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Bernhards Weg zu seinem Meisterwerk "Frost"

"Frost" war Thomas Bernhards erster literarischer Erfolg. Seine Radikalität ist heute noch genauso verstörend und faszinierend wie bei seinem ersten Erscheinen vor 50 Jahren. Suhrkamp legt nun zwei Fragmente vor, die Bernhards Übergang zu seiner berühmten Schreibart zeigen.

Von Michaela Schmitz | 11.08.2013
    "Um der Versöhnung willen müssen die authentischen Werke jede Erinnerungsspur von Versöhnung tilgen", formuliert Theodor W. Adorno in seiner "Ästhetischen Theorie". Danach gäbe es wohl kaum ein derart versöhnliches Werk wie Thomas Bernhards ersten Roman "Frost". Denn seine beißende Kritik an einer falschen Idylle ist gnadenlos, die Zerstörung jeder Hoffnung auf Versöhnung von beispielloser Unerbittlichkeit. Die Kritik reagiert auf Thomas Bernhards Debütroman mit großer Verwirrung, aber auch mit Respekt. "Frost" wird Thomas Bernhards erster literarischer Erfolg. Zu Recht: Die Radikalität von "Frost" ist auch heute noch genauso verstörend und faszinierend wie bei seinem ersten Erscheinen vor fünfzig Jahren. Als "Szenerie einer Vorhölle, aus der man, wie in einem Albtraum, nicht mehr herausfindet", beschreibt der Schriftsteller, Entdecker und Förderer Thomas Bernhards, Carl Zuckmayer, die Atmosphäre totaler existenzieller Ausweglosigkeit in Bernhards Debüt "Frost". Hier ein Auszug aus seiner Rezension in der "Zeit" vom 21. Juni 1963:

    Ein Medizinstudent, der in der chirurgischen Abteilung eines Provinzspitals seine klinischen Semester absolviert (…), bekommt vom Assistenzarzt der Klinik den Auftrag, seinen Bruder, den "Kunstmaler" Strauch, zu beobachten, der allein, und offenbar im Zustand geistigen Verfalls, in einem weltverlassenen Bergdorf haust. (…) In den hemmungslosen, kataraktischen Monologen des Malers Strauch (…), auf endlosen Spaziergängen (…) durch die im Frost verharschten (…) Hohlwege – (…), aus diesen abstrusen (…) Gedankenfetzen und Simultanvisionen eines überempfindlichen, gleichsam der schützenden Schädeldecke beraubten Gehirns (…) geht (…) die Bannkraft des Wahnsinns (…) aus, der (…) dennoch "Methode hat" (…).

    Sechsundzwanzig Tage lang führt der Medizinstudent über seine Begegnungen mit dem Maler Strauch Tagebuch. Daraus und aus angeschlossenen sechs Briefen setzt sich der Roman zusammen. Am Ende steht die Meldung, dass der Maler in Weng spurlos vermisst wird.

    Thomas Bernhards Roman des allmählichen Verschwindens und der totalen Auflösung wirkt wie ein Faustschlag gegen die ganze Welt und sich selbst. Umso verblüffter ist man, wenn man die beiden aktuell aus Thomas Bernhards Nachlass veröffentlichten "Frost"-Vorstufen liest. Weniger überraschend sind die im Frühsommer 1962 entstandenen, schon sehr "Frost"-nahen "Argumente eines Winterspaziergängers" und namenlosen Doktors. Erstaunlich konventionell erzählt dagegen ist das auf Anfang des Jahres 1962 datierte Fragment "Leichtlebig". Leichtlebig ist ein unauffälliger, schlichter Eisenbahnbediensteter. Seine Berichte über die Arbeit im Stellwerk von Attnang sind von dienstbeflissener Korrektheit und geradezu gnadenloser Normalität. Zur Erholung schickt ihn die Gewerkschaft in ein Gasthaus bei Lambach. Dort schließt er sich einem aus Wien stammenden namenlosen Doktor, pensionierter Angestellter der Tabakregie, an. Einige bekannte Frost-Motive tauchen hier zwar schon auf, so der Gang hinunter in den Ort, um Zeitungen zu holen, die von Monologen des Älteren geprägten Spaziergänge bis zu Details wie dem Walzmuster im Gasthauszimmer. Aber bis zur Radikalität von "Frost" ist es noch ein sehr weiter Weg.

