Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Bernd Eisenfeld, Ilko-Sascha Kowalczuk, Erhard Neubert: Die verdrängte Revolution. Der 17. Juni 1953 in der deutschen Geschichte.

Nach der Flut von Publikationen zum 50. Jahrestag des 17. Juni 1953 mag auch mancher zeitgeschichtlich interessierte Leser inzwischen aufstöhnen, wenn er von noch einer neuen Veröffentlichung zum Arbeiteraufstand in der DDR erfährt. Doch der Ansatz des jüngst in der Edition Temmen erschienenen Bandes "Die verdrängte Revolution" ist ein gänzlich anderer, wie schon sein Untertitel verrät: Der 17. Juni in der deutschen Geschichte. Nicht der Aufstand selbst ist also hier das Thema, sondern wie die Deutschen in Ost und West in den darauf folgenden Jahrzehnten mit diesem historischen Ereignis umgingen. Thomas Moser hat das Buch für Sie gelesen und den Mitherausgeber Bernd Eisenfeld befragt.

Von Thomas Moser | 14.06.2004
    Wer ein Buch mit 900 Seiten vorlegt, hat etwas zu sagen – oder will es zumindest. Nicht mit dem Aufstand vom 17. Juni 1953 an sich befasst sich das Werk. Der ist nicht zuletzt durch die Forschungsoffensive zum 50. Jahrestag inzwischen einigermaßen ausgeleuchtet. Worum es jetzt geht, sind die Folgen und Nebenwirkungen. Wie wurde auf den Aufstand reagiert? Wie wurde mit ihm umgegangen? Wie wirkte er sich aus? Und zwar sowohl auf Seiten des Regimes wie der Opposition in der DDR. In Ost wie in West. Fragen dieser Art gehen die drei en Ehrhart Neubert, Ilko-Sascha Kowalczuk und Bernd Eisenfeld nach. Und sagen: Das politische Datum des 17. Juni ist in der DDR immer präsent gewesen, ob direkt oder indirekt. - Bernd Eisenfeld:

    Ich war erstaunt darüber, dass über Generationen hinweg, vor allen Dingen in den Tagen in und um den 17. Juni, immer wieder Losungen, Flugblätter, Diskussionen auftraten in der DDR, die unmittelbar an den Geist des 17. Juni anschlossen, also Freiheit und Einheit. Das war kein Massenphänomen, aber doch immer wiederkehrend. Diese Linie, kann man sagen, diese widerständige Linie, die hat sich durchgezogen bis ’89.

    Die herrschende Staatspartei SED und ihr Sicherheitsapparat waren vom Aufstand überrascht worden. Und obwohl er niedergeschlagen wurde, entfaltete er bei den staatlichen Organen eine traumatische Wirkung. SED und Staatssicherheit misstrauten der Bevölkerung nun noch mehr und versuchten, mögliche neue Unruhen bereits in den Anfängen zu erkennen und zu neutralisieren. Der 17. Juni markiere so den Übergang von offener zu vorbeugender Machtsicherung.

    Man hat ja offensichtlich gemerkt, dass in der DDR unter bestimmten Situationen ein sehr eruptiver Ausbruch stattfinden kann, und jetzt ging es im Grunde genommen darum, rechtzeitig, also prophylaktisch diese Anzeichen von Unruhe, von Unzufriedenheit zu erfassen. Und das bedeutete in der Konsequenz, dass sich der Sicherheitsapparat umstellen musste. Er musste sich vor allen Dingen darauf einstellen, langfristig, subtil in den einzelnen Bereichen, vor allen Dingen dort, wo latentes Gefahrenpotential bestand, die Stimmung richtig aufzufangen, um rechtzeitig eingreifen zu können.

