Freitag, 19. April 2024

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Berliner Philharmoniker 1945
Zwischen Endzeit und Neubeginn

Der Alltag der Berliner Philharmoniker unterschied sich in den letzten Kriegsjahren kaum von dem der restlichen Bevölkerung Nazideutschlands. Allerdings genossen die Mitglieder des Vorzeige-Orchesters einige Privilegien.

Am Mikrofon: Klaus Gehrke | 11.06.2020
    Schwarz-Weiß-Fotografie eines Menschen im Frack, der ein Orchester dirigiert. In der Mitte des Raums steht ein Mikrofon.
    Noch ist der Schrecken des Krieges weit entfernt: Wilhelm Furtwängler und die Berliner Philharmoniker proben an Pfingsten 1935 (Archiv Berliner Philharmoniker)
    Bombenangriffe, Luftschutzbunker, wachsende Trümmerberge und dazwischen Musikproben für Mozarts "Linzer" Sinfonie oder Beethovens Neunte: Der Alltag der Berliner Philharmoniker unterschied sich in den letzten zwei Kriegsjahren nur wenig von dem der restlichen Bevölkerung in der Hauptstadt und anderen Großstädten des Deutschen Reiches. Allerdings genossen die Mitglieder des deutschen Vorzeige-Orchesters einige Privilegien wie beispielsweise eine bessere Bezahlung und den so genannten "uk"-Vermerk: Für das nationalsozialistische Kulturleben waren die Musiker so wichtig, dass Hitler das ganze Orchester für "unabkömmlich" erklärte.
    Notfallhilfe aus dem Propagandaministerium
    Als er im Januar 1933 an die Macht kam, stand der Klangkörper finanziell vor dem Aus. Lorenz Höber vom Orchestervorstand wandte sich kurz darauf mit der Bitte um eine Nothilfe an die neue Regierung; Reichspropagandaminister Joseph Goebbels übernahm gerne die Schirmherrschaft der international angesehenen Berliner Philharmoniker unter ihrem Chefdirigenten Wilhelm Furtwängler. Dafür verkaufte das Ensemble seine GmbH-Anteile an den Staat und wurde zu einem finanziell abgesicherten verbeamteten Staatsorchester. Die Nachteile des Deals bekamen schnell die vier Orchestermitglieder mit jüdischen Wurzeln, darunter auch der erste Geiger und Konzertmeister Szymon Goldberg, zu spüren: Sie erhielten Auftrittsverbot. Dagegen konnte auch Furtwänglers Protest auf höchster Ebene nichts ausrichten. Zermürbt vom stetig wachsenden Druck, möglicherweise sogar aus den eigenen Reihen, verließen die vier bis 1935 das Orchester und emigrierten nach England und in die USA. Nach künstlerischen Auseinandersetzungen mit der Reichskulturkammer um die Uraufführung von Paul Hindemiths Oper "Mathis der Maler" trat auch Furtwängler Ende 1934 von seinem Amt als Chefdirigent zurück. Zwar leitete er danach die Berliner Philharmoniker noch häufiger; Musik von sogenannten "entarteten" Tonsetzern oder jüdisch-stämmigen Komponisten wurden jedoch aus den Programmen verbannt. Das betraf auch die Werke des einstigen Publikumslieblings Felix Mendelssohn Bartholdy. Nach einer letzten Aufführung des berühmten Violinkonzertes, vermutlich Anfang 1935, vergingen zehn Jahre, bis die Philharmoniker wieder ein Stück von ihm öffentlich präsentieren konnten. Ihr erstes Konzert nach dem Ende des zweiten Weltkrieges eröffnete Mendelssohns Ouvertüre zum "Sommernachtstraum" als Symbol für eine neue Zeit. Knapp einen Monat später, am 22. Juni 1945, nahmen die Geiger Johannes Bastiaan und Hermann Bethmann, der Solobratscher Walter Müller und der Solocellist Hans Bottermund von den Berliner Philharmonikern im Haus des Rundfunks an der Masurenallee unter anderem das Finale aus dessen Streichquartett D-Dur op. 44,1 auf.