    Roman eröffnet mit drastischen Szenen
    "Frost" selbst dagegen ist eine wissenschaftliche Versuchsanordnung von unmenschlicher Grausamkeit und gleichzeitig eine Mission von verdeckter universeller Dimension. Und nicht zufällig ist der Erzähler hier ein Medizinstudent. Hören wir die erste Seite aus dem Roman "Frost":

    Eine Famulatur besteht nicht nur (…) aus Bauchfellaufschneiden, Lungenflügelzuklammern und Fußabsägen, sie besteht wirklich nicht nur aus Totenaugenzudrücken und aus Kinderherausziehen in die Welt. Eine Famulatur ist nicht nur das: Abgesägte ganze und halbe Beine und Arme über die Schulter in den Emailkübel werfen. (…) Aus dem Vorspiegeln falscher Tatsachen allein kann eine Famulatur auch nicht bestehen. (…) Nicht nur daraus, daß ich sage: "Es wird schon!" – wo nichts mehr wird. (…) Mein Auftrag, den Maler Strauch zu beobachten, zwingt mich, mich mit solchen außerfleischlichen Tatsachen und Möglichkeiten auseinanderzusetzen. Etwas Unerforschliches zu erforschen. (…) Und es kann ja sein, daß das Außerfleischliche, ich meine damit nicht die Seele, daß das, was außerfleischlich ist, ohne die Seele zu sein, von der ich ja nicht weiß, ob es sie gibt, von der ich aber erwarte, daß es sie gibt, daß diese jahrtausendealte Vermutung jahrtausendealte Wahrheit ist; es kann durchaus sein, daß das Außerfleischliche, nämlich das ohne die Zellen, das ist, woraus alles existiert, und nicht umgekehrt und nicht nur eines aus dem anderen.

    Drastischer lässt sich ein Roman wohl kaum eröffnen als mit dem Zerschneiden menschlicher Körperteile und dem Amputieren von Gliedmaßen. Die Brutalität der offensichtlich völlig emotionslos vorgenommenen medizinischen Operationen wirkt umso schockierender, "wo nichts mehr wird", wo sowieso keine Aussicht auf Besserung mehr besteht. Es entbehrt nicht der Ironie, dass ausgerechnet die zur Heilung des Menschen entwickelte Humanwissenschaft den Menschen hier zum seelenlosen Objekt degradiert. Wie im Schlachthaus werden menschliche Glieder aussortiert und entsorgt. Der Chirurg zerstückelt sein Fleisch wie Vieh. Auch wenn sein wiederholtes "Nicht nur" vorgibt, dass seine Arbeit sich nicht darin erschöpft. Wie Hohn erscheint es da, wenn der angehende Mediziner erst durch den Auftrag des Assistenten dazu gezwungen wird, sich auch mit "außerfleischlichen Tatsachen und Möglichkeiten" zu beschäftigen. Von Seele wagt er nicht zu sprechen. Denn dafür gibt es keinen wissenschaftlichen Beweis. Auch wenn er ihre Existenz genauso wenig ausschließen kann. Sein Auftrag zwingt den Famulanten zu einer für Wissenschaftler widersinnigen, ja unlösbaren Aufgabe: Nämlich das Unerforschliche zu erforschen; das heißt, etwas erkennen zu wollen, das für rationale Erkenntnis nicht ausgelegt ist. Um mit Maler Strauch zu sprechen: Die Seele schreite aus, aber der Verstand bleibe zurück. Mit seinem unberechenbaren "Dahinrudern des Geistes" ist Strauch der Inbegriff des Unkalkulierbaren, das sich jeder logischen Interpretation widersetzt:

