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Berliner Verwaltungsgericht
Stau bei Klagen gegen abgelehnte Asylanträge

300.000 Klagen wurden im vergangenen Jahr an deutschen Verwaltungsgerichten gegen abgelehnende Asylbescheide eingereicht - doppelt so viele wie im Jahr zuvor. Für Richter wie Frederic Kahrl aus Berlin, der pro Woche mindestens vier Fälle verhandelt, bedeutet das: lange Tage und schwierige Entscheidungen.

Von Claudia van Laak | 11.04.2018
    Blau Aktenordner in einer Hängeregistratur, davor ein Zettel mit der Aufschrift "Angehört, keine Befragung Einreiseverbot"
    Asylanträge in der Erstaufnahmeinrichtung Siegen-Wittgenstein in Bad Berleburg (NRW) (dpa / Bernd Thissen)
    Der Tag beginnt früh für Richter Frederic Kahrl. Um zwanzig nach sieben sitzt er an diesem Montagmorgen an seinem Schreibtisch im Verwaltungsgericht Berlin. Billige Pressspan-Möbel, an der Wand eine Afghanistan-Karte, auf dem Schreibtisch der aktuelle Jahresbericht der UN-Menschenrechtsorganisation zu Afghanistan. Ganz wichtig: die Espressomaschine.
    "Ich versuche so zu frühstücken, dass ich weiter fit bleibe und Vorrat angesammelt habe für den Tag, um nicht dauernd unterbrechen zu müssen."
    Frederic Kahrl, 36 Jahre alt, seit knapp einem Jahr Richter beim Verwaltungsgericht Berlin. 200 Asylverfahren liegen auf seinem Schreibtisch, vier davon verhandelt und entscheidet er jede Woche.
    Richter Frederic Kahrl an seinem Schreibtisch im Verwaltungsgericht Berlin
    Richter Frederic Kahrl an seinem Schreibtisch im Verwaltungsgericht Berlin (Deutschlandradio / Claudia van Laak)
    "Die Gründlichkeit ist das erste Gebot, es gibt keine Zugeständnisse, es schnell abzuhandeln, nicht genau hinzugucken ist keine Alternative."
    Eine Menge Ungereimtheiten
    Den Verhandlungssaal aufschließen, die Fenster aufreißen, den Dolmetscher für Dari und Farsi begrüßen. Ali Ashkpour zieht einen geblümten Porzellanbecher und eine große silberne Thermoskanne aus seinem Rucksack.
    "Das ist Kamillentee, das muss ich trinken, sonst bleibt meine Stimme weg."
    Eine Menge Ungereimtheiten gleich beim ersten afghanischen Kläger an diesem Morgen. Der Usbeke ist plötzlich Tadschike, gibt ein anderes Geburtsdatum an und zeigt einen Reisepass vor - den habe er vor einer Woche aus Kundus geschickt bekommen.
    Im Pass ein vollkommen anderer Name. Richter Frederic Kahrl lächelt freundlich und schaut dem Kläger direkt in die Augen. "Sie müssen mir jetzt mal helfen," sagt er. Doch der Kläger - dessen Anwältin erst gar nicht erschienen ist - gibt nur zu Protokoll: "Ich habe alles vergessen, ich kann mich an nichts erinnern." Nach einer Stunde macht Verwaltungsrichter Kahrl dem Afghanen klar: Seine Chancen, die Klage gegen den abgelehnten Asylbescheid zu gewinnen, gehen gegen Null.
    "Weil viel von dem, was er heute berichtet hat der Kläger, vorher nie angesprochen worden ist, und weil nicht ganz klar war, warum hat er welche Unterlagen nicht und wo sind die denn geblieben."
    Für die Kläger steht viel auf dem Spiel
    Der Warteraum ist inzwischen zum Kinderspielzimmer geworden - an diesem Tag stehen auch die Klagen zweier afghanischer Familien an. Und die eines zum Christentum konvertierten Moslems. Anwalt der Klägerinnen und Kläger ist Christopher Lingnau - seine Mutter stammt aus dem Iran, er selber spricht Dari und Farsi, deshalb kann er sich vor Mandanten kaum retten. Seit Monaten ist er fast jeden Tag im Berliner Verwaltungsgericht.
