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Berlinale 2020
"Nennt mich nicht Flüchtling!"

Zweimal wurde Alfred Döblins Jahrhundertroman "Berlin Alexanderplatz" schon verfilmt – 1931 und 1980. Die dritte Fassung, die nun bei den Berliner Filmfestspielen uraufgeführt wurde, verlegt die Handlung aus der Weimarer Republik in die Gegenwart - mit einem Geflüchteten als Hauptfigur.

Maja Ellmenreich im Gespräch mit Mascha Drost | 26.02.2020
Der Darsteller Welket Bungué in "Berlin Alexanderplatz" von Burhan Qurbani, der auf den 70. Internationalen Filmfestspielen Berlin uraufgeführt wurde
Aus Franz Biberkopf wird Francis: Welket Bungué im Film "Berlin Alexanderplatz" von Burhan Qurbani (Wolfgang Ennenbach / 2019 Sommerhaus / eOne Germany)
Aus Bissau in Westafrika kommt Francis nach Europa, nach Deutschland und nach Berlin. Ein anständiges und gutes Leben will er führen – wie Franz Biberkopf in Döblins Romanvorlage. Als der Afrikaner aber keine Arbeit findet, landet er im Drogenmilieu in der Hasenheide, dem großen Park in Neukölln. Regisseur Burhan Qurbani verlegt Döblins Parabel vom haftentlassenen Arbeiter im Berlin der Goldenen 20er-Jahre in die Hauptstadtgegenwart des Wohlstandslandes Deutschland.
"Man guckt in der Tat gebannt zu, wie Francis schwört, ein anständiges Leben zu führen", sagt DLF-Kulturredakteurin Maja Ellmenreich nach der Premiere in Berlin. "Wie er aber immer wieder strauchelt oder zu Fall gebracht wird, wie er der Verlockung des schnellen Geldes nicht widerstehen kann. Wie er eigentlich einen inneren moralischen Kompass besitzt, der zwischen Gut und Böse zu unterscheiden weiß, wie er aber auch an die falschen Leute gerät."
Keine 1:1-Verfilmung
Im Mittelpunkt stehe der Leidensweg von Francis; viele Details aus dem Roman habe Qurbani weggelassen. Dem Regisseur sei es aber auch gar nicht um eine 1:1-Verfilmung gegangen, so Maja Ellmenreich. Die Hasenheide sei für Qurbani der Ausgangspunkt für seine Fassung von "Berlin Alexanderplatz" gewesen:
"Er wohnt in der Nähe und wollte einen Film über diese Drogendealer drehen. Qurbani ging aber davon aus, dass solch ein Film in Deutschland nur auf wenig Interesse stoßen würde – deshalb hat er den Döblin-Klassiker quasi als Erzählvehikel verwendet."
Berlin Mitte, Alexanderplatz
"Berlin Alexanderplatz" von Alfred Döblin (1878-1957) zählt zu den wichtigsten deutschsprachigen Romanen des 20. Jahrhunderts. Das 1929 erschienene Buch erzählt die Geschichte des Arbeiters Franz Biberkopf, der nach der Entlassung aus dem Gefängnis immer wieder beim Versuch, sich in Berlin eine neue Existenz aufzubauen, scheitert. Zweite Protagonistin ist die Stadt selbst: ihre Verlockungen und Chancen, aber auch die Brutalität und das Chaos der Großstadt, in der letztlich jeder Mensch sich selbst überlassen ist. Diese Darstellung und Döblins lebensnahe, oft sarkastische, ironische und anspielungsreiche Sprache trugen mit dazu bei, dass das Buch schnell zum Bestseller wurde: Bis 1933 erschienen 50 Auflagen. Die Ausstrahlung einer schnell von der Reichsrundfunkgesellschaft Berlin produzierten Hörspielfassung war im September 1930 trotz des großen Erfolgs von "Berlin Alexanderplatz" vier Stunden vor dem geplanten Termin abgesagt worden – schon damals aus politischen Gründen: Zwei Wochen zuvor hatte Hitlers NSDAP bei den Reichstagswahlen ihre Mandate nahezu verzehnfachen können.

Bislang zwei Verfilmungen

Nach ihrer Machtübernahme verboten die Nationalsozialisten den Roman. Bei den öffentlichen Bücherverbrennungen überall in Deutschland brannten 1933 auch die Romane von Alfred Döblin. Erst 1947 konnte "Berlin Alexanderplatz" in Westdeutschland, 1955 dann auch in der DDR wieder erscheinen.

Die erzählerische Montagetechnik des Buchs, die häufig auf eine Chronologie verzichtet, die ständig wechselnde Erzählperspektive und lange Passagen, die schon wie Regieanweisungen geschrieben sind, boten eine Verfilmung des Stoffes geradezu an. 1931 kam der erste Kinofilm von Regisseur Piel Jutzi mit Heinrich George in der Hauptrolle in die Kinos. 1979/80 nahm sich dann Rainer Werner Fassbinder des Stoffes an und drehte auf seiner Grundlage eine Fernsehserie in 13 Folgen und einem Epilog. Diesmal übernahm Günter Lamprecht die Rolle des Franz Biberkopf.
Gelungen sei ihm damit aber viel mehr, sagt Maja Ellmenreich in "Kultur heute": eine Aktualisierung des Döblin-Romans wie auch ein Film über das Schicksal von Geflüchteten:
"Francis' tiefer Wunsch ist so dringlich, wieder in einer Gemeinschaft anzukommen. 'Nennt mich nicht Flüchtling', sagt er einmal. 'Nennt mich Einwanderer oder Immigrant – aber nicht Flüchtling!'"
Vielschichtige Neuerzählung
Auch die Postkolonialismus-Debatte werde berührt; zum Beispiel, wenn der Kriminelle Reinhold für ein Kostümfest Francis als Affen verkleidet und sich selbst in den blütenweißen Tropenanzug eines Kolonialherren steckt:
"'Berlin Alexanderplatz' ist also eine vielschichtige Neuerzählung, die - bei allen Bezügen zur Gegenwart - wie bei Döblin eine universelle, fast biblische Geschichte eines Mannes erzählt, der – so heißt es im Film – 'anständig sein wollte. Aber man hat ihn nicht gelassen.'"