    "Das Unverständliche ist ja das Leben. Nichts sonst. (…) Das Unbegreifliche ist das Wunder. (…)" Der Schritt in ein Wissen sei der Schritt weg vom Wunderbaren. "Die Forschung behauptet aber das Gegenteil. (…) Aber "Wissenschaft lügt, das ist ihr Prinzip, und sie zerstört und macht den Größenwahn möglich (…)." Der Fortschritt macht alles noch größenwahnsinniger, der Fortschritt in meinem Gehirn, wo der Fortschritt möglich ist, allein da, wo nichts fortschreitet, wissen Sie … (…). Ursache und Wirkung haben bei mir dieselbe Bedeutung. Wissenschaft, wissen Sie, damit habe ich gar nichts zu tun, dagegen habe ich mich zeitlebens gewehrt, meine Natur wäre ja missbraucht … ich bin natürlich im Nachteil, so ganz und gar in meinen sentimentalen Vorlieben für ziemlich deutliche Bilder meiner Vergangenheit. (…) Man hält sich an nichts fest und ist zwecklos … Ist es das?

    "Frost" ist eine Bankrotterklärung der Wissenschaft
    Sentimentalitäten, Möglichkeiten und Vermutungen, das heißt allem "Außerfleischlichem", ist mit Vernunft nicht beizukommen. Genau dieses unlösbare Dilemma macht den inneren Motor von "Frost" aus. Die ganze Tragödie und Komödie des Romans stellt die verzweifelte Suche nach etwas dar, das sich mit wissenschaftlichen Forschungsmethoden nicht erkennen lässt. "Frost" ist eine Bankrotterklärung der Wissenschaft, die zerstört, statt zu heilen, und eine fundamentale Kritik der herrschenden instrumentellen Vernunft, die nichts jenseits von "Ursache und Wirkung" zu erkennen imstande ist. Der Literaturwissenschaftler und Bernhard-Experte Hans Höller hat unter anderem in seinem Beitrag zur "Kritik der instrumentellen Vernunft in den Romanen Thomas Bernhards" bereits auf Parallelen zur "Dialektik der Aufklärung" hingewiesen. Seine These: Horkheimer und Adornos Kritik am Herrschaftscharakter der Vernunft findet sich in Bernhards Romanen, auch in "Frost", wieder. Im naturwissenschaftlich verabsolutierten Rationalitätsglauben richtet sich die Vernunft selbstzerstörerisch gegen sich selbst. Die Menschen werden zu Objekten, der Einzelne zugerichtet. Mit der Wissenschaft nehme zwar die Klarheit, aber mit dem Verlust von Menschlichkeit auch die Kälte zu, so Thomas Bernhard 1965 in seiner Rede zur Verleihung des Bremer Literaturpreises, den er für "Frost" erhielt:

    Das Leben ist nur noch Wissenschaft, Wissenschaft aus den Wissenschaften. (…) Wir kennen jetzt die Naturgesetze (…). Wir sind jetzt nicht mehr auf Vermutungen angewiesen. (…) Wir sind von der Klarheit, aus welcher unsere Welt plötzlich ist, unsere Wissenschaftswelt, erschrocken; wir frieren in dieser Klarheit; aber wir haben diese Klarheit haben wollen, heraufbeschworen (…). Mit der Klarheit nimmt die Kälte zu. Diese Klarheit und diese Kälte werden von jetzt an herrschen. Die Wissenschaft von der Natur wird uns eine höhere Klarheit und eine viel grimmigere Kälte sein, als wir uns vorstellen können. (…) Wir werden in Zukunft den Eindruck von einem immer klaren und immer kalten Tag haben.

