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Beschleunigte Evolution, Teil 1

Auerochsen müssen beeindruckende Tiere gewesen sein. Riesige wilde Bullen, die sich kaum bändigen ließen. Wie kamen unsere Vorfahren aber zu Beginn der Jungsteinzeit auf die Idee, diese Tiere zu zähmen, zu züchten und schließlich zu domestizieren?

Von Michael Stang | 12.04.2009
    "Die wussten sicherlich nicht, was sie taten, die hatten andere Ziele, näher liegende Ziele: Die wollten zähmen, die wollten kontrollieren sicherlich. Und völlig unbeabsichtigt dabei ist das Domestikationsprodukt entstanden."

    "Als erstes ziehe ich ein paar Handschuhe an, leg dann mit den Handschuhen den Mundschutz an."

    Vor rund 10.000 Jahren strichen Jäger und Sammler durch die Wälder Europas. Sie folgten der Fährte wilder Tiere, aßen, was die Natur gerade hergab. Doch dann brach eine neue Zeit an. Die Nomaden der Steinzeit ließen sich nieder. Bauten Häuser und Siedlungen. Vieles sollte sich in der Folge ändern.

    "Und hier ziehen wir jetzt einen Ganzkörperschutz an, muss man beim Anlegen drauf achten, dass wir jetzt keine äußerlichen Partien berühren mit unseren Beinen oder mit unseren Händen."

    Das Institut für Anthropologie der Universität Mainz. Joachim Burger ist mittlerweile vollständig vermummt. Aus einer Gefriertruhe hebt er einen gewaltigen Knochen. Es ist ein Oberschenkelknochen. Ausgegraben in einer jungsteinzeitlichen Siedlung in Ungarn, rund 7000 Jahre alt. Stammt er noch von einem wilden Auerochsen oder schon von einem frühen Hausrind?

    "Nachdem der Knochen jetzt UV-bestrahlt wurde, wird er gesägt."

    Das ultraviolette Licht soll sämtliche Verunreinigungen zerstören. Nur Erbmaterial aus der Vergangenheit interessiert. Joachim Burger sägt aus dem Knochen ein würfelgroßes Stück und zermahlt es anschließend in einer Mineralogen-Mühle.

    "So, das Pulver wird jetzt versetzt mit einer Lösung, und dadurch isolieren wir die DNA aus dem Knochen."

    Später wird Joachim Burger das Erbmaterial analysieren: Ein weiteres Puzzlestück in der langen Geschichte der Haustiere. Auerochsen waren einst die mächtigsten Landtiere Europas. Drei Meter lang, eine Schulterhöhe von fast zwei Metern, eine Tonne schwer. Ungetüme, die sich vermutlich nur unter Lebensgefahr haben einfangen lassen. Doch irgendwann müssen sich die Menschen entschieden haben, die gewaltigen Tiere nicht sofort zu töten. Sie nahmen sie mit nach Hause und begannen sie zu zähmen. Zum ersten Mal griffen Menschen nachhaltig in das Wirken der Natur ein.

    Wie viele alte Knochen Joachim Burger schon untersucht hat, kann er so genau gar nicht sagen. Mehr als 100 waren es sicher. Aus ganz Europa holten die Mainzer Paläontologen Knochen in ihr Institut. Sie zersägten sie, extrahierten das Erbmaterial und verglichen es mit heute lebenden Tieren. Eine Frage treibt sie um: Was unterscheidet ein Haustier von seinen wilden Vorfahren? Klar war bislang nur, dass sich die ersten Wildrinder mit der Zeit in der Obhut des Menschen fortpflanzten und veränderten. Sie wurden kleiner und dadurch leichter zu handhaben. Tarnfärbung spielte auf einmal keine Rolle mehr. Dadurch konnten sich auch Tiere fortpflanzen, die in der freien Wildbahn vermutlich kaum überlebt hätten. Zudem wurden unruhige Tiere schneller geschlachtet als umgängliche. Mehr und mehr passten sich die einstigen Wildtiere an die neue, künstliche Umwelt an. Burger:

    "Wenn sie auf eine Herde von Rehen zugehen, verschwinden die gleichzeitig im Wald. Wenn sie auf eine Herde von Kühen zugehen, geht in der Regel nur die eine, die vor ihnen liegt, weg und die anderen interessiert das weniger."

