet in Petersburg den Großfürsten Nikolaus, den jungen Bruder des Zaren Alexander.
    "Hier stehen wir auf dem Schlossplatz, dem breitesten und größten Platze in Berlin. Das königliche Palais ist das schlichteste und unbedeutendste von allen diesen Gebäuden. Unser König wohnt hier, einfach und bürgerlich."
    Als Heinrich Heine 1821 seine "Briefe aus Berlin" schrieb, war König Friedrich Wilhelm III. schon der glückliche Opa des kleinen Zarewitschs - des zukünftigen russischen Zaren Alexander II. Der König freut sich, seine Tochter in Berlin wieder zu sehen. Prinzessin Charlotte von Preußen, getauft in Russland als Großfürstin Alexandra Feodorowna, ist in diesem Jahr in Berlin mit ihrem Gemahl, dem Großfürsten Nikolaus. Sie ist nun die wichtigste Frau im Hause Romanow – Mutter des Thronnachfolgers Russlands.
    "Hut ab! Da fährt der König selbst vorbei. Es ist nicht der prächtige Sechsspänner, der gehört einem Gesandten. Nein, er sitzt in dem schlechten Wagen mit zwei ordinären Pferden. Das Haupt bedeckt eine gewöhnliche Offiziersmütze. Und die Glieder umhüllt ein grauer Regenmantel. Aber das Auge des Eingeweihten sieht den Purpur unter diesem Mantel und das Diadem unter dieser Mütze."
    Auch wenn Friedrich Wilhelm III. so preußisch-sparsam und etwas simpel war, gilt er doch als großer Förderer der Künste. Er hat unendlich viel für Berlins Verschönerung getan. Unter ihm fand das Wirken Karl Schinkels, Christian Rauchs und vieler anderer weltweite Bewunderung.
    27 Januar 1821: Alles, was einen Namen in Berlin hat, ist im Schloss eingeladen: In den Tableaus Vivants – oder lebendigen Bildern – dekoriert und inszeniert Karl Schinkel zur Musik Gasparo Spontinis das orientalische Verseepos von Thomas Moore "Lallah Rookh".
    Die Hauptrollen – die Prinzessin Lallah Rookh und Prinz Aliris – sind natürlich für Charlotte und Nikolaus gedacht. Theodor Fontane hat es beschrieben: Unter den Klängen eines für diese Feier komponierten Marsches von Gasparo Spontini setzte sich der aus 168 Personen bestehende glänzend kostümierte Festzug in Bewegung, durchschritt die bekannten Paradekammern des Schlosses, trat in den Weißen Saal ein und nahm hier vor der errichteten Bühne Platz.
    Eigentlich eine Idee für die kommende Neueröffnung des Berliner Schlosses! Dieses Lalla-Rookh-Fest blieb in Hunderten Abbildungen lebendig – in den Museen von Petersburg und Berlin. Mehr sogar, "Lalla Rookh" wurde zum poetischen Pseudonym für Charlotte.
    Vier Jahre später, 1825, wird Nikolaus zum Kaiser von Russland, zum Herrscher über fast 60 Millionen Untertanen gekrönt. Und Charlotte – als Ihre Kaiserliche Majestät, oder liebevoll Mütterchen-Zarin genannt - zu einer der mächtigsten und reichsten Frauen Eurasiens. Seitdem ist der Kunst- und Künstleraustausch zwischen Berlin und Petersburg sehr groß, aber natürlich nach Geschmack und Wunsch der Monarchen.
    Die Viktorien von Christian Rauch schmücken zum Beispiel den Park Charlottenburg und gleichzeitig den Garde-zu-Pferde-Boulevard in Sankt Petersburg. Das Milchmädchen von Pavel Sokolow, gestaltet nach der Fabel von Jean de La Fontaine, steht im Park des Katarinenpalastes bei Petersburg und ist sogar zweimal in Berlin präsent: bei den Schlössern Britz und Glienicke.