    Die wissenschaftliche "objektivierende" Perspektive, die der Erzähler in "Frost" einnimmt, ist demnach in mehrfacher Hinsicht konstitutiv für das Romankonzept; die Rollenverschiebung vom einfachen, dienstbeflissenen Eisenbahnbeamten "Leichtlebig" zum Medizinstudenten als Agenten der Wissenschaft kein Zufall. Zwar sind beide Figuren mehr oder weniger naive Vertreter eines hierarchisch strukturierten Ordnungssystems. Aber nur der Naturwissenschaftler steht für die Verabsolutierung der Vernunftherrschaft im wissenschaftlichen Denken.

    Thomas Bernhard
    Der Schriftsteller Thomas Bernhard (Suhrkamp)
    Strauchs ganze Erscheinung ist ein Anachronismus
    Genauso signifikant ist der Rollenwechsel des von ihm beobachteten Objekts vom namenlosen Doktor zum Kunstmaler Strauch. Der Künstler stellt die klassische Gegenfigur zum Wissenschaftler dar. Sein irritierendes Auftreten und seine verstörenden Reden bringen die allgemeingültige Logik jedes "gesunden" Menschenverstandes buchstäblich "ins Straucheln".

    "Wie doch alles zerbröckelt ist, wie sich doch alles aufgelöst hat, wie sich doch alle Anhaltspunkte aufgelöst haben, wie jede Festigkeit sich verflüchtigt hat, wie nichts mehr da ist, wie doch gar nichts mehr da ist, sehen Sie, wie aus den Religionen (…) und aus den in die Länge gezogenen Lächerlichkeiten aller Gottesanschauungen nichts geworden ist, gar nichts, sehen Sie, wie der Glaube sowie der Unglaube nicht mehr da sind, wie die Wissenschaft, die heutige Wissenschaft, wie der Stein des Anstoßes, (…) alles (…) hinausgeblasen hat in die Luft, wie das alles jetzt Luft ist … Hören Sie: alles ist nur mehr Luft, alle Begriffe sind Luft, alle Anhaltspunkte sind Luft, alles ist nur mehr Luft …" Und er sagte: "Gefrorene Luft, alles ist nur mehr gefrorene Luft …"

    Strauchs ganze Erscheinung ist ein Anachronismus: Mit seinem großen schwarzen Hut und seinem Stock, mit dem er sich antreibt, "als wäre er Viehtreiber, Stock und Schlachtvieh in einem", wirkt er wie ein Mensch aus einer vergangenen Epoche. Auf der vergeblichen Suche nach dem vollkommenen Bild hat er, wie der Maler in Stifters "Nachkommenschaften", alle seine Bilder verbrannt. Strauch erinnert insgesamt an einen Künstler und Pädagogen Stifterscher Prägung. Er ist ein Idealist, der seinen Glauben verloren hat: nicht nur an die Kunst, sondern auch an das autonome Subjekt, an gesellschaftlichen Fortschritt und nicht zuletzt an Gott. Jedes Geheimnisses beraubt, wird Kunst für ihn zum sinnentleerten Kunststück, das Subjekt zur fremdbestimmten Marionette. Ohne Glauben und Utopie reduziert sich für Strauch die Natur auf schiere Verwesung, der Mensch erscheint als amoralisches, triebhaftes Wesen und das Leben als lebenslanges Sterben. In allem steckt letztendlich der Tod, dem mit Vernunft nicht beizukommen ist. Schließlich stellt nichts die Vernunft radikaler infrage als der irrationale Schrecken des Todes. Keine Stelle in "Frost" macht das deutlicher als die Passage "Im Armenhaus"; hier Ausschnitte daraus gelesen von Thomas Bernhard selbst.

