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Bestechende Härte

Das Leben in den Grüngürteln der Städte scheint für erzählenswerte Begebenheiten gemeinhin nicht viel herzugeben. Wer sich literarisch dort hinauswagt, der sollte darum sowohl von der Sache als auch vom Erzählen besonders viel verstehen. Bei John Updike und John Cheever sind diese Voraussetzungen glänzend gegeben, ebenso wie bei dem gerade wiederentdeckten Richard Yates. Und auch Rachel Cusk kann sich in den Einöden des mittelmäßigen Wohlstandes ausgezeichnet behaupten.

Von Eberhard Falcke | 23.07.2007
    Bei Rachel Cusk heißt das Mittelstandsreservat im Grünen "Arlington Park". Dort leben Juliet, Amanda, Christine, Maisie, Stephanie und Solly. Sie verkörpern ganz verschiedene Charaktere, doch alle stehen sie im Bann ein und desselben Grundgefühls: einer gespannten, hochgradig nervösen Unerfülltheit, einer schleichenden Lebenspanik.

    "Es war schon ein Rätsel, dieses Arlington Park: ein Vorort, eigentlich eher ein riesiges Dorf, und doch kam selbst hier das Leben mit aller Macht daher, knallte seine unumstößlichen Tatsachen auf den Tisch, seine allseits verbindlichen Bedingungen. Es war Zivilisation, und doch schien es Juliet durch und durch unzivilisiert. Was brachte hier nur ein derart wildes Wuchern hervor? Es ließ keinen Raum für Kunst; schlimmer noch, es ließ nicht einmal Raum für irgendeine Vorstellung von Gerechtigkeit. Es ging allein ums Besorgen und Besitzen - man mußte sie doch bloß ansehen, wie sie bis zum Park hoch im Stau standen, drängelnd, darum kämpfend, besorgen und besitzen zu können."

    Juliet ist die Verbitterte in der Gruppe. Sie verkörpert den Fall der gestrandeten Begabung, die mit ihrem Doktortitel nun an genau der Schule, wo man ihr einst eine glänzende Zukunft zutraute, einen wenig aufregenden Job als Lehrerin versieht. Maisies Frustration dagegen äußert sich in Wutanfällen. Sie sieht sich in der Falle, seitdem sie mit ihrem Mann aus London weggezogen ist, wo das Leben zwar teuer und hektisch war, dafür aber reich an Abwechslung und Perspektiven. Amanda wiederum sucht ihr Heil in der perfekten Haushaltung inklusive Putzfimmel. Sie gerät an den Rand des Nervenzusammenbruchs, als spielende Kinder auf ihrem weißen Sofa rote Flecken hinterlassen.

    Die meisten der Damen schleppen einen mehr oder weniger ausgeprägten Groll gegen ihre Ehemänner mit sich herum. Christines Mann tut zuwenig im Haushalt, der von Maisie wäscht zwar ab und sieht blendend aus, lahmt aber beruflich. Ganz zu schweigen von Juliet. Sie neigt zu feministischer Apokalyptik. In ihren Augen sind die Männer Mörder, die ihre Frauen nach und nach umbringen.

    Trotzdem ist das alles fern von feministischer Programmprosa und dem geläufigen Gerangel im Geschlechterkampf. Bei Rachel Cusk hat die weibliche Perspektive existentielle Tiefe, diese Autorin erzählt von den Widersprüchen und Zumutungen des Lebens auf eine Weise, die deutlich macht: Frauen und Männer leben in der gleichen Welt und dennoch in verschiedenen Hemisphären; sie kommen, selbst wenn sie es wollen, um gegenseitige Verletzungen nicht herum. Nicht minder quälend ist das Ungenügen der Frauen an sich selbst. Vor allem aber begünstigt das vermeintliche Familienparadies Arlington Park als Lebensform die Erhaltung herkömmlicher Geschlechterrollen wie ein in Stein gebautes konservatives Familienmodell. Von dem Gefühl, eingesperrt zu sein, wird, so oder so, jede der Frauen befallen. Symbolisch ergiebige Niederschläge unterstreichen von der ersten Seite an, was für ein gründlich verregnetes Leben sie führen.

    Rachel Cusk beherrscht eine atmosphärisch dichte Beschreibungskunst und sie schreibt hervorragende Dialoge. Wenn sie ein Trüppchen von Müttern mit Kind und Kegel zu einem Ausflug in die Shopping Mall schickt, dann gerät das zur fesselnden Gratwanderung zwischen Soap-Opera und Existenzdrama.

    Besonders interessiert sich Rachel Cusk für Mütter und das, was mit ihrem Selbstgefühl vorgeht, wenn sie Kinder aufziehen oder noch mit weiterem Nachwuchs schwanger gehen. Solly zum Beispiel. Sie erlebt im achten Monat ihre körperliche Entgrenzung als verstörende Unsicherheit, als "Krise des Fleisches", wie es heißt.

    "Solly hatte das Gefühl, nichts zu haben - gar nichts! Sie zwang sich, in den Spiegel zu sehen, der über der Mahagonikommode hing, und der Anblick ihres Gesichts trieb ihr Tränen in die rot umränderten Augen. Es war fleckig, faltig, grimassenhaft verzogen vor Stress. War dieses schreckliche Gefühl von Ungerechtigkeit denn überhaupt wirklich? Oder irrte sie sich? Gab es irgendeine Erklärung dafür, etwas, das alles zurechtrücken würde?"
    Als die Italienerin Paola zur Untermiete ins Gästezimmer einzieht, befürchtet man bei der Lektüre schon das Übliche: Eine Affäre zwischen Sollys Mann und der schönen Fremden. Doch Rachel Cusk braucht solche abgedroschenen Effekte nicht. Unmerklich eröffnet sich aus dem Miteinander der beiden Frauen ein Ausweg aus Sollys Krise.

    Rachel Cusks Prosa ist kühl und präzise, sie wahrt Distanz zu ihren Figuren und vermag es dennoch hervorragend, sie mit einem vielgestaltigen Innenleben auszufüllen. Zugleich, und das ist das Aufregende, steht die Prosa des Romans gleichsam unter Strom. Er speist sich aus der spannungsreichen Polarität zwischen den behäbigen sozialen Genrebildern und der zwischen Panik und Paranoia flackernden Unruhe, welche diese Frauen umtreibt. Daher die bestechende Härte und Schärfe von "Arlington Park". Rachel Cusk macht aus den Frustrationen ihrer Vorstadtbewohnerinnen große Literatur.

    Rachel Cusk: Arlington Park. Roman. Aus dem Englischen von Sabine Hedinger. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2007. 319 Seiten, 19,90 Euro