    Die heutigen Rinder haben eine lange Zeit der Veränderungen hinter sich. Die Frage ist, ob und wie sich diese genetisch nachweisen lassen. Ein Haustier-Gen gibt es nicht. Die heute ausgestorbenen Auerochsen unterscheiden sich dennoch deutlich von ihren domestizierten Nachfahren. Joachim Burger konzentriert sich auf einen ganz speziellen Ausschnitt aus dem Rindererbgut, die so genannte mitochondriale DNA. Dieses Erbmolekül ist besonders gut eingekapselt und in alten Knochen oft gut erhalten. Hier beginnt die Spurensuche. Burger:

    "Über die Paläogenetik, das heißt die Analyse alter DNA können wir Hinweise bekommen auf den großgeographischen Ursprung der heutigen domestizierten Rinder."

    Rinder aus Deutschland, Frankreich, der Slowakei, Slowenien und Ungarn bis hinunter nach Thrakien haben die Mainzer Forscher analysiert. Dabei sahen sie, dass die Vielfalt der Rinder im Nahen Osten im Gegensatz zu Europa deutlich größer war. Und: Im Nahen Osten konnten sie die Spur der Domestikation bis in die Jungsteinzeit zurückverfolgen. Joachim Burger und seine Kollegen kamen zu dem Schluss, dass die europäischen Rinder allesamt aus einem Bereich stammen, der als Fruchtbarer Halbmond bezeichnet wird - ein niederschlagsreiches Gebiet im Norden der arabischen Halbinsel, das die Trockengebiete Syriens, Saudi-Arabiens und des Iraks halbkreisförmig einschließt. Hier entstand vermutlich das erste domestizierte Hausrind. Dort begann seine Geschichte. Der Übergang vom wilden Auerochsen zum domestizierten Rind war jedoch lang. Joachim Burger:

    "Im Spiegel unserer Erkenntnisse, die man am Knochen selber ablesen kann, müssen wir heute sagen, dass eine Domestikation eines großen Tieres wie des Rindes eher 1000 Jahre gedauert hat als zehn, 20 Jahre."

    Nachdem die Rinder einmal erfolgreich domestiziert waren, wollten auch andere Bauern einen zuverlässigen, zahmen Fleischlieferanten haben. Erste professionelle Rinderzüchtungen entstanden.

    "Interessanterweise müssen wir auch eine Form des professionellen Handels annehmen. Vor etwa 7000 Jahren gibt es eine relativ schnelle kulturelle Ausbreitung des so genannten Neolithikums, also der ersten sesshaften Bauern über ganz Europa. Und die schaffen es innerhalb von zwei Jahrhunderten ganz Mitteleuropa zu besetzen. Und das ist eine Fläche von einer Million Quadratkilometern und in diesem Raum hat jeder zweite Bauernhof relativ zügig, ganz am Anfang schon, direkt sein Hausrind."

    Obwohl die Rinder schon mehr und mehr auch als Arbeitstiere genutzt wurden, war den Menschen damals eine Ressource noch völlig unbekannt, sagt Joachim Burger.

    "Also, man kann nicht davon ausgehen, dass die ersten Kühe schon Milchlieferanten waren."