    "Ah, das ist also der Abend im Armenhaus, der immer der gleiche Abend ist, seit hundert und fünfhundert Jahren ist es immer derselbe Abend. (…) Das ist dieser Abend, denke ich, den niemand zu ändern gedenkt und an den niemand denkt, das ist der Abend der von der Welt abgestoßenen Widerwärtigkeit. (…) Und da bemerke ich, daß ein Mann daliegt auf der Bank an der Wand, völlig unbeweglich, müssen Sie wissen, mit dem Severinskalender auf der Brust; der Mann liegt hinter der Oberin, und ich denke, der Mann ist ja tot, tatsächlich, der Mann ist ja tot, gebe ich mir zum besten, ich frage mich, der Mann muß ja tot sein, so schaut ein toter Mann aus, alt und tot, ich denke, wie kommt es, daß ich ihn die ganze Zeit nicht gesehen habe, diesen toten Mann nicht gesehen habe, ausgestreckt liegt er, mit harten, dünnen, wie der Ewigkeit ins Maul geschobenen Beinen. Aber ein toter Mann kann hier nicht liegen! Hier nicht! Nicht jetzt! In der Dunkelheit habe ich diesen Mann die ganze Zeit nicht bemerkt. (…) (Die Augen sehen nicht, lange Zeit, müssen sie wissen, sehen die Augen nicht, auf einmal sehen die Augen). Plötzlich sahen meine Augen den Mann, sahen meine Augen diesen Toten. Er lag wie ein Stück Holz da. Und da atmete das Stück Holz, das Holzstück atmete und blätterte in seinem Severinskalender. (…) Aber ich muß Ihnen ja noch das Wichtigste sagen: Da saß ich also und wollte mich gerade verabschieden, als mich ein furchtbarer Lärm augenblicklich aufspringen ließ. Der alte Mann war von der Bank heruntergefallen – und war tot. (…) Und er war schon, lange bevor ich hereinkam, tot gewesen. Das ist mit Sicherheit anzunehmen."

    In einer Welt ohne Gott verlieren Tod und Leben ihren Sinn
    Strauchs Todeskrankheit hat ihre Ursache genau in dieser schockhaften Erkenntnis: von Beginn an zum Sterben verurteilt zu sein. Sein Leiden besteht darin, dass er trotzdem nicht aufhören kann, nach einem Sinn zu suchen. Wie ein Amputierter, der immer wieder an seiner Prothese kratzt, befragt er weiter beharrlich die Philosophen, besucht den Pfarrer und die Kirche, um sie mit geballter Faust gegen das Allerheiligste wieder zu verlassen. In einer Welt ohne Gott, in der allein die Vernunft regiert, verliert der Tod und – konsequent zu Ende gedacht – auch das Leben seinen Sinn. Genau das ist es, was Strauch tut: Er denkt sich selbst konsequent zu Ende. Absurderweise sucht er dabei sein Heil genau in dem, was ihn krankmacht: der Vernunft. Denn Denken ist alles, was bleibt. Und Sprechen die letzte Selbstvergewisserung seiner Existenz. Dabei ist es die Sprache selbst, die seine Grenzen definiert. Doch am Ende bleibt nur noch die Sprache als ein auf sich selbst verweisendes Zeichensystem. Erkenntnis und Verständigung sind unmöglich. Dass Strauch dennoch immer weiter denken und sprechen muss, macht seine ganze Tragik und Komik aus. Jedes äußeren Bezugspunkts beraubt, praktizieren seine endlosen Monologe in der Wiederholung der Wiederholungen nichts als die unendliche Variation entleerter Sprach- und Denkformen.

