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Beschwingtes zu Krankheit, Alter und Tod

Luc Bondy gilt seit Jahrzehnten als einer der renommiertesten Theaterregisseure. Ob in Hamburg, Berlin, Wien oder Paris - er arbeitete an allen großen Häusern. Jetzt hat Luc Bondy seinen ersten Roman geschrieben - das Porträt eines Mannes, der ganz in der Erinnerung lebt.

Von Gabriele Killert | 26.04.2010
    Es war nur eine Frage der Zeit, wann Luc Bondy nach zwei wunderbaren Erzählbänden zum Sprung in den Roman ansetzt. Sein Debut "Am Fenster" ist allerdings kein "Theaterroman", oder nur am Rande. Die Hauptfigur, der Icherzähler Donatey auch kein Regisseur von Bondys Graden. Der Autor hat ihn, um keine vorschnellen Verwechslungen aufkommen zu lassen, ein paar Nummern kleiner angelegt.

    Ich war 30 Jahre lang Mitarbeiter, Organisator eines Theaterkünstlers, man nannte sie Regisseure; dann verschwand dieser Beruf. Ich meine: Niemand kann sich noch unter Inszenator oder Regisseur etwas vorstellen. Man kann die Definition des Begriffs im Internet finden, unter "Berufe bis 2014".

    Mit diesem schalkhaften Seitenhieb Richtung Gegenwartstheater, dessen Aufdringlichkeit und innere Leere Bondy seit Jahren in Interviews beklagt, lässt er es hier im Roman bewenden. Der Autor hat andere Sorgen.

    Krankheit, Alter und Tod - ist der Stoff, aus dem Betroffenheitsbücher gemacht werden, wie sie derzeit Konjunktur haben. Auch Luc Bondys Roman "Am Fenster" handelt von nichts anderem, allerdings auf eine sonderbar beschwingte, unpathetische, fast beiläufige Weise. Donatey hat ein aufregendes Theaterleben hinter sich.

    Es war vor meinem sechzigsten Geburtstag, noch viel früher, ein wildes Geschehen, viele laute Ereignisse, Tränen und Ermutigung, Euphorien und Pausenlosigkeiten. Ja, wir haben wenig geschlafen, wir wussten nicht mehr, wann die Nacht begann, wann sie endete. Das war die Theaterzeit, die nicht aufhörte, der Vorhang flog hinauf, der Vorhang fiel hinunter.

    Inzwischen ist Donatey 67 und im Begriff, auf der letzten kleinen Lebensbühne einer verlotterten Zürcher Wohnung der Welt abhandenzukommen. Plötzlich gehört man zum alten Eisen mit einer Titanprothese im Kreuz und darf sich dabei zusehen, wie man stocksteif übers Parkett schlurft, den ganzen Tag wie ein Murmelgreis am Fenster hockt und abends im Bett Zärtlichkeiten von der Gefährtin erduldet nebst ihrer berechtigten Sorge, ob es auch nicht weh tut.

    Natürlich denkt Donatey viel an den Tod, der ihm schon alle seine Lieben genommen hat. Seine exzentrische Mama, die mit ihren Eltern den Naziterror teils im Lager teils versteckt bei Bauern in den Pyrenäen überlebte und dann vor Schreck und Gram über diese Jahre verstummte. Er denkt an seinen Vater, -ein Ferrari-Konstrukteur aus Florenz, mit dem die Mutter während der Kriegswirren eine kurze Affaire hatte und von dem sie ihm kaum etwas erzählt hat. Er ist auch schon tot. Donateys Freunde haben ebenfalls das Zeitliche gesegnet. Am meisten schmerzt ihn der Verlust von seinem Chef Gaspard Nock. Diesem letzten Titan des Theaters hat er 30 Jahre treu "gedient" als eine Art Berater und Truppenbetreuer. Seine Aufgabe bestand darin, die Stimmung im Ensemble hochzuhalten und dem Meister in allem stets Recht zu geben.

    Das Jüngste Gericht wird an meiner Existenz herumrätseln, solche gewissenlosen und gleichzeitig besorgten Menschen, wie ich einer bin, sind ihm wahrscheinlich unbekannt.

    Die Freunde und Verwandten waren sämtlich charaktervoller, stärker, schicksalvoller als er. Dass nun ausgerechnet er, ein Schlemihl und fröhlicher Opportunist, sie alle überlebt hat, findet er irgendwie ungerecht, aber auch erfreulich.

    Der Ahnenkult ist ein Muss für jüdische Erzähler. Wenn sich die Füße der Toten schon aufriffeln wie ein Tabakblatt, sollen doch ihre Seelen wenigstens nicht ins Nichts zurückfallen. Denn das passiert, wenn die Lebenden sie vergessen. Daran glauben alle, von Isaac B. Singer, Saul Bellow bis zu Danilo Kis und Yasmina Reza.