    Aushängeschild für Nazideutschland
    In den Jahren bis 1939 avancierten die als "Reichsorchester" bezeichneten Berliner Philharmoniker zu dem klingenden Aushängeschild Deutschlands und wurden auf zahlreichen Auslandstourneen bejubelt. Zuhause genossen die Musiker eine gute Besoldung, mehrere Privilegien und die Möglichkeit, von der Reichsmusikkammer kostbare Instrumente zur Verfügung gestellt zu bekommen. Dass diese aus beschlagnahmtem jüdischen Besitz stammten, haben sie vielleicht geahnt; denn nach der so genannten "Reichsprogrom-Nacht" am 9. November 1938 machte die nationalsozialistische Politik kaum noch einen Hehl daraus, jüdisches Eigentum an sich zu reißen. Selbstverständlich spielten die Philharmoniker auch bei Reichsparteitagen oder zu Hitlers Geburtstag. Nach dem von den Nationalsozialisten ausgelösten Zweiten Weltkrieg wurde das Orchester zusätzlich zu Auftritten in den besetzten Gebieten verpflichtet. Hatte man im Ausland zuvor die Philharmoniker für ihre bestechende Klangschönheit bewundert, erhielten sie jetzt die Bezeichnung "Vorkämpfer der Fallschirmjäger". Darüber hinaus erlebten die Musiker die Auswirkungen des Krieges zunehmend am eigenen Leib: Einige von ihnen kamen bei den ab November 1943 immer massiveren Bombenangriffen auf Berlin ums Leben, denen auch die alte Philharmonie zum Opfer fiel. Als Propagandaminister Goebbels am 1. September 1944 den "totalen Kriegseinsatz der Kulturschaffenden" verkündete, mussten sämtliche Theater, Opernhäuser und Konzertsäle ihren Betrieb einstellen. Die Berliner Philharmoniker dagegen konnten weiter arbeiten und waren in Produktionen oder übertragenen Konzerten der Reichsrundfunkgesellschaft zu hören. Am 12. Januar 1945, dem Tag, an dem die sowjetische Armee ihre letzte Großoffensive gegen Hitler-Deutschland begann, spielte das Orchester im Berliner Beethoven-Saal unter der Leitung von Eugen Jochum Ludwig van Beethovens fünfte Sinfonie.
    Aufnahmen sollen Normalität suggerieren
    Während mit Beginn des Jahres 1945 die alliierten Truppen beständig in den Westen und Osten Deutschlands vorrückten, ignorierte die Regierung in Berlin die aussichtslose Lage. Stattdessen ging man mit aller Härte gegen angebliche "Volksverräter" vor und versuchte ansonsten, "Normalität" zu suggerieren – soweit diese angesichts zunehmender Luftangriffe überhaupt möglich war. In dieser Situation machten Techniker des Berliner Rundfunks Experimente mit dem Stereo-Aufnahmeverfahren. Dieses wandten sie vermutlich Ende Januar 1945 bei einer Einspielung des fünften Klavierkonzertes von Beethoven mit Walter Gieseking und dem Rundfunkorchester unter Arthur Rother an. Auf dieser ersten Stereo-Aufnahme sind im zweiten Satz dumpfe Geräusche zu hören. Ob die jedoch etwas mit dem Kriegsgeschehen zu tun haben, ist umstritten. Einen Monat später spielten die Berliner Philharmoniker "kleine Orchesterstücke" von Harald Genzmer für den Rundfunk ein. Genzmer, der bei Paul Hindemith studiert hatte, gehörte zu den von den Nationalsozialisten geschätzten zeitgenössischen Komponisten. Ende 1944 wurde er in Hitlers so genannte "Gottbegnadeten-Liste" aufgenommen und damit von jeglichem Kriegseinsatz freigestellt. Aus den "kleinen Orchesterstücken" erklingen nun "Scherzo" und "Tanzstück"; wo die Aufnahme mit den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Fritz Zaun am 21. Februar 1945 stattfand, ist nicht bekannt. Sie gehört jedoch zu den letzten, die das Orchester vor Kriegsende gemacht hat.
