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Berliner Volksbühne
Ein irrer Tanz der Konsumopfer

Vier Libertins verschanzen sich an einem entlegenen Ort - und füllen ihre Tage mit Perversion, Erniedrigung, sexueller Gewalt und Mord. Das sind "Die 120 Tage von Sodom", 1785 erdacht von Marquis de Sade. Nun hat Johann Kresnik de Sades Werk auf die Berliner Volksbühne gebracht und auf die heutige Konsumgesellschaft übertragen.

Von Elisabeth Nehring | 28.05.2015
    Volksbühne in Berlin
    "Die 120 Tage von Sodom" an der Berliner Volksbühne. (imago / Seeliger)
    Irgendein nerviger Privatradiosender dudelt die ganze Zeit. Schon bevor wir den Zuschauerraum betreten, krachen ohrenbetäubende Werbejingles auf uns herein. Und dann die Bühne: eine haushohe, knallbunte Kathedrale aus riesigen, nach Farben und Formen fein säuberlich sortierten Flaschen, Dosen, Pappschachteln, Tüten. Alles, was das Herz begehrt, steht quasi überlebensgroß in den Regalen, die sich bis unter die hohe Decke der Volksbühne türmen. Optisch und akustisch ist diese von Ali und Gottfried Helnwein entworfene Szenerie total stressig und total gut.
    In dieser schillernden Konsumhölle beginnt ein irrer Tanz der Konsumopfer: Herren in Anzügen, Frauen in Schulmädchenuniformen, jugendliche Punks - einfach jeder scheint von Gangnam Style und berauschendem Warenterror angesteckt.
    Wäre es doch bei diesen ersten fünf Minuten geblieben. In denen bringt Regisseur Johann Kresnik sein Thema wirksamer und beeindruckender auf den Punkt, als in den folgenden eineinhalb Stunden. Denn mindestens ebenso wie für die sexuellen Perversionen, die in den "120 Tagen von Sodom" bis zum Abwinken vorgeführt werden, interessiert sich Kresnik für das, was er 'Konsumfaschismus' nennt. Beides wird hier miteinander verschränkt - ab Minute sechs allerdings auf sehr platte Art.
    Denn während sich die fünf Libertins kraft ihrer Gummipenisse und anderer Hilfsmittel an ihren Opfern vergehen, rufen sie beständig größenwahnsinnige Fantasien ins Publikum: "Wir bringen euch dazu, alles zu kaufen, was wir wollen", "Ihr könnte nur Facebook", usw. usf. Weltkontrolle, totaler Gehorsam, Konsumherrschaft, Warenwelt, Gewinnmaximierung, Ökonomisierung aller Lebensbereiche - jedes, aber wirklich jedes gesellschaftskritische Thema wird hier einmal als Schlagwort herausgeschrien, ohne dass sich daraus irgendeine tiefere Bedeutung entwickeln würde.
    Gesellschafts- und Zivilisationskritik
    Während die schauspielernden Herren ihre Fäkalfantasien an den natürlich von Tänzern dargestellten Opfern ausleben, müssen sich diese, nackt oder mit blutig-kotigen Mulltüchern bandagiert, auf dem Boden wälzen, unter Hebebühnen zusammenkauern und jede Grausamkeit schreiend über sich ergehen lassen. Leider ist das alles derart aufgesetzt, überspitzt, ja, meistens richtig albern, dass sich keinen Moment auch nur ein Funken Empathie mit den Geknechteten und Entrechteten entwickeln könnte. Co-Choreograf Ismael Ivo, als Offizier auch selbst mit auf der Bühne, setzt die Verzweiflung und Erniedrigung der Opfer mit überwiegend stereotypen Bewegungen und Gesten in Szene, nur selten - wie beim Solo von Yoshiko Waki - springt ein Funke über. Dass in dieser rasenden, aber auch entleerten Revue der Geilheiten und Schmerzen dann aber auch noch Bilder von realen Opfern eingeblendet werden, ist mehr als geschmacklos. Und auch dass die Schergen der Täter stets als schwarz-angemalte Wilde auf die Bühne kommen, zeugt nicht gerade von inszenatorischer Stilsicherheit.
    Johann Kresnik geht es scheinbar wirklich um Gesellschafts- und Zivilisationskritik; doch seine Haudegen-Mentalität kennt weder dramaturgische Entwicklung noch thematische Tiefe oder gar irgendeine Art von Erkenntnisvermittlung und so gehen wir angesichts dieser an unfreiwillige Persiflage grenzenden Verbrechen und Leiden vollkommen ungerührt aus der Vorstellung.