    Donatey führt auf seinem Fensterplatz ausschweifende Totengespräche. Er lacht, zankt und seufzt mit ihnen. Von Nock, dem "Helden" seines Lebens, holt er sich täglich Rat, zum Beispiel was den Umgang mit Seraphine, seiner viel jüngeren Lebensgefährtin angeht, die von seinen Gespensterséancen gar nicht begeistert ist. Gleich nach dem Frühstück trifft sie sich mit Freundinnen oder wer weiß wem irgendwo. Donatey fürchtet, dass sie ihm bald ganz den Laufpass gibt.

    Wenn Seraphine im Schlaf spricht, nimmt sie alle liebevollen Sätze, mit denen sie mir am Tag schmeichelt, zurück. Oft höre ich sie zum Beispiel da sagen: "Ich sage dir 'ja', wenn ich auch 'nein' denke", oder: "Der Altersunterschied zwischen uns ..." Ich frage: "Was?" Sie wiederholt gereizt: "Der Altersunterschied zwischen uns ..." Doch am Morgen, wenn ich sie danach frage, staunt sie und sagt den Rest: "... ist kein Problem ...".

    Alarmierende Anzeichen sind das. Donatey glaubt ihren Träumen mehr als ihr. Was ist Wirklichkeit? Alles ist ein Theater der Täuschungen und Illusionen. Die wunderbare Kostümbildnerin Cynthia zum Beispiel. Sie hat immer gelacht, alle mochten sie so gern wegen ihrer ansteckenden Fröhlichkeit. Und dann hat sie sich eines Tages erhängt. Warum? Wenn es ernst und schwer zu werden droht, nimmt Bondy sofort den Fuß vom Pathospedal. Dann schickt er seinem Helden beispielsweise eine Wachtel zu Besuch.

    Sie war die Steintreppe hoch getrippelt ... in den Flur unserer Wohnung ... Das Tier hielt an und beobachtete mich. Es hatte schwarze Augen, eins drückte es zu, das andere fixierte mich aufmerksam ... Das Tier passte nicht an den Ort, wo es sich gerade befand ... Heute glaube ich, dass es Cynthia war, dass ihre Seele in die Wachtel gewandert war, da ich so oft seit ihrem Selbstmord an sie denken musste, dass sie sich gerufen fühlte ...
    Doch kaum durchflog mich diese Ahnung, schüttelte sich die Wachtel, streckte leicht ihre kleinen Flügel, zog sie zusammen und fiel seitlich um, wie ein ausgestopftes Tier.


    Das Mitgefühl für die arme Cynthia hindert den Trauernden nicht, die Wachtel zu rupfen und zu einem Gläschen Rioja genüsslich zu verspeisen. Eine skurrile Variante der Totenehrung und ein Beispiel für Bondys kindlich verspielten jüdischen Humor.

    Fieberhaft arbeitet Bondys Mann ohne Eigenschaften gegen das Vergessen an. Gespräche, Gesten, Schrullen, Bosheiten, Träume und Sehnsüchte- alles ist ihm lieb und wert, verzeichnet und, wenn es gar zu bedrohlich wird, ins Skurrile verzerrt zu werden. Aus den verlorenen und losen Fäden der kleinen individuellen Lebensgeschichten, die die große Geschichte ramponiert, zerrissen hat, webt er so einen löchrigen Gobelin mit gut einem Dutzend leuchtender Porträts. Schweißtreibende Arbeit am Mythos des jüdischen Familienromans im weiteren Sinne und schalkhafte Parodie desselben. Jede Figur wird plastisch und bleibt doch unergründlich in ihrem Geheimnis. Jede einzelne verworrene Geschichte ist ein Abbild der großen. Jedes kleine, verlorene Ich eine kleine Unendlichkeit.

    Ein Buch der Schicksale und Schicksalsschläge, das mindestens so weit autobiografisch ist, als der Autor selbst nach einer schweren Rückenoperation für Monate ans Bett gefesselt war und wie sein sympathischer Held das Beste aus der Krise machte: Literatur. Dass der Roman so leicht und graziös wie ein Divertimento komponiert ist, liegt am Naturell des Autors. Im Unterschied zu den Komödiendichtern wider Willen - etwa Hofmannsthal oder auch Botho Strauss, bei denen das Tragische immer wieder triumphiert, scheint Luc Bondy ein Komödiant vom Stamm der Harlekine zu sein, der Pierrots, der leicht-sinnigen Antipoden des höllischen Lebensernstes. Für ihn ist das Leben weder tragisch noch komisch, weder schön noch hässlich, böse noch gut, sondern vor allem: originell. Und eben so ist auch sein Buch wie der ganze Autor.

    Luc Bondy: "Am Fenster".
    Paul Zsolnay Verlag 2009 159 S.