    Konzerte zwischen den Ruinen
    Noch zu Beginn des Jahres 1945 hatte die NS-Propaganda getönt, dass Hitler eine Überschreitung der deutschen Vorkriegsgrenze durch alliierte Truppen mit allen Mitteln verhindern werde. Doch Anfang März stand die rote Armee kurz vor der Oder-Neisse-Linie und britische und amerikanische Truppen hatten die linke Rheinseite mit der Metropole Köln erobert und drangen bei Remagen auf die rechte vor. Auch die Reichshauptstadt Berlin versank immer mehr im Kriegschaos. Damit war es auch den Philharmonikern fast unmöglich geworden, ihren Dienst auszuüben. Dennoch konzertierten sie noch bis Mitte April in den verbliebenen benutzbaren Spielstätten der Stadt. Dazu gehörte möglicherweise das Haus des Rundfunks, dessen Sendesaal unzerstört blieb. Offensichtlich war auch der Beethovensaal neben der Ruine der alten Philharmonie in der Nähe des Potsdamer Platzes trotz starker Beschädigungen noch bespielbar. Hier fand am 16. April das letzte Konzert statt, in dem das "Deutsche Requiem" von Johannes Brahms erklang. Am selben Tag startete die sowjetische Armee von der Oder-Neiße-Linie aus ihre letzte Großoffensive gegen die Reichshauptstadt. Acht Tage später war Berlin eingeschlossen und kapitulierte schließlich am 2. Mai. Kurz nach der bedingungslosen Kapitulation Hitler-Deutschlands am 8. Mai nahmen die Philharmoniker ihre Probenarbeit wieder auf – trotz einer mehr als ungewissen Zukunft. Für das erste Nachkriegskonzert am 26. Mai im Titania-Palast wählte der russisch-deutsche Dirigent Leo Borchard Werke der deutschen Klassik und Frühromantik sowie der russischen Spätromantik. Bei der ersten Rundfunkaufnahme der Berliner Philharmoniker am 30. Juni 1945 stand Carl Maria von Webers "Oberon"-Ouvertüre auf dem Programm.
    Widerstandskämpfer als Chefdirigent
    Wenige Tage vor dieser Aufnahme war Borchard vom Berliner Magistrat beauftragt worden, das Orchester zu dirigieren. Bereits zwischen 1933 und 37 hatte er mit dem Klangkörper bei Schallplattenaufnahmen zusammen gearbeitet. Der Korrepetitor und freischaffende Dirigent gehörte in der NS-Zeit zu den Gründungsmitgliedern der Widerstandsgruppe "Onkel Emil". Diese unterstützte ab 1938 verfolgte jüdische Bürger mit Verstecken, Verpflegung und Papieren. Aufgrund seiner Aktivitäten als Widerstandskämpfer stand Borchard für einen unbelasteten Neustart der Philharmoniker; zudem trennte sich das Orchester von mehreren Musikern, die Mitglieder in der NSDAP gewesen waren. Leider konnte Borchard seine Tätigkeit nur drei Monate ausüben: Am 23. August 1945 wurde er bei einer Fahrt in den amerikanischen Sektor Berlins an der Grenze von einem US-Soldaten erschossen. Sein Nachfolger wurde ein junger unbekannter rumänischer Dirigent, dessen Weltkarriere mit den Philharmonikern begann: Sergiu Celibidache.
    Aufstieg zum weltweit geachteten Orchester
    Unter ihm und vor allem Herbert von Karajan, über dessen steile Karriere im Nationalsozialismus lange geflissentlich hinweg gesehen wurde, stiegen die Berliner Philharmoniker in den folgenden Jahren und Jahrzehnten wieder zu einem weltweit geachteten und geschätzten Orchester auf. Zum 125. Jubiläum setzten sie sich intensiv ihrer Geschichte unter dem Hakenkreuz auseinander. Damals rückten auch die fast vergessenen frühen Nachkriegsaufnahmen unter Leo Borchard wieder in den Fokus. Zu den Stücken, die er und die Berliner Philharmoniker am 30. Juni 1945 für eine Rundfunkproduktion einspielten, gehörte die sinfonische Dichtung "Stenka Rasin" op. 13 von Alexander Glasunow. Wie Mendelssohns "Sommernachtstraum"-Ouvertüre bei dem ersten öffentlichen Konzert nach Kriegsende symbolisierte dieses Stück über den historischen Kosakenführer den musikalischen und freiheitlichen Neuanfang des Orchesters.
    Musikliste
    Felix Mendelssohn Bartholdy
    Aus: Streichquartett D-Dur op. 44, 1 - 4. Satz
    Streichquartett der Berliner Philharmoniker
    Ludwig van Beethoven
    Aus: Sinfonie Nr. 5 c-Moll op. 67 - 1. Satz
    Berliner Philharmoniker
    Leitung: Eugen Jochum
    Harald Genzmer
    Aus: Vier kleine Orchesterstücke - Nr. 1 und 2
    Berliner Philharmoniker
    Leitung: Fritz Zaun
    Carl Maria von Weber
    Aus: Oberon - Ouvertüre
    Berliner Philharmoniker
    Leitung: Leo Borchard
    Alexander Glasunow
    Aus: Stenka Rasin op. 13 - Schluss
    Berliner Philharmoniker
    Leitung: Leo Borchard