    "Hallo. Heute geht´s schneller. Heute geht´s schneller? Sie haben sich ja einiges vorgenommen. Auch mit Ihnen. Perfekt. Wunderbar."
    10.30 Uhr. Das Baby schreit. Richter Kahrl lächelt. Die Kläger sind nervös, für sie steht viel auf dem Spiel an diesem Tag. "Sagen Sie Bescheid, wenn Sie eine Pause brauchen", versucht er die Familie zu beruhigen, und für das Wickeln ist natürlich auch Zeit.
    Es fehlen ärztliche Atteste
    Anwalt Lingnau möchte, dass das Verwaltungsgericht ein Abschiebeverbot erlässt. Der Ehemann sei krank, habe epileptische Anfälle. Doch es fehlen die ärztlichen Atteste. Frederic Kahrl fragt die Ehefrau nach ihrer Familie in Herat. Eltern, Geschwister? Es gebe keine Kontakte mehr. Das nimmt er der Klägerin nicht ab - auf der Stirn des Richters bilden sich zwei steile Falten.
    "In den Verwaltungsstreitsachen Habasi gegen die Bundesrepublik Deutschland werden Beteiligte und Interessierte zur mündlichen Verhandlung in den Sitzungssaal 3101 gebeten. Die Sitzung ist weiterhin öffentlich"
    13 Uhr. Eine Mittagspause ist nicht drin, die dritte mündliche Verhandlung beginnt. Drei Stunden hat Richter Frederic Kahrl angesetzt, denn es geht um eine schwierige Entscheidung. Der Kläger ist vom Islam zum Christentum konvertiert. Weil es ihm eine Herzensangelegenheit ist oder weil er schlicht und einfach in Deutschland bleiben will?
    "Die Frage, die ich zu beantworten habe: Ist jemand, der hier die Taufe erlangt hat, ist der so fest zum christlichen Glauben übergetreten, dass er den in Afghanistan in einer Weise praktizieren und leben würde, die ihn der Verfolgung aussetzt. Ganz grob gesprochen."
    Zweifel an der Wahrhaftigkeit des Klägers
    Erklären Sie mir etwas zu Ostern. Was ist an Pfingsten passiert? Beten Sie auch zuhause? Woher kommen die 10 Gebote? Lesen Sie in der Bibel? Warum haben Sie sich taufen lassen? Die freundliche Stimme von Verwaltungsrichter Kahrl bekommt etwas Strenges. Zweifelt er doch an der Wahrhaftigkeit des Klägers. Dieser hatte sich sofort nach Ankunft in Deutschland zum Taufkurs angemeldet, ohne etwas vom Christentum zu wissen. Jetzt beginnt der Dolmetscher zu schwächeln. Sein Kamillentee ist alle. Auch Frederic Kahrl braucht eine Pause.
    "Espressobedürftig!"
    17.00 Uhr. Letzte Verhandlung für heute. Die herzzerreißende Geschichte einer afghanischen Klägerin, die als Zweitfrau zum Bruder ihres verstorbenen Mannes ziehen soll. Als sie sich weigert, fordert dieser stattdessen ihre Tochter. Die Frau aus Herat beweist Mut und geht zum Familiengericht, das ihr die Tochter zuschreibt. Die Brüder ihres verstorbenen Mannes stürmen das Haus und bedrohen sie, brechen dem neuen Ehemann das Nasenbein. Die Familie flieht nach Deutschland. "Wenn wir zurückgehen, werden sie uns töten" - schluchzt die junge Frau. Frederic Kahrl verschiebt seine Entscheidung. Er muss mindestens eine Nacht darüber schlafen. Mittlerweile ist er seit 12 Stunden im Dienst.
    "Der Arbeitstag ist fast beendet."
    "In der Verwaltungsstreitsache Beyk bzw. Ozbeyk gegen die Bundesrepublik Deutschland werden Beteiligte und Interessierte zur Verkündung einer Entscheidung in den Sitzungssaal 3101 gebeten."
    19.40 Uhr. Verwaiste Flure im Berliner Verwaltungsgericht. Frederic Kahrl verkündet noch ein Urteil - er weist die früh als erstes verhandelte Klage ab. Einen Fall hat er damit erledigt. 13.214 weitere Asylklagen liegen noch beim größten Verwaltungsgericht Deutschlands in Berlin.