    "Hier schrägüber sehen Sie das Hôtel de Rome, und hier wieder links das Hôtel de Pétersbourg, die zwei angesehensten Gasthöfe. Wir müssen über die Brücke. Sie wundern sich über die vielen Baumaterialien, die hier herumliegen. Und die vielen Arbeiter, die sich hier herumtreiben und schwatzen. Und Branntewein trinken, und wenig tun. Hier nebenbei war sonst die Hundebrücke, der König ließ sie niederreißen, und lässt an ihrer Stelle eine prächtige Eisenbrücke verfertigen."
    Seepferde, Tritone und Delfine bilden das Ornament der Brüstungsplatten, die in der Berliner Eisengießerei nach Schinkels Muster gegossen wurden. "Auch die beste Brücke wird mit Füßen getreten", lautet der berühmte Satz des genialen Berliners – er gilt in diesem Falle sogar für zwei Brücken gleichzeitig: 20 Jahre später entsteht in St. Petersburg an der Paradestraße der Stadt, dem Newski Prospekt, die Anitschkow-Brücke. Der Zar von Russland, Nikolaus I., wollte mit dieser 1847 fertiggestellten Brücke ein Andenken an Berlin für seine Charlotte schaffen – mit den gleichen Tritonen und Delfinen, wie in Berlin. Kopiervorlage war die Schinkelsche Schlossbrücke.
    Statt acht Marmorskulpturen mit dem allegorischen Schicksal eines Helden, der von der Siegesgöttin Nike begleitet wird, stehen in Sankt Petersburg an den Enden der Anitschkow Brücke zwei Paare bronzener Rossebändiger – die Dioskuren, die göttlichen Zwillinge, Kinder des Zeus und der Leda, Schützgötter der Seefahrt und der Kampfspiele.
    Ihr Schöpfer war ein Russe deutscher Herkunft, ein Nachfolger der westfälischen Barone Pjotr Karlowitsch Clodt von Jürgensburg. Ein genialer Autodidakt und Schützling des Kaisers, der einmal so von einem Geschenk begeistert war - von einem aus Holz geschnittenen Pferdchen mit dem Fell einer weißen Maus.
    Pjotr Clodt bewies sein Können und wurde ein angesehener Meister, Professor und Akademiker auch bei der Berliner Kunstakademie.
    Einem kühnen Wunsch des Kaisers, den Winterpalastplatz mit den Pferdefiguren zu schmücken, wagte Pjotr Karlowitsch, zu widersprechen. Er Schlug stattdessen vor, die Pferdefiguren auf der Anitschkowbrücke aufzustellen - und hatte Erfolg.
    Die Einweihung durfte der Preußische König Friedrich-Wilhelm IV. erleben, da er 1842 zur silbernen Hochzeit seiner Schwester, der Kaiserin von Russland, in Petersburg zu Gast war. Selbst ein Romantiker und ein durch sein Amt verhinderter Künstler, begeisterte sich der König über diese Pferdefiguren dermaßen, dass er dem Bildhauer den roten Adlerorden zustellen ließ.
    Bald darauf befahl Kaiser Nikolaus die beiden ersten gegossenen Figuren als Geschenk seinem Schwager nach Berlin zu senden, wo sie einen Ehrenplatz am Schloss, an der Lustgartenseite einnahmen. Ein großes Ereignis für Berlin damals, so der Historiker und engagierter Stadtforscher Dr. Benedikt Goebel:
    "Während die Pferde von Pjotr Clodt immer noch die Schinkelsche Brücke in Petersburg schmücken, wurden sie in Berlin von den Alliierten 1945 von der Terrasse des Schlosses entfernt und in den Kleistpark in Schöneberg gebracht, zum Kammergericht, wo sich der Kontrollrat der Siegermächte befand."
    Der herausragender Berliner Gartenarchitekt Georg Pniower, ein Opfer des Naziregimes, der den Park zu gestalten hatte, war überrascht. Die Berliner haben 170 Jahre kritisch das Ringen zwischen Pferd und Mensch bewundert – am Schloss und im Kleistpark, ihr politisch geladenes skeptisches Urteil blieb unverändert: "der beförderte Rückschritt und der verhinderte Fortschritt."