    Die Milchkuh sollte erst später wichtig werden. Die Erklärung ist einfach. Menschen konnten ursprünglich im Erwachsenenalter Frischmilch nicht vertragen. Erst rund 2000 Jahre nach der Domestikation des Rindes hat sich plötzlich irgendwo im Mittleren Osten oder in Südosteuropa die Milchzuckerverträglichkeit entwickelt. Menschen, die Frischmilch verdauen konnten, waren im Vorteil. Die neue Nahrungsquelle enthielt Calcium, Vitamin D, Proteine und Fette. Und sie war jederzeit und unabhängig von Ernteerträgen verfügbar. Joachim Burger:

    "Ja, es muss einfach auch ganz viel zufällig zusammen kommen. Also, es muss diese Mutation in einer Population zufällig schon vorhanden sein und man muss überhaupt auf die Idee kommen, diese Kuh noch zu melken. Melkfähige Kühe sind keine Selbstverständlichkeit."

    Von da an wurden Kühe nicht mehr nur auf ihre Fleischleistung und Arbeitskraft hin gezüchtet, sondern auch auf ihre Milchleistung. Dem Siegeszug des domestizierten Rindes stand nichts mehr im Weg. Vor 5000 Jahren grasten überall in Europa zahme Hausrinder. Sie standen auf eigens angelegten Weideflächen und verdrängten zunehmend ihre wilden Vorfahren. Mit der Zähmung der Rinder hatte der Mensch sich über ein Evolutionsprinzip hinweggesetzt: er ersetzte die natürliche Selektion durch eine künstliche. Mit der Domestikation des Rindes gelang ihm nachweislich erstmals, was noch oft folgen sollte. Der Auerochse als Urvater der domestizierten Rinder wurde ausgerottet. Wie es dazu kam, ist nicht geklärt. Fest steht nur, dass die wilden Auerochsen nicht weiter in Rinderpopulationen eingekreuzt und immer stärker dezimiert wurden. 1620 lebte noch eine einzige Kuh. Sie starb 1627 - ironischerweise - in der Obhut von Menschen. Projekte einer Rückkreuzung schlugen allesamt fehl.

    Das Rind war nicht das erste Haustier des Menschen. Das war der Hund. Die Anfänge der Hundehaltung datieren Archäozoologen auf das Ende des letzten Eiszeitalters vor etwa 14.000 Jahren. Vermutlich haben Menschen damals Wolfswelpen mit in ihr Lager genommen und sie aufgezogen. Nach und nach entwickelten sie sich zu treuen Begleitern des Menschen. Im Gegensatz zu Rindern wurden Hunde mehrfach domestiziert und sie veränderten sich vergleichsweise langsam: Hunde wurden nicht geschlachtet. Der Selektionsdruck – der Motor der Evolution – war gering. Doch das sei unter Haustieren eher die Ausnahme, sagt Norbert Benecke vom deutschen Archäologischen Institut in Berlin. Tiere in der Obhut des Menschen verändern ihr Äußeres in der Regel sehr schnell.

    "Die Zunahme der Variabilität. Das ist ein wichtiges Kriterium, um an einem Fundmaterial entscheiden zu können: Handelt es sich noch um Wildtiere oder handelt es sich schon um Haustiere?"

    Wenn ein Wildtier zum Haustier wird, gehen damit immer wieder bestimmte Veränderungen einher. Das typische Tarnkleid verschwindet, auch die Körpergröße ändert sich und die Zähne verlieren generell an Größe und Anzahl. Das Gehirn wird kleiner, das zentrale Nervensystem stellt sich völlig um. Beim Nachweis einer frühen Haustierhaltung mit archäologischen Methoden liefern auch das Alter der Tiere und die Geschlechterverhältnisse wichtige Hinweise. Zur Züchtung braucht man vor allem weibliche Tiere. Dadurch ist eine hohe Anzahl von Kühen, Stuten, Mutterschafen, Sauen und Zicken in archäologischen Fundstätten auch ein Indiz für den Beginn der Domestikation.

    "Also das Schaf ist zusammen mit der Ziege eines der so genannten ältesten Wirtschaftshaustiere und die Domestikation sehen wir im Bereich des Fruchtbaren Halbmondes, also in Vorderasien etwa in der zweiten Hälfte des 9. Jahrtausends vor Christus."

