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Bernauer Straße in Berlin
"Kapelle der Versöhnung" im ehemaligen Todesstreifen

An der Gedenkstätte Berliner Mauer ist die Teilung Berlins ab 1961 realistisch im Stadtbild zu erleben - ein Verdienst der evangelischen Versöhnungs-Kirchengemeinde. Diese wurde hier einst von der Mauer zerschnitten - und hat sich nach 1989 dennoch dafür eingesetzt, dass ein Ort des Gedenkens entsteht.

Von Sebastian Engelbrecht | 09.11.2019
Kapelle der Versöhnung in der Bernauer Straße, Berlin
Kapelle der Versöhnung in der Bernauer Straße, Berlin (picture alliance / dpa / Lothar Steiner)
Es ist ein gepflegter Weddinger Hinterhof, auf den Gerda Neumann aus ihrer Wohnung blickt. Sie wohnt seit ihrer Geburt im Jahr 1923 in den Häusern des "Vaterländischen Bauvereins", hundert Meter Luftlinie entfernt von der Bernauer Straße. Und damit fast drei Jahrzehnte unweit der Mauer, dort, wo heute die Gedenkstätte Berliner Mauer ist. Schon vor 1961 standen an der Bernauer Straße DDR-Sicherheitskräfte. Aber eine Mauer?
"Nee, das war eigentlich – eigentlich unvorstellbar für uns."
Zeit ihres Lebens gehört Gerda Neumann zur Evangelischen Versöhnungs-Kirchengemeinde. Heute liegt das Gemeindezentrum auf der West-Seite der Mauer. Bis 1961 lagen Kirche, Gemeinde- und Pfarrhaus im Osten – auf der Ostseite der Bernauer Straße. Dort, wo sich später der Todesstreifen befand und wo heute Touristen erleben können, wie die Grenzanlagen die Stadt zerschnitten. Der größte Teil der Versöhnungsgemeinde aber lag im Westen.
Gerda Neumann wohnt seit ihrer Geburt im Jahr 1923 in den Häusern des "Vaterländischen Bauvereins".
Zeit ihres Lebens gehört Gerda Neumann zur Evangelischen Versöhnungs-Kirchengemeinde. (deutschlandradio/Sebastian Engelbrecht)
"Lebt der nun im Osten oder im Westen?"
Auch der Publizist Jörg Hildebrandt, heute 80 Jahre alt, lebte hier von 1950 bis ´61, als Pfarrerskind.
"Wenn wir unser Haus verließen, auf den Bürgersteig traten, waren wir sofort im Westsektor, also französischer Sektor, bei uns sowjetischer Sektor oder Ost-Berlin-West-Berlin. Und die Gemeinde, die nahm das überhaupt nicht zur Kenntnis: Ost und West. Wir waren zusammen, und wir wussten auch gar nicht: Lebt der nun im Osten oder lebt der im Westen?"
Dann kam im August 1961 der Mauerbau. Das Pfarrhaus lag im Osten. Gerda Neumann musste von Westen zuschauen, wie ihre Stadt geteilt wurde – und ihre Kirchengemeinde.
"Da haben wir gestanden, haben gedacht: Das gibt es nicht. Man kann doch hier nicht einfach zumauern."
"Es hat gar nicht so lange gedauert, aus den Wohnungen zur Bernauer Straße hin wurden die ja umgesiedelt. Die mussten ja weg aus ihren Wohnungen. Teilweise sind sie ja aus dem Fenster gesprungen. Dann waren sie auf West-Berliner Boden. Es war ja ab Häuserfront erst Osten."
Eine Familie hinter Stacheldraht, bewacht von Volkspolizisten der DDR während der Zwangsräumung von Häusern in der Bernauer Straße in Berlin, 1961. Direkt an der Bernauer Straße verlief die Grenze zwischen West- und Ostberlin.
Eine Familie hinter Stacheldraht, bewacht von Volkspolizisten der DDR während der Zwangsräumung von Häusern in der Bernauer Straße in Berlin, 1961. Direkt an der Bernauer Straße verlief die Grenze zwischen West- und Ostberlin. (picture-alliance / dpa)
DDR-Polizei und -Militär vertrieben Hausbewohner
Der Weg zur Kirche, zum Gemeindesaal, zum Pfarrhaus war für Gerda Neumann versperrt.
"Das war alles nicht mehr für uns erreichbar."
"Wir als Pfarrfamilie haben noch bis zum Oktober, bis genau, ich weiß es, 26. Oktober 1961 in der Bernauer Straße gewohnt, und wir sind, so weit ich weiß, die letzten Anwohner überhaupt in dieser Grenzstraße dort gewesen, die dann rausgeschmissen wurden."
Pfarrer Helmut Hildebrandt hatte seine Gemeinde weitgehend verloren. DDR-Polizei und -Militär hatten die Bewohner aus ihren Häusern vertrieben.
Das Archivbild von 1962 zeigt einen Soldaten der Nationalen Volksarmee, rechts, der einen Bauarbeiter bei der Reparatur der Berliner Mauer an der Bernauer Straße beaufsichtigt.