    Zu dieser vorbeugenden Machtsicherung gehörte die Militarisierung der Gesellschaft oder die Auswahl der Systemträger mittels Kaderpolitik. Aber auch eine Sozialpolitik, die Forderungen in der Arbeiterschaft immer wieder nachgab, um Kritik nicht gefährlich werden zu lassen. Wirkung erzielte der niedergeschlagene Aufstand natürlich in der Bevölkerung, aber auch bei den immer wieder entstehenden Oppositionsgruppen in der DDR.

    Die Niederschlagung des 17. Juni als sozusagen, als kollektiver Akt der Gesellschaft hat natürlich entsprechende Traumata auch hinterlassen auf Seite von Opposition und Widerstand. Also die Hoffnungslosigkeit, in einer Massenbewegung etwas verändern zu können. Also muss man versuchen, sich mit diesem Staat in irgendeiner Weise zu arrangieren und legal, über legale Mittel sozusagen, das ist ja Opposition, das System zu verändern.

    Im Gegensatz zur normalen Bevölkerung habe sich die organisierte Opposition im Laufe der Zeit immer mehr vom Geist des 17. Juni entfernt, so die drei en. Die politischen Gruppen in den 80er Jahre hätten sich mit dem Thema dann gar nicht mehr beschäftigt. Gegenüber dem Aufstand habe ein selbstverordnetes Tabu gegolten. Auch, weil man den Sozialismus nicht mehr abschaffen, sondern nur noch vermenschlichen wollte. Diese These von Eisenfeld, Kowalczuk und Neubert hat bereits im Vorfeld des Buches Widerspruch in den Reihen der ehemaligen Opposition ausgelöst. Reklamiert wird vor allem, dass sich die Oppositionsgruppen auch taktisch verhalten mussten.

    Zur Wirkungsgeschichte des 17. Juni zählen auch die Reaktionen in Westdeutschland. Entgegen der öffentlichen Pro-Aufstands-Rhetorik wendete sich die Bonner Politik bereits unter Adenauer in der Praxis einer Entspannungspolitik zu, die mit den Regierenden in der Sowjetunion und später mit denen in der DDR ins Gespräch trat. Die Erinnerung an den Aufstand entwickelte sich damit zum Störfaktor. Eine Konsequenz war, dass nur noch sein negatives Ende, die Niederschlagung, betont wurde, aber nicht mehr der Widerstandswille, der zu der Erhebung geführt hatte. Und das wiederum wirkte sich auf die Opposition in der DDR nicht gerade ermutigend aus.

    Und mit dieser Politik, mit dieser Entspannungspolitik, und das trifft gleichermaßen auf die tragenden politischen Kräfte in der Bundesrepublik zu, entfernte man sich natürlich auch deshalb vom 17. Juni, weil ja eine Massenbewegung oder überhaupt eine Veränderung von innen her gar nicht mehr gesehen wurde und gesehen werden wollte. Und von daher wurde natürlich der 17. Juni immer mehr umgeformt. Man erinnerte immer weniger eigentlich an die Widerstandsdimension dieses Tages oder dieser Tage, sondern man reflektierte die Niederlage. Und das implizierte im Grunde genommen die Verabschiedung vom Geist des 17. Juni.

    Die Wirkungsgeschichte des 17. Juni war eine Verdrängungsgeschichte, so Eisenfeld, Kowalczuk und Neubert. In der Darlegung dieser Zusammenhänge hat das Buch seine Stärken. Es hat aber auch ziemliche Schwächen.

    Eine ist der totale Deutungsanspruch, den es erhebt. Die en tun so, als ob sämtliches historisches Material über den 17. Juni und seine Folgen vorläge und man es nur noch richtig zusammensetzen und interpretieren müsste. Dabei vernachlässigen sie vor allem Quellen und Ereignisse im Westen Deutschlands. In einem Kapitel erzählen sie die Geschichte des 17. Juni-Komitees in Westberlin, das von geflohenen Aufständischen gegründet worden war. Dieses Komitee war von Geheimdiensten regelrecht durchsetzt. Nicht nur von der Stasi, sondern auch von westlichen Diensten, wie man durch bruchstückhafte Aussagen einzelner Beteiligter weiß. Wie genau und in welchem Ausmaß westliche Geheimdienste dabei operierten, kann heute noch nicht gesagt werden, weil deren Akten, entgegen denen der Staatssicherheit, nicht zugänglich sind.

