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Bespitzelung des Volkes

Die Aufarbeitung der Bespitzelung im einst sozialistischen Osteuropa war Thema eines Forums, zu dem die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" und das Netzwerk für Osteuropa-Berichterstattung "n-ost" Experten nach Berlin eingeladen hatten. Gleichzeitig fand in der Hauptstadt die regelmäßige Tagung des "Europäischen Netzwerks der für die Geheimdienstakten zuständigen Behörden" statt.

Von Jacqueline Boysen | 24.06.2009
    "Nach der Auflösung ihrer Organisationen war die Angst der Hauptamtlichen unverkennbar - sie hatten Angst vor der Bevölkerung, die gleiche Angst, die die Bevölkerung bisher vor ihnen hatte."

    Der rumäniendeutsche Schriftsteller Richard Wagner beschreibt, wie die einstigen Geheimdienstler in Rumänien auf die Ermordung des Diktators Ceausescu reagierten:

    "So liefen sie zunächst in Panik auseinander, in drei Richtungen: In die Politik, die Wirtschaft und den neuen Geheimdienst."

    So wie die Mitarbeiter der Securitate besetzten in vielen Ländern Ost-, Südost- und Mitteleuropas die einstigen Geheimdienstler Schaltstellen in der Wirtschaft und in öffentlichen Ämtern. Ohne einen grundlegenden Elitenwechsel aber werde die Repressionsgeschichte nur schleppend aufgearbeitet - lautete die Klage von Bürgerrechtlern, Dissidenten und Journalisten aus dem einst kommunistischen Machtgefüge. Eine Entgiftung der Gesellschaften verordnet der ungarische Schriftsteller György Dalos den jungen Demokratien, in denen der Geist des "ancien regime" immer noch regiere und die historischen Dokumente im politischen Alltag missbraucht würden:

    "Dieses Geheimwissen verwandelte sich in Waren im Selbstbedienungsladen der Medien und in Waffen im Munitionsdepot der politischen Parteien. Aufarbeitung aber kann nicht irgendwann enden. Sie wird mit der Weiterentwicklung der Gesellschaft und wechselnden Generationen einhergehen."

    Doch der Prozess stößt auf Widerstand: Die Juristin Agnes Zsidai vom Historischen Archiv der Staatssicherheitsdienste in Ungarn beklagt einen Rechtspositivismus, der Verbrechen bis heute entschuldigt. Obrigkeitsstaatliches Denken lähme die Aufarbeitung und schütze die Täter:

    "Ich muss sagen, die Veröffentlichung der Identität der Hauptamtlichen ist noch immer ungeregelt."

    In Polen regelt seit den 90er-Jahren ein Lustrationsgesetz die Aktenöffnung, obgleich der liberale Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki 1989 davor warnte, die Geheimdienstrelikte zugänglich zu machen, befürchtete er doch "destruktive Kräfte des Hasses", die sich in der jungen Demokratie entladen könnten. Inzwischen sichert das Institut für das Nationale Gedenken den Aktenzugang zu Forschungszwecken und für die Bildungsarbeit. Doch wie die jüngsten spektakulären Fälle zeigten - die Dokumente würden politisch instrumentalisiert und die Rechtsprechung nach Bedarf geändert - mit dem Resultat, dass in der Bevölkerung das Interesse an einer Aufarbeitung der Geschichte schwindet, so die Journalistin Patrycja Bukalska aus Krakau.

    40 Prozent ihrer Landsleute sprechen sich heute gegen die Offenlegung der Hinterlassenschaften des Geheimdienstes aus - doppelt so viele wie 2007. In seinem Land, so der ukrainische Journalist Juri Durkot, habe man nicht einmal einen Begriff für Aufarbeitung. Wohl gibt es inzwischen auch in der vormaligen Sowjetrepublik ein Institut für das Nationale Gedenken, doch beschäftigte es sich zunächst mit der Geschichte des großen Hungers von 1932/33, einem nationalen Trauma. Inzwischen sei das Institut zum Propagandainstrument mutiert, moniert der Lemberger Durkot:

    "Anfangs war das Institut eine lahme Ente, zwei Leute, ein Computer, gar nichts zu machen. Heute eher dritter Arm der Regierung, der helfen soll, die Staatsfahne zu tragen."

    Dem in Berlin lebenden Schriftsteller Richard Wagner wurde im Jahr 2003 von den Behörden in seiner rumänischen Heimat Akteneinsicht zugesagt. Das Material, das ihm fünf Jahre später vorgelegt wurde war, trug den Stempel der Akteneinsichtsbehörde und des Geheimdienstes - und so ist es naheliegend, dass es gesäubert wurde, meint Wagner:

    "Merkwürdig, dass ein freier Schriftsteller in Berlin die nationale Sicherheit eines EU-und NATO-Landes gefährden könnte durch seine Securitateakte. "