    Norbert Benecke hat in den vergangenen 20 Jahren systematisch die Geschichte des Menschen und seiner Haustiere in Vorderasien und Europa erforscht. An Tierknochen aus menschlichen Siedlungen konnte er die ersten Umformungen nachweisen. So entdeckte er etwa eine veränderte Behornung bei Ziegen. Die kräftigen Hörner männlicher Wildziegen wurden in der Obhut des Menschen kleiner und verdrehten sich. Das gleiche galt für Schafe, die wie die Ziegen in den ersten Jahrtausenden ihrer Haltung lediglich Fleischlieferanten waren. Später kam eine neue Errungenschaft hinzu. Sie machte das Schaf als Haustier noch wertvoller: Das Haarkleid wurde zum Wollvlies. Benecke:

    "Mit Wollschafen rechnen wir nicht vor dem 4. Jahrtausend. Und der Beginn der Schafdomestikation ist ja irgendwo im späten 9. Jahrtausend. Also da ist doch eine erhebliche Zeit vergangen, bevor man sich diesem Merkmal sozusagen zugewandt hat und hier durch gezielte Paarung von Tieren auch bewusst eingegriffen hat, um ein entsprechendes Wollvlies zu entwickeln."

    Im Laufe der Zeit hielten die jungsteinzeitlichen Bauern immer mehr Tiere in Haus und Hof. Zunehmend domestizierten sie auch Tiere, die keine Fleischlieferanten waren, etwa das Pferd. Benecke:

    "Beim Pferd ist ja die Situation so, dass diese Tierdomestikation von Menschen erfolgte, die bereits eine längere Erfahrung im Umgang mit Haustieren hatten. Die kannten Schafe, Ziegen, hielten Schweine und Rinder, das heißt, die waren eigentlich mit dem Umgang mit Haustieren vertraut und bei der Domestikation denke ich schon, dass hier ganz gezielt auch auf den potentiellen, späteren Nutzen hin domestiziert worden ist."

    Die älteste Pferdezucht wurde erst vor kurzem entdeckt. Vor 5.500 Jahren wurden im Norden Kasachstans bereits Pferde in großem Stil zielgerichtet gekreuzt und sogar gemolken. Die zeitgleiche Domestikation des Esels hatte vermutlich gezeigt, dass Pferde als Arbeitstiere mehr brachten denn als Fleischlieferanten. Zuerst waren sie nur Pack-, später auch Zugtiere. Und alsbald sollten sie ihre Bestimmung als Reitpferde erfüllen. Dabei fällt auf: Selbst heute lebende Pferde weisen noch immer nicht die für domestizierte Tiere typische Gehirnverkleinerung auf, sagt der Mainzer Paläogenetiker Joachim Burger.

    "Insofern ist die Frage, ob man das Pferd überhaupt als voll domestizierte Form sehen kann. Das ist dann Definitionssache. Man hat sicherlich mit dem Pferd genau das erreicht, was man wollte, aber man ist eben nicht so weit gegangen, diese Wildmerkmale komplett oder nahezu komplett auszulöschen wie etwa beim Rind."

    Reitpferde unterscheiden sich von ihren wilden Vorfahren nur in wenigen Merkmalen – je nach Verwendungszweck. Ein Kaltblut hat sich weiter von seinen wilden Verwandten entfernt als ein Rennpferd. Die Geschichte der Pferdedomestikation sei sehr vielschichtig. Von einem Ursprung des Hauspferdes könne man daher auch nicht sprechen, da es ihn per definitionem gar nicht gebe. Burger:

    "Ja, es scheint tatsächlich so, dass beim Pferd immer wieder Wildlinien eingekreuzt worden sind. Meine Idee dazu ist, dass letztendlich beim Pferd ein voll domestizierter Status gar nicht erstrebenswert war, sondern gewisse Wildmerkmale ja immer noch – wie Fluchtverhalten, schnelles Laufen – gewünscht waren. Damit geht eben auch einiges verloren, was wir eben von der Kuh erwarten, das wollen wir beim Pferd nicht, die sollen eben nicht dumm auf der Weide stehen und völlig schrecklos sein."

