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Berlin
Protest gegen Verdrängung im Kiez

Schmierereien, demolierte Rollläden, eingeschlagene Scheiben: Linksautonome haben in Kreuzberg ein Restaurant terrorisiert. Das Lokal sei "ein Faktor, an dem sich die Verdrängung in Kreuzberg aufzeigen lässt", lautet es in einem Bekennerschreiben. Der Protest richtet sich vor allem gegen den Investor.

Von Benjamin Dierks | 10.03.2017
    Blick auf das Kreuzberger Restaurant «Vertikal», aufgenommen am 02.03.2017 in Berlin. Eine große Gruppe von mutmaßlich linksautonomen Tätern hat zum wiederholten Mal das Restaurant in Berlin-Kreuzberg angegriffen.
    Das Kreuzberger Restaurant "Vertikal" wurde mehrfach angegriffen. (dpa/ picture alliance/ Christophe Gateau)
    Es herrscht ausgelassene Stimmung in der Küche des Kreuzberger Restaurants "Vertikal". Die Gäste sind versorgt, der Abend geht dem Ende zu und Chefkoch Guillaume Leduc und sein Kollege Antonio schmeißen ein paar Hamburger auf den Grill. Dazu zaubert der aus Lyon stammende Leduc spontan ein Amuse-Gueule aus Shitake-Pilzen und Käsefondue.
    Es war dieselbe Zeit des Abends vor einer Woche, als ein Angriff aufs "Vertikal" dem entspannten Ausklang des Abends ein jähes Ende setze. Der letzte Gast hatte gerade das Lokal verlassen, als vor den bodentiefen Fenstern des Restaurants plötzlich ein Trupp Vermummter auftauchte.
    Guillaume Leducs lautmalerische Beschreibung macht den Schrecken deutlich, der die Belegschaft erfasste. Die Betreiberin Claire D’Orsay beschreibt, was passierte.
    "Zwölf bis 15 Männer, komplett schwarz gekleidet, haben vor jedem Fenster gestanden, es gibt zwölf Fenster, und alle haben auf einmal geschlagen."
    Kreuzberg wird immer teurer und schicker
    Mit Eispickeln hätten sie auf die Scheiben eingeschlagen, berichtet die 32 Jahre alte New Yorkerin. Als eine "Entglasung im offenen Betrieb" bezeichneten die mutmaßlichen Täter ihren Überfall in einem Bekennerschreiben. Ihre Rechtfertigung: Das "Vertikal" sei – im Wortlaut – "ein Faktor, an dem sich die Verdrängung in Kreuzberg aufzeigen lässt". Der Angriff war der vorläufige Höhepunkt einer Reihe an Anfeindungen, die Claire D’Orsay seit der Restauranteröffnung im Januar zu erdulden hatte. Fast täglich spuckten Leute an die Scheiben, berichtet sie. Neulich seien die Rollläden mit Bauschaum verklebt worden. Und sie sei auch persönlich angegriffen worden. "Ausländer Bonzen raus" hatte ein paar Tage vor dem Angriff jemand an die Fassade gesprüht – ungewöhnlich rassistisch für Kreuzberger Verhältnisse. Kurz danach wurde das Wort Ausländer übermalt. Jetzt steht da nur noch "Bonzen raus".
    "Es ist wirklich ein Krieg rings um mich und ich stehe in der Mitte und kriege alles ab – und eigentlich ist meine Geschichte gar nicht mit drin."
    Die Fronten in diesem Konflikt verlaufen so: Kreuzberg wird immer teurer und schicker. Das beliebte Viertel zieht Menschen aus der ganzen Welt an, aber auch Investoren. Alte Mieter und Geschäfte können sich die Mieten nicht mehr leisten. Die Folge: Sie müssen ausziehen. Und die wehren sich. Der Streit in der Reichenberger Straße hat sich an der alteingesessenen Bäckerei "Filou" im Nachbarhaus entzündet. Der Vermieter hat den Mietvertrag gekündigt. Und hier wird es etwas kompliziert: Diesem Vermieter, einem Londoner Investor, gehört auch der Neubau, in dem Claire D’Orsay ihr Restaurant hat. Und nicht nur das, der Vermieter hat auch in das Restaurant investiert. Er ist somit Gesellschafter. Für die Aktivisten im Kiez wurde das Restaurant deshalb zum Feindbild. Claire D’Orsay beteuert aber, dass der Vermieter mit dem Betrieb nichts zu tun habe. Es sei ihr Laden.
    "Außer dass er mir Geld gibt, ist er kein Teil von diesem Geschäft, das ich aufbaue."
    Die Gastronomin kam vor sieben Jahren nach Kreuzberg. Für ihre Nachbarn in der Bäckerei "Filou" habe sie viel Verständnis, sagt sie.
    In der Bäckerei herrscht am Mittag Hochbetrieb. Ständig geht die Tür und neue Kunden kommen herein. Die Inhaberin Nadja Wagner sitzt an einem der Bistrotische mit zwei Nachbarinnen zusammen. Sie beratschlagen, wie sie die Bäckerei retten können. Wagner betreibt sie mit ihrem Lebensgefährten. Die beiden haben drei Kinder und vier Angestellte. Sie sollen bis Ende Juli ausziehen – und fürchten um ihre Existenz.
    "Alle sind empört und können das nicht verstehen. Wir sind ein laufender Laden, es funktioniert. Die Nachbarschaft braucht uns, wir brauchen die."
    Investoren wollen moderneres Stadtbild
    Der Vermieter hatte die Kündigung damit begründet, dass das in die Jahre gekommene "Filou" nicht mehr in die Gegend passe. Darauf wendete sich Nadja Wagner hilfesuchend an Bezirkspolitiker und Stadtteilinitiativen. Die organisierten eine Kiezversammlung und Proteste. Nachbarn in der Reichenberger Straße gründeten die Gruppe "GloReiche". Eine der Aktivistinnen der Gruppe sitzt mit Nadja Wagner am Tisch und beschreibt die Sorge, die viele in der Nachbarschaft teilen.
    "Wir befürchten ganz konkret, dass hier eine gezielte Aufwertung gemacht wird."
    Nun wollen die "Filou"-Betreiber und ihre Mitstreiter einen runden Tisch einberufen und hoffen, dass auch der Investor kommt. Für die Gewalt gegen das Restaurant nebenan hat hier niemand Verständnis. Claire D’Orsay hat ihren eigenen Weg gefunden, damit umzugehen.
    "Ich komme aus der Kunstszene, was ich mache, Lebensmittel oder Kunst, das ist alles Kreativität."
    Um die Einschlaglöcher in den Fensterscheiben hat sie mit ihrer Frau Nadine bunte, freundlich dreinblickende Monstergesichter gemalt. Und darüber freuen sich nun zumindest die Kinder aus der Nachbarschaft.