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Berührende Studie über das Menschliche

"Alex Capus hat mit "Himmelsstürmer" eine berührende Studie über das Menschliche vorgelegt. Wozu Menschen in der Lage sind, welche Energie sie mobilisieren können, um ihre Träume zu verwirklichen, wie viel Tragik in einem Lebensverlauf stecken kann, all dies zeigt Capus von den Grenzen her", schreibt Rezensent Matthias Eckoldt.

Rezensiert von Matthias Eckoldt | 02.01.2009
    Die Idee zum Buch "Himmelsstürmer" kam dem Schriftsteller Alex Capus auf der Sonnenterrasse eines Restaurants in Olten mit Blick auf den Fluss Aare und die Schweizer Alpen.

    Wenn ich das Treiben auf meinem Fluss betrachte, kommt es mir vor, als ob hier jeder den es gegeben hat, irgendwann vorbeigekommen sei und jeder mit jedem bekannt war oder zumindest jeder einen kannte, der einen kannte, der mit dem anderen zu tun hatte.

    Alex Capus porträtiert in "Himmelsstürmer" zwölf Menschen, die möglicherweise tatsächlich einmal auf "seinem" Fluss gereist sind. Es sind außergewöhnliche Persönlichkeiten, die ein loses Band durch zweihundert Jahre Geschichte knüpfen. Bei der Lektüre des Buches fällt jedoch auf, dass die These, alles und alle würden irgendwie miteinander zusammenhängen, rasch auf der Strecke bleibt. Das einzige, was die zwölf "Himmelsstürmer" gemeinsam haben, ist der Pass. Capus porträtiert Schweizer Landsleute, die erfahren wollten, was sich hinter den gewaltigen Bergmassiven ihrer Heimat tut und auszogen, ihr Glück zu machen. Historische Persönlichkeiten wie Jean-Paul Marat und Madame Tussaud, die übrigens von dem radikalen Jakobiner eine Totenmaske anfertigte, stehen neben unbekannten oder vergessenen Eidgenossen wie Hans Jakob Meyer. Freiheitsliebe und Abenteuerlust führten den Studienabbrecher und notorischen Aufschneider über mehrere Etappen schließlich nach Missolunghi, wo er sich in den zwanziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts den Kämpfern für die Unabhängigkeit Griechenlands anschloss. Meyer machte sich rasch als Arzt einen Namen, obwohl er nicht approbiert war, führte eine Apotheke und wurde zudem noch Chefredakteur einer kämpferischen Wochenzeitung für Freiheit und Demokratie, der "Ellinika Chronica". Als Meyer in seinen Leitartikeln hart gegen die Habsburger schoss, fühlte sich der Finanzier der Zeitung – der ebenfalls zur Revolution nach Griechenland geeilte Lord Byron – in seiner adligen Ehre getroffen. Dem vorprogrammierten Konflikt zwischen Besitzer und Chefredakteur des Blattes kam eine schwere Erkrankung des vermögenden Schriftstellers zuvor. Lord Byron hatte sich Malaria geholt, und vier Ärzte bemühten sich, mit Medizin aus Meyers Apotheke, die Krankheit zu heilen. Doch es gelang ihnen nicht.

    Lord Byron ist in meinen Armen gestorben.

    ... triumphierte Meyer in seiner Zeitung.

    Byron ist tot! Schadet sein Tod der Sache Griechenlands? Nein!

    Meyer führte die Zeitung noch zwei Jahre weiter, bis 1826 eine türkische Granate die Druckerpresse vernichtete. Nach zwölfmonatiger Belagerung nahmen die Türken das Städtchen ein und metzelten die Bevölkerung nieder.

    Der schottische Historiker George Finlay berichtete, Meyer habe es mit dem Kind auf dem Arm und der Gattin an seiner Seite über die Ebene bis zum Fuß der Hügel geschafft, wo er aber getötet wurde, während das Kind und die Frau gefangen genommen wurden.

    Himmelsstürmer im Wortsinn kommen gleich drei an der Zahl im Buch von Alex Capus vor: Da ist Samuel Johann Pauli, der 1815 das erste frei lenkbare Luftschiff baute. Eduard Spelterini setzte auf den Fesselballon, mit dem er als erster Mensch die Alpen auf dem Luftweg überquerte, während sich Fritz Zwicky Mitte des letzten Jahrhunderts für den Weltraum interessierte. Im Auftrag des Pentagon bereiste der Schweizer Physikprofessor von der Pasadena University nach Ende des Zweiten Weltkriegs Deutschland und brachte die Raketenspezialisten um Wernher von Braun inklusive einhundert deutschen V2 mit. In eine der Wunderwaffen wollte Zwicky sechs Gewehrgranaten einbauen, die neunzig Sekunden nach dem Start Stahlkugeln abschießen sollten. Ziel dieser Doppelzündung war, dass ein von Menschenhand geschaffenes Objekt das Schwerefeld der Erde verließ. Nach einem gescheiterten Anlauf musste Zwicky resigniert feststellen:

    Die Überwindung der Bürokratie ist allerdings schwerer als diejenige der Gravitation der Erde!

    Zwicky ließ hernach seiner Phantasie für Himmelsstürmereien freien Lauf:

    Bald kam er auf die Idee, eine Raketenbombe auf den Jupiter abzuschießen und diesen so aus seiner Umlaufbahn zu werfen. Der ganze Planet oder große Stücke davon könnte damit auf eine Bahn um die Sonne gebracht werden, die etwa mit derjenigen der Erde vergleichbar wäre. Danach könnte der Planet bewohnbar gemacht werden, die Überbevölkerung der Erde wäre erledigt.

    Erst als die Russen 1957 ihren Sputnik eins in den Orbit schossen, kam man auf Zwicky zurück. In 86 Kilometern Höhe zündete nach Anweisung des Physikers schließlich eine Art High-Tech-Blasrohr, das ein Stahlkügelchen mit fünfzehn Kilometern pro Sekunde ins All feuerte.

    Wohin das Kügelchen flog, wird man nie wissen. Am wahrscheinlichsten ist, dass es nach ein paar Jahren Flug ins Gravitationsfeld der Sonne geriet und verdampfte. Nicht auszuschließen ist aber, dass es an allen Monden und Planeten vorbei hinaus in den interstellaren Raum schoss und seine Reise noch Jahrmillionen fortsetzen wird.

    So endet das Buch von Alex Capus, der mit "Himmelsstürmer" eine berührende Studie über das Menschliche vorgelegt hat. Wozu Menschen in der Lage sind, welche Energie sie mobilisieren können, um ihre Träume zu verwirklichen, wie viel Tragik in einem Lebensverlauf stecken kann, all dies zeigt Capus von den Grenzen her. In seinem leichten, unaufdringlichen Stil behalten alle von ihm Porträtierten ihre Würde. Niemand, und seien seine Visionen noch so versponnen oder seine Absichten noch so unredlich, wird vom Autor lächerlich gemacht – so einladend das auch bei manchen Schicksalen gewesen sein mochte. Allerdings machten nicht alle Porträtierten ihr Glück, so dass es manchem Leser geboten scheinen mag, lieber daheim zu bleiben – beispielsweise mit Blick auf den Fluss Aare und die Schweizer Alpen.