    Joachim Burger geht davon aus, dass es beim Pferd zahlreiche Domestikationsversuche gegeben hat. Und sicher führten längst nicht alle zum Ziel, sagt auch der Berliner Archäozoologe Norbert Benecke.

    "Man muss sich ja auch vorstellen, dass Domestikation sicherlich mehrfach versucht worden ist und vielleicht auch mal fehlgeschlagen ist, aus ganz unterschiedlichen Gründen, sei es, dass Krankheiten aufgetreten sind, die Herde plötzlich komplett ausgelöscht, musste man wieder neu beginnen. Man darf sich das ja nicht so vorstellen, dass man einmal einige Wildtiere als Jungtiere eingefangen hat und dann begann sozusagen die Haustierbildung, sondern da gab es auch Misserfolge, man musste neu ansetzen."

    Im März 1979 startete in Rheinland-Pfalz ein bis heute einzigartiges Projekt. Der Zoologe Helmut Hemmer von der Universität Mainz wollte zeigen, dass man mit dem heute zur Verfügung stehenden Wissen eine Tierart binnen eines Menschenlebens domestizieren kann.

    "Ich suchte mir eine Tierart, die zu diesem Zeitpunkt für Interesse für die Landwirtschaft war. Das war zu diesem Zeitpunkt der Damhirsch, weil dort gerade in den 70er Jahren die landwirtschaftliche Wildhaltung immensen Aufschwung genommen hat."

    Das Projekt Neudomestikation nahm seinen Lauf. 16 Tiere machten den Anfang. In der Lehr- und Versuchsanstalt Neumühle in der Westpfalz und später auch im Rheinland auf Haus Riswick in Kleve sollte die domestizierte Damhirschrasse Neumühle-Riswicker entstehen. Nach einem Jahr kamen die ersten Jungtiere zur Welt. Hemmer:
    "Und dann begann natürlich mit diesen Jungtieren die ganz arbeitsintensive Selektion und ein sehr sorgfältiges Kreuzungsgeschehen, das Zusammenbringen also von Merkmalen, die vorher nicht verbunden waren. Sonst hätten wir nie Erfolg haben können."

    Neue Tiere wurden hinzugekauft, die Helmut Hemmer für seine Kreuzungen benötigte. Bei der Auswahl ging er nach einem festen Züchtungsplan vor.
    "Wir haben auf Verhalten selektiert und zwar spielte da eine Rolle die Motorik, das soziale Verhalten, die Ruhe oder die Unruhe, die Schreckhaftigkeit, eine ganze Menge von Dingen. Wir haben selektiert auf Fellfarbe, weil ich ganz bestimmte Mutanten der Fellfärbung zusammenbekommen wollte und wir haben selektiert auf Hirngröße."

    Das Zuchtziel war klar. Der domestizierte Damhirsch musste seine natürliche Schreckhaftigkeit verlieren und die Nähe des Menschen nicht als störend empfinden. Zugleich sollte die Fleischleistung erhöht werden. Durch Probeschlachtungen konnte Helmut Hemmer feststellen, ob bereits einige Tiere ein verkleinertes Gehirn hatten - eines der entscheidenden Merkmale beim Übergang vom Wildtier zum Nutztier. Schon nach fünf Jahren hatte der Mainzer Zoologe die erste Etappe geschafft. Der Grundtyp der neuen Rasse war kreiert. Nach der ersten Dekade begann er damit, die Tiere in Form, Farbe, Verhalten und Größe zu vereinheitlichen. Und schon nach 20 Jahren intensiver Züchtungsarbeit war das Ziel erreicht: Der Damhirsch war domestiziert und wurde 1997 schließlich als neue Rasse offiziell anerkannt. Ihr Name: Neumühle-Riswicker. Seit den Anfängen der Landwirtschaft vor mehr als 10.000 Jahren hatte sich damit erstmals wieder eine landwirtschaftliche Nutztierrasse etabliert. Obwohl Helmut Hemmer nie an seinem Vorhaben gezweifelt hatte - mit solch einem schnellen Erfolg hatte er nicht gerechnet.

