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Berlin und seine Gesellschaft im Nationalsozialismus

Berlin war in der Zwischenkriegszeit ein bedeutender Industriestandort mit einer selbstbewusst auftretenden Arbeiterbewegung. Im Sammelband "Berlin 1933-1945" haben sich Historiker mit der damaligen Metropole befasst und untersucht, wie sie von den Nazis erobert werden konnte.

Von Otto Langels | 04.03.2013
    Ein Auszug aus einer Rundfunksendung vom 5. April 1933 über eine Razzia im Berliner Scheunenviertel. Ein Foto der Aktion ist in dem Band "Berlin 1933 – 1945" abgedruckt. Die Polizei führte an dem Tag, unterstützt von SA und SS, auf den Straßen Kontrollen durch, die sich vor allem gegen jüdische Immigranten aus Osteuropa richteten. Polizisten befragten Verdächtige live vor dem Mikrofon. Aber nur die Verhöre mit gebrochen Deutsch sprechenden Personen wurden anschließend im Rundfunk gesendet, um so das Bild von zwielichtigen, fremdländischen Juden zu vermitteln, die nicht zur sogenannten Volksgemeinschaft gehörten. Vermutlich fand diese publikumswirksame Inszenierung auf Betreiben von Joseph Goebbels statt, dem Reichspropagandaminister und Gauleiter von Berlin. Adolf Hitler hatte Goebbels 1926 in die Reichshauptstadt entsandt, um aus einer unbedeutenden, desolaten Ortsgruppe der NSDAP eine im Wortsinn schlagkräftige Organisation zu formen. Michael Wildt, Professor für Deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts an der Humboldt-Universität, ist Herausgeber des Bandes "Berlin 1933 – 1945".

    "Goebbels hatte ein Gespür für die Großstadt. Er hatte ein Gespür für Medien, ihm war klar, dass dieser kleine, zerstrittene Haufen mit einer gewalttätigen SA noch überhaupt keine Größe in der Stadt darstellte, er aber wusste, dass jeder spektakuläre Auftritt sofort Resonanz in den Medien haben würde. Und wenn Sie Bilder von Goebbels sehen, dann hat er einen Ledermantel an wie Bert Brecht."

    Neben dem Aufstieg der NSDAP widmet sich der Sammelband Wirtschaft und Verwaltung, Kultur und Gesellschaft, Terror, Verfolgung und Krieg in der Hauptstadt. In knappen Beiträgen bieten rund zwei Dutzend Autoren informative Einblicke und Analysen zum jeweiligen Thema, sie verzichten aber auf biografische Skizzen, was zum Beispiel bei Joseph Goebbels oder Horst Wessel durchaus reizvoll gewesen wäre. Trotz einer Fülle von Detailstudien zum nationalsozialistischen Berlin ist das vorliegende Buch erstaunlicherweise die erste wissenschaftlich fundierte Gesamtdarstellung. Die Autoren stellen zum Beispiel den Mythos vom "roten Berlin" infrage. Zwar gewannen KPD und SPD bei der Reichstagswahl am 5. März 1933 trotz massiver Behinderung noch die absolute Mehrheit der Berliner Wähler, dies spiegelte aber nicht, so Michael Wildt, die tatsächliche Stärke der linken Parteien.

    "Man erliegt einem Trugschluss, wenn man diese beiden Arbeiterparteien immer zusammenzählt und daraus auch ableitet, das sei das rote Berlin gewesen. Die waren sich spinnefeind. Und die Töne zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten und umgekehrt waren enorm feindlich, zum Teil richtig hasserfüllt. Und diese beiden Lager hatten nichts miteinander zu tun und konnten von den Nationalsozialisten sehr gut auseinanderdividiert werden."