    Auch auf andere Weise bewegen sich Eisenfeld, Kowalczuk und Neubert auf einer schiefen Ebene. Während sie für den Osten "Geschichte von unten" beschreiben, befassen sie sich für den Westen nur mit dem politischen Überbau. Das Pendant zu den Juni-Aufständischen, die Arbeiterschaft in Westdeutschland nämlich, interessiert sie überhaupt nicht. Das deutsch-deutsche Wechselspiel zwischen Ost und West sehen sie nur für die Zeit nach dem Aufstand, für die Zeit davor verneinen sie es. Zitat:

    Die ostdeutsche Bewegung bedurfte keiner westlichen Mentoren.

    Was allerdings die Frage ist. Denn durch Aussagen von aufständischen Arbeitern vor allem aus Ostberlin weiß man, dass sie die sozialen Kämpfe ihrer Westkollegen zur damaligen Zeit mit Interesse verfolgt haben. Vielleicht ist der Grund für die Ignorierung dieser "Westgeschichte von unten" folgender Glaubenssatz der drei:

    Der Wille der Ostdeutschen, in einem freien Nationalstaat zu leben, konnte nur als Plebiszit für die Bundesrepublik verstanden werden.

    Um das so undifferenziert behaupten zu können, müssen sie eben die Westarbeiterschaft ausblenden, die 1952/53 mit zum Teil wochenlangen Streiks um die Gestalt der sozialen Ordnung in dieser Bundesrepublik rang. Und das führt nun zur Hauptschwäche des Buches: der theoretische Ansatz, der ausschließlich der "nationalen Frage" folgt. Das Nationale ist das alles dominierende Paradigma. Das Buch endet zum Beispiel mit dem seltsamen Satz:

    Der 17. Juni gehört zu den historischen Ereignissen, die die Deutschen miteinander verbinden.

    Der Hinweis, dass der 17. Juni doch Deutsche trenne, Ulbricht und seine SED von den Aufständischen nämlich, bringt Bernd Eisenfeld in Erklärungsnot:

    Moment mal, aber wenn wir von Vereinigung sprechen in diesem Kontext, dann meinen wir die Gesellschaft und nicht die Politik. Und die Gesellschaft, das sind also die Menschen oder das ist die Bevölkerung, das Volk, und nicht etwa die Herrschenden. Das verstehe ich jetzt nicht. Also ich... Natürlich sind das auch Deutsche, natürlich ist Ulbricht auch ein Deutscher, aber er wollte ein anderes Deutschland, ein Deutschland, das die Gesellschaft nicht wollte.

    Hier wurde die nationale Frage zur Falle. Das Merkmal des Deutsch-Seins allein taugt nicht zur Erklärung des Aufstandes. Die Aufständischen wollten nicht nur die nationale Einheit, sondern hatten auch soziale und politische Interessen. Und deshalb hatte die deutsche Frage immer auch einen sozialen und politischen Inhalt. Indem die drei Historiker diesen Inhalt aber ignorieren, wird ihre Betrachtungsweise der nationalen Frage tendenziell "nationalistisch" - nationalistisch im Sinne einer Isolierung und Überbetonung des Nationalen. Oder wäre etwa nur ein "guter Deutscher" ein Deutscher?

    Thomas Moser über "Die verdrängte Revolution. Der 17. Juni in der deutschen Geschichte". Herausgegeben von Bernd Eisenfeld, Ilko-Sascha Kowalczuk und Erhard Neubert in der Edition Temmen Bremen; das Buch umfasst 847 Seiten und kostet 29 Euro und 90 Cent.