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Bestechende Schüchternheit

Die japanische Autorin Hiromi Kawakami beschreibt eine verheiratete junge Frau, deren Zurückhaltung ihr wichtigstes Merkmal ist. Es ist das feinfühlige Porträt einer Beziehung, in dem vieles unausgesprochen bleibt, um stärker zu wirken.

Von Martin Krumbholz | 10.07.2013
    Verschlossen und unnahbar, wie eine Tulpe, so wirkt die Protagonistin im Roman von Hiromi Kawakami.
    Verschlossen und unnahbar, wie eine Tulpe, so wirkt die Protagonistin im Roman von Hiromi Kawakami. (Jan-Martin Altgeld)
    Dieser Roman erzählt die Geschichte einer verheirateten jungen Frau, deren hervorstechende Eigenschaft ihre Schüchternheit ist. Diese Diskretion und Zurückhaltung im Umgang mit Menschen prägt auch den lakonischen Stil der Erzählerin, die ihre Protagonistin Noyuri Kusaka etwa ein Jahr lang, vom Winter bis zum übernächsten Frühling, durch ihr Leben begleitet.

    Der Leser erhält Zutritt zu Noyuris Innenleben, aber dieses ist keineswegs von überschießenden Reflexionen belebt, wie es bei schüchternen Menschen ja manchmal der Fall ist; Noyuri ist gewissermaßen schüchtern auch nach innen. Dabei hat sie eine tiefe Kränkung erfahren. Ihr Mann Takuya, ebenfalls kein großer Redner, betrügt sie. Erfahren hat Noyuri dies, "wie in einem schlechten Film", so heißt es, durch einen anonymen Anruf. Aber Hiromi Kawakami ist natürlich als Autorin viel zu gewieft, um die Sache tatsächlich wie in einem schlechten Film ablaufen zu lassen: Der Leser erfährt erst 150 Seiten später, wer die Urheberin dieses mysteriösen Anrufs – und noch etlicher weiterer anonymer Anrufe – gewesen ist.

    Natürlich kann man sich so seine Gedanken machen, wie ja auch die Betroffene selbst sich ihre – allerdings recht unfruchtbaren – Gedanken macht. Der Schluss, mehr darf zu diesem Punkt nicht verraten werden, fällt überraschend aus.

    Jedenfalls trifft jene Information zu: Takuya hat eine Geliebte, Satomi, eine Arbeitskollegin. Die Sache ist nur die, dass Takuya zwar die Scheidung anbietet, dass er sie im Grunde aber so wenig wirklich will wie seine Frau Noyuri. Es bleibt also zunächst einmal alles beim Alten. Die beiden Eheleute bleiben beieinander wohnen, und sie reden so wenig miteinander wie eh und je. Noyuri allerdings macht kleinere Reisen, mit ihrem Onkel Makoto, einem lebenslustigen Mann oder mit einer früheren Freundin; sie hat sogar eine Art Flirt, mit dem Studenten Eiji, den sie allerdings nicht ganz ernst nimmt. Und: Sie trifft, auf deren Wunsch hin, Satomi, die Geliebte ihres Mannes, die ihr erklärt, sie wolle ihr keinesfalls den Mann wegnehmen.

    "Als sie sich trafen, kam Satomi gleich zur Sache. Sie wusste genau, was sie wollte. Sie liebe Takuya, sagte sie. Aber sie wolle auf keinen Fall, dass er und Noyuri sich scheiden ließen. Und selbst wenn, habe sie nicht die Absicht, Takuya zu ehelichen. Wenn Noyuri darauf bestünde, würde sie durchaus in