Das Archivbild von 1962 zeigt einen Soldaten der Nationalen Volksarmee, rechts, der einen Bauarbeiter bei der Reparatur der Berliner Mauer an der Bernauer Straße beaufsichtigt. (AP)
"Der Westen war weg, und vom Osten verkrümelte sich das allmählich. Es war ja gar keine Gemeinde mehr da. Insofern erlosch dann auch der seelsorgerische Auftrag meines Vaters. Er hatte niemanden mehr, um den er sich zu kümmern hatte in der Gemeinde."
"Vergeßt uns nicht, Ihr da drüben!"
Stunden, bevor die Pfarrersfamilie ihr Haus schließlich auch verlassen musste, stieg Jörg Hildebrandt noch einmal auf den Kirchturm.
"Ich bin dann hoch, ich weiß, das war also Vormittag, muss gegen halb elf gewesen sein, und habe die Uhren ringsum auf allen vier Seiten auf fünf vor zwölf gestellt. Also ziemlich viel Pathos dabei, aber so doch die Geste: ‚Es ist keine Zeit zu verlieren! Vergeßt uns nicht, Ihr da drüben auf der anderen Seite!‘ Naja, die Uhren, die schauten ja vorwiegend Richtung Westen. Und naja, genützt hat es nicht viel. Die Kirche ist ja dann gesprengt worden 1985."
"Mit diesem Knall kam das Ende des Kirchenschiffes einer Kirche, die vor rund 86 Jahren eingeweiht worden ist, hier unmittelbar an der Mauer an der Bernauer Straße."
Eine schwarz-weiß Aufnahme zeigt den Blick über die Berliner Mauer  auf die Versöhnungskirche kurz vor deren Abriss im Winter 1985 an der Bernauerstraße am Grenzstreifen.
Blick über die Berliner Mauer Winter 1985 an der Bernauerstraße mit Versöhnungskirche kurz vor deren Abriss auf dem Grenzstreifen. (imago images / imagebroker)
Die Mauer: "Einmal wird die weg sein"
Helmut Fleischer berichtete am 22. Januar 1985 im RIAS über die Sprengung der Versöhnungskirche. Seit 24 Jahren lag sie nun unerreichbar im Todesstreifen der Grenzanlagen. Den Grenztruppen versperrte der Bau die Sicht. Auch die Kirchenleitung in Ost-Berlin hatte sie aufgegeben. Die Kirche von Berlin-Brandenburg willigte in die Sprengung ein und durfte im Gegenzug ein Gemeindehaus im Neubauviertel Hohenschönhausen in Ost-Berlin errichten.
Auch für Gerda Neumann war die Sprengung ein Schock. Aber sie wusste schon in den 80er Jahren, dass die Mauer nicht ewig bleiben würde.
"Ich habe immer zu meiner Tochter gesagt: ‚Ich werde es vielleicht nicht mehr erleben. Ob Du es erlebst, weiß ich nicht. Aber ewig wird sie nicht sein. Einmal wird die weg sein.‘"
Nachdem die Mauer wirklich gefallen war, kämpfte Manfred Fischer, Pfarrer der Versöhnungs-Kirchengemeinde im Westen, dafür, die Grenzanlagen mitten in der Stadt zu erhalten.
"Er hatte schon die Vision, dass die Mauer nicht ewig bleiben wird."
Abbildung des legendären Fotos von Peter Leibing an einer Hauswand in der Bernauer Strasse: Der Soldat Hans Conrad Schumann springt 1961 über den Stacheldraht.
Abbildung des legendären Fotos von Peter Leibing an einer Hauswand in der Bernauer Strasse: Der Soldat Hans Conrad Schumann springt 1961 über den Stacheldraht. (picture alliance / Winfried Rothermel)
"Kapelle der Versöhnung" im ehemaligen Todesstreifen
Anders als Fischer im Westen dachten die Hildebrandts im Osten.
"Auch ich habe zu den Ost-Berliner Menschen gezählt, die unmittelbar nach dem 9. November gesagt haben: Bloß weg mit dem Dreck! Nicht eine einzige Stelle möchte ich mehr wiedererkennen, wo einst die Mauer gestanden hat. Jetzt sehe ich das anders. Also man muss natürlich auch visuell zurückblicken können, und insofern ist es gut, dass da doch noch einige Reste geblieben sind."
Der West-Berliner Pfarrer Fischer setzte sich durch. Heute wimmelt es von Mauer-Touristen aus aller Welt, wo früher Gemeindehaus und Pfarrhaus standen. Im ehemaligen Todesstreifen baute die Gemeinde eine "Kapelle der Versöhnung". Hier geht Gerda Neumann jeden Sonntag in den Gottesdienst.
Besucher der Mauergedenkstätte Bernauer Straße sehen sich eine Gedenktafel an, die die Fotos von getöteten DDR-Flüchtlingen zeigt
Mauergedenkstätte Bernauer Straße: Die Gedenktafel zeigt Fotos getöteter DDR-Flüchtlinge (picture alliance / dpa /Rainer Jensen)
"Man soll dankbar sein, dass es wieder ist wie früher, also dass man zur Kirche ungehindert gehen kann, überhaupt gehen kann, wohin man will."
Die Touristen aber, erzählt Gerda Neumann, verlassen die Kapelle fast alle, wenn die Andacht beginnt. Dann, sagt sie, hätten sie "plötzlich alle keine Zeit mehr".