    "So rasch nicht, ich hatte es erhofft."

    Die Vorteile der neuen Nutztierrasse liegen auf der Hand. Da die Neumühle-Riswicker an Menschen gewöhnt sind, lassen sie sich leichter handhaben und sogar mit Hütehunden eintreiben. Eine für wilde Damhirsche oder Rehe völlig abwegige Vorstellung. Auch das Schlachten ist einfacher. Wilde Damhirsche können nur mit einem Gewehr aus der Distanz erlegt werden. Das domestizierte Damwild hingegen lässt sich mit der Hand fangen und mit einem Bolzenschussgerät betäuben. Und es rechnet sich: Die Tiere werden schneller erwachsen und bringen 20 Prozent mehr Schlachtgewicht auf die Wage als ihre wilden Artgenossen. Heute grasen über 1000 domestizierte Damhirsche auf Wiesen in Deutschland. Gleichmäßig braune Tiere. Im Gegensatz zum Europäischen Damwild fehlt ihnen der Schwarzweißkontrast um den Schwanz herum. Obschon sie kaum noch Ähnlichkeiten mit ihren wilden Vorfahren haben, sah Helmut Hemmer sie schon zu Beginn des Projekts vor seinem geistigen Auge.

    "Exakt so wie es geworden ist. Das war das Ziel. Das ist im Grunde, wie bei einem Künstler, der mit einem Material arbeitet und vor Augen hat, was daraus werden soll. Ich hatte vor Augen, was aus dem Material des Lebens werden soll. Und ich habe eben nun mit Leben, mit lebenden Wesen gearbeitet und nicht mit einem Steinblock und nicht mit einer Leinwand, aber das hat irgendwelche Ähnlichkeiten."

    Evolution im Zeitraffer. Nicht nur die Tiere des Menschen veränderten sich radikal in Größe und Gestalt, sondern auch jene, die die Menschen weiterhin jagten. Da Jäger vor allem auf großkalibrige Tiere zielen, hatten plötzlich auch kleinere Exemplare eine Chance. Die Körpergröße nahm ab, gleichzeitig streiften immer weniger von ihnen durch die Wälder. – Manche Art starb aus. Der Auerochse war nur der Anfang. Riesige Weideflächen beschneiden heute den natürlichen Lebensraum wilder Tiere. Solch tiefe Eingriffe sind ein ideales Rezept im Sinne der beschleunigten Evolution.

    Schleswig-Holstein, 50 Kilometer südlich von Kiel.

    "Wir sind auf dem Versuchsbetrieb Karkendamm und wir befinden uns gerade im Abkalbebereich."

    Georg Thaller vom Institut für Tierzucht und Tierhaltung der Christian-Albrechts-Universität führt über die Zuchtstation. Über seine Schuhe hat er Plastiktüten gezogen. Reine Vorsichtsmaßnahme, erklärt er, damit keine Erreger von den Sohlen in den Stall kommen. Sie könnten den Hochleistungsrindern Schaden zufügen.

    "Insgesamt haben wir 130 Kühe, vor allem erstlaktierende Kühe, weil wir im Rahmen einer Bullenmutterbeprüfung in Zusammenarbeit mit der Wirtschaft hier Untersuchungen durchführen."

    Die Färsen der Red-Holstein-Rasse werden aus der Quarantäne hier angeliefert, angewöhnt und kalben etwa im Alter von 14 bis 16 Monaten ab. Thaller:

    "Wir haben hier einen Laufstall mit Hochliegeboxen…eingestreut und hier doch eine sehr komfortable Unterbringung der Tiere."