    Hinzu kam, dass die Wirtschaftskrise die Arbeiterschaft demoralisierte. Ende 1932 war jeder dritte Berliner arbeitslos, die KPD galt als die Partei der Erwerbslosen, die in den Betrieben kaum noch verankert war. Außerdem rächte sich, wie die Autoren zu Recht feststellen, die "autoritäre Zurichtung" der Arbeiterparteien. Nach der Zerschlagung von KPD, SPD und Gewerkschaften hatte die NSDAP leichtes Spiel, deren führungslose Anhänger zu sich herüberzuziehen. Leider fehlt in der gründlichen und facettenreichen Darstellung ein Beitrag zur nationalsozialistischen Volksgemeinschaft. Denn die Zustimmung zum NS-Regime basierte nicht nur auf Terror und Unterdrückung, sondern speiste sich auch aus einem sozialen Integrationsangebot mit öffentlichen Arbeits-, Wohnungsbau- und Freizeitprogrammen. Selbst linke Proletarier wollten oder konnten sich den Verheißungen der Volksgemeinschaft nicht entziehen. Die Mehrheit der Berliner, so das Fazit des Politikwissenschaftlers Johannes Tuchel in seinem Beitrag über Widerstand gegen den Nationalsozialismus, die Mehrheit stand bis zur Kapitulation im Mai 1945 hinter Hitler. Schlaglichter auf ein bislang relativ wenig erforschtes Kapitel der NS-Herrschaft werfen Cord Pagenstecher und Marc Buggeln in ihrem eindrucksvollen Artikel über Zwangsarbeit.

    "Im Mai 1945 stellten die schätzungsweise 370.000 Ausländer mehr als ein Siebtel der durch Einberufungen und Evakuierungen auf knapp 2,6 Millionen reduzierten Bevölkerung. Nur selten war Berlins Einwohnerschaft internationaler. Ohne Zwangsarbeiter wäre nicht nur die Rüstungsindustrie, sondern auch die Versorgung der Bevölkerung rasch zusammengebrochen."

    Ausländer leisteten Zwangsarbeit zum Beispiel bei den städtischen Verkehrsbetrieben und in Krankenhäusern, als Heizer im Hotel Adlon oder als Dienstmädchen im Zehlendorfer Privathaushalt. Untergebracht waren sie in rund 3.000 Lagern im Stadtgebiet, zum Beispiel im Südosten in Schöneweide. Der Herausgeber von "Berlin 1933 – 1945", Michael Wildt:

    "Das ist auf einem Platz, wo ringsherum Häuser stehen, das heißt, man konnte sonntags sein Frühstücksei auf dem Balkon essen und runter in das Lager gucken. Das heißt, es war tatsächlich vor aller Augen, wie dort die Zwangsarbeiter in diesem Lager aus Polen, Osteuropa haben leben müssen."

    Obwohl der Nationalsozialismus eines der besterforschten Themen der Zeitgeschichte ist, stoßen Historiker immer noch auf erstaunliche Desiderate, so auch im vorliegenden Band: Vom Berliner Sammellager in der Synagoge Levetzowstraße mussten Juden jeweils zu Hunderten den zwei Kilometer langen Fußweg durch dicht besiedelte Wohngebiete und Arbeitsstätten zum Deportationsbahnhof Moabit zurücklegen. Obwohl es Dutzende solcher Fußmärsche gab, ist bis heute kein einziges Foto bekannt, das den zehntausendfachen Gang in den Tod dokumentiert. "Berlin 1933 – 1945" ist ein lesenswertes Buch. Angesichts der großen Autorenschar fallen die Beiträge zwangsläufig unterschiedlich aus, und Wiederholungen und Überschneidungen lassen sich kaum vermeiden. Dies ist aber zu verschmerzen, denn so kann der Leser wie in einem Kompendium gezielt einzelne Themen herausgreifen, um sich einen Überblick zu verschaffen oder Anregungen zu weiterer Lektüre zu bekommen.

    Michael Wildt / Christoph Kreutzmüller: Berlin 1933-1945. Stadt und Gesellschaft im Nationalsozialismus
    Siedler Verlag, 496 Seiten, 24,99 Euro, ISBN: 978-3-82750-016-8