    "Wie das Gehirn plötzlich nur mehr Maschine ist, wie es noch einmal alles exakt herunterhämmert, womit es Stunden und Tage, ja Wochen vorher geschlagen, malträtiert worden ist. Wie ein Wort eine ganze Lawine von folgerichtigen Wörtern, ganze Stadtteile von Wortkonstruktionen in die Bewegung zur Tiefe setzt und nicht die geringste Auslassung zuläßt, ja zulassen kann. Als zöge ein zwergenhafter Diktator, unsichtbar, wenigstens für den Menschen unnahbar, an einem ungeheuren Mechanismus, der alles und alles in Gang setzt, in fürchterlicher und verheerender Lärmentwicklung, gegen die man aber nicht vorgehen kann …"

    In den für Bernhard seit "Frost" typischen Sprachformeln - der maßlosen Übertreibung und Verabsolutierung, dem alogischen Einebnen von Gegensätzen und Aushebeln von Widersprüchen, dem nivellierenden Austauschen und Verschieben von Satzelementen - dekliniert er die Mathematik der Sprache bis zu ihrem eigenen Ende. Reduziert auf ihre grammatische Leerform aber verwandelt sich Sprache in Musik. Und weist damit am Schluss doch wieder über sich hinaus.

    Und hören Sie: Die Musik hat im richtigen Augenblick eingesetzt. Die Musik ist in den Unterschied meiner und aller Worte geordnet. Hören Sie, alle Instrumente vervollkommnen sie, die Tragödie, die Komödie, alle Instrumente, alle Stimmen, alle Oberstimmen, alle Unterstimmen, die Musik ist die einzige Beherrscherin des doppelten Todesbodens, die einzige Beherrscherin der doppelten Duldsamkeit … Die Musik, hören Sie… Die Sprache kommt auf die Musik zu, die Sprache hat keine Kraft mehr, die Musik zu hintergehen (…). Hören Sie: ich war in dieser Musik, ich bin in dieser Musik(…).

    Das Ergebnis ist eine Komposition
    Thomas Bernhard öffnet im anarchischen Spiel sprachlogischer Dekonstruktionen einen neuen Zwischenraum; dem Begriff der "différance" Jacques Derridas vergleichbar. Das Ergebnis ist eine Komposition, eine mehrstimmige Sprachpartitur für einen Chor sich überlagernder Stimmen. Es ist Thomas Bernhards musikalischer Rettungsversuch vor der Herrschaft instrumenteller Vernunft. Bernhards literarische Relativitätstheorie. Seine ureigene, nach "strengster Methode" entwickelte Wissenschaft, mit der Thomas Bernhard die Welt der Literatur revolutioniert. Sein eigenes Verfahren diktiert Bernhard zum Schluss von "Frost" dem Famulanten in die Feder:

    Ich habe, glaube ich, meine wissenschaftliche - nicht medizinisch-wissenschaftliche - Erforschungsmethode gefunden, einen Weg der Entdeckungen, einen solchen der nebeneinander-ineinander-untereinander verlaufenden, miteinander korrespondierenden Anschauungsmöglichkeiten (…).

    Manchmal ist es gerade das, was fehlt, das einem die Augen öffnet. In den Fragmenten "Argumente eines Winterspaziergängers" ist es das musikalische System "miteinander korrespondierenden Anschauungsmöglichkeiten", das fehlt. Denn die von Thomas Bernhard in seinem Roman "Frost" zum ersten Mal perfektionierte Methode lebt von der doppelten Negation. Einer musikalischen Dekonstruktion nur scheinbar gegensätzlicher Positionen, wie sie erst in "Frost" im Maler und Wissenschaftler greifbar werden. Genau deshalb lohnt es sich, in die "Argumente eines Winterspaziergängers" hineinzusehen: Um "Frost" mit dem Blick auf das, was in den Vorstufen fehlt, noch einmal neu zu lesen.


    Buch:
    Thomas Bernhard: Argumente eines Winterspaziergängers. Zwei Fragmente zu Frost.
    Suhrkamp Verlag 2013. 146 Seiten, 18,95 EUR.

    Hörbuch:
    Thomas Bernhard: Ereignisse und andere Prosa.
    Gelesen von Thomas Bernhard. 2 Audio-CDs, Laufzeit: 150 Minuten, Der Hörverlag 2003 (Originalverlag: Suhrkamp Verlag) 19,95 Euro.