    Die Stallungen sind gut gelüftet. Das muss auch so sein, sagt Georg Thaller. Die Hochleistungstiere produzieren durch ihren enorm hohen Stoffwechsel viel Wärme, die müssen sie abgeben. In einem herkömmlichen Stall würden die Milchkühe schnell krank. Auf der anderen Seite des Hofes stehen zehn kleine halbrunde Plastikbauten.

    "Also, wir befinden uns hier im Kälberbereich beziehungsweise außen, und zwar was wir hier vor uns stehen sehen, sind die so genannten Kälber-Iglus. Die kleinen Kälber werden unmittelbar nach der Geburt ins Freie gebracht. Wichtig ist, dass sie trocken aufgestallt sind und entsprechend auch vor Wind und Wetter geschützt werden, die Kälte macht den kleinen Tieren überhaupt nichts aus, sie fühlen sich hier pudelwohl, sind an der frischen Luft und sämtliche Erkrankungen, die man in der Stallhaltung hin und wieder bei den Kälbern festgestellt hat sind hier nahezu irrelevant."

    Der Druck aus der Wirtschaft steigt: Immer hochwertigere und immer billigere Lebensmittel sollen in den Regalen der Supermärkte stehen, das Institut für Tierzucht und Tierhaltung in Kiel arbeitet daran, die Leistungsmerkmale der Kühe immer weiter zu optimieren. Neben der Milchmenge bestimmen vor allem die Milchinhaltsstoffe die aktuellen Zuchtstrategien. Thaller:

    "Während in der Vergangenheit der Fettgehalt der Milch noch eine relativ höhere Bedeutung hatte, nimmt mittlerweile der Eiweißgehalt doch die dominierende Rolle ein."

    Um solche Wünsche realisieren zu können, forschen Georg Thaller und seine Kieler Kollegen an Optimierungsstrategien. Marktführer in Deutschland ist die Rasse Deutsche Holstein. Die Leistungskurve der Tiere weist stetig nach oben. Eine Spitzenkuh produziert derzeit jedes Jahr rund 12.000 Liter Milch. Das Tier sollte eine entsprechende Nutzungsdauer von mindestens vier bis fünf Jahren haben und eine vorgegeben Qualität der Milchinhaltsstoffe vorweisen. Gewaltige Anforderungen…

    "Es gibt durchaus Spitzentiere, die im Bereich von 15.000 Kilogramm sind und es lässt sich derzeit aus den aktuellen Trends kein Plateau ableiten, wo man sagt ,OK, darüber kann es nicht hinausgehen.‘ Man spricht da in der Literatur oder in einzelnen Veröffentlichungen, dass es Tiere in den USA gibt, die 20.000 Kilogramm Milch pro Jahr produzieren. Und wie gesagt, aus der erkenntlichen Leistungssteigerung, die etwa 100 Kilogramm pro Jahr beträgt – und das mittlerweile seit 30 Jahren – haben wir nach wie vor einen linearen Trend."

    Mit der zunehmenden Milchproduktion steigt die Belastung des gesamten Rinderorganismus. Die Tiere müssen ihren Stoffwechsel anpassen: Das Herz muss größer werden und immer mehr Blut durch den Hochleistungskörper pumpen. Auch bei der Fleischproduktion sind noch keine Leistungsgrenzen in Sicht: Das durchschnittliche Rind wird jedes Jahr 1500 Gramm schwerer. Möglich werden solche Steigerungsraten nur durch strenge Selektionsmechanismen. Züchterisch wertvolle Einzeltiere können sich dank künstlicher Besamung deutlich häufiger fortpflanzen als es je unter natürlichen Umständen möglich gewesen wäre. Thaller:

    "Es existieren durchaus Bullen, die mehr als 100.000 Töchter haben, so dass wir sozusagen auf der männlichen Seite sehr scharf selektieren können und damit einen Zuchtfortschritt sicherstellen."

    Damit schaffen die Tierzüchter einen künstlichen Flaschenhals. Wenn ein Bulle zugleich Vater und Großvater ganzer Generationen von Kühen ist und sich auf der anderen Seite Hunderttausende Bullen nicht fortpflanzen können, weil sie als Kalbfleisch auf dem Teller landen, wird der Genpool eingeschränkt. Das Erbgut der Rinder verändert sich dramatisch. Mit dem Erfolg steigt das Risiko, dass die Tiere anfällig für Krankheiten werden. Noch sei es nicht gelungen, Rinder zu züchten, die etwa gegen die Maul- und Klauenseuche resistent sind und gleichzeitig den Ansprüchen der Verbraucher genügen, sagt Georg Thaller. Also bleibt das Spiel mit dem Feuer: das bewusste Auskreuzen der biologischen Vielfalt zugunsten von Hochleistungstieren. Thaller:

    "Wenn einzelne Tiere sehr stark sozusagen vervielfältigt werden, kann es dazu kommen, dass verstärkt dann in späteren Generationen Erbfehler auftreten und auch hier haben wir innovative Zuchtansätze, um das Auftreten dieser Erbdefekte zu beschränken."

    Die Genetik spielt eine immer größere Rolle in der Züchtungsforschung. Welche und wie viele Gene bestimmen etwa die Milchmenge und das Verhältnis der Milchinhaltsstoffe? Die Erforschung des Rindergenoms eröffnet seit einigen Jahren neue und bisher ungeahnte Möglichkeiten. Nur die Praxis gestaltet sich noch schwierig. Mehr als 30 Gene sind allein für die Milchproduktion zuständig. Da die Gene auch untereinander interagieren ist die Gesamtwirkung sehr komplex. Der Anfang ist aber gemacht. Georg Thaller:

    "Wir sind genau an der Schwelle von der Grundlagenforschung und vorwettbewerblichen Forschung in den Übergang in die Praxis, was hier ganz konkret die genomische Selektion bei Rind betrifft."

    So soll in Zukunft nicht nur die Leistung der Tiere gesteigert, sondern es sollen auch die Kosten reduziert werden. Heute müssen Rinder noch ein oder zwei Jahre alt werden, bevor sich ihr Zuchtwert offenbart. Mithilfe der Genetik könnten künftig zwei Jahre Futter gespart werden. Ebenso könnten solche Tiere schneller erkannt werden, die ihr Schlachtgewicht schon mit gut einem Jahr erreichen - und nicht mehr erst mit 18 Monaten. Auch das Geschlechtsverhältnis könnte bald bei der künstlichen Befruchtung bestimmt werden. Eine reine Milchkuhzucht würde die Rinderproduktion noch effektiver und kostengünstiger machen. Noch sind das alles Visionen. Thaller:

    "In Zukunft könnte es möglich sein oder sind Szenarien denkbar, dass wir aufgrund einer Blutprobe von Kälbern bereits relativ gut bestimmen können, welche Leistungen in Gesundheit und Leistungsbereich wir von diesen Kälbern erwarten können und diese Information praktisch unmittelbar zur Selektion nutzen. "

    Die genetische Vielfalt schwindet. Immer mehr Arten fallen durch das Raster einer anspruchsvollen Konsumgesellschaft. In Deutschland macht die Rinderrasse Deutsche Holstein 70 Prozent aller Kühe aus. Noch deutlicher wird es bei den Hühnern. 90 Prozent aller auf der Welt verkauften Eier stammen von nur zwei Firmen und der gleichen Hühnerart. Eier in Südamerika unterscheiden sich nicht von denen in Europa oder Asien. Wo Bedarf ist, werden Tiere neu geformt. Die natürliche Selektion ist einer künstlichen, menschgemachten Selektion gewichen, deren Tempo einzigartig ist.

    Hinweis Den 2. Teil von "Beschleunigte Evolution" können Sie morgen, 16:30 Uhr, im Deutschlandfunk hören. Thema: Wohin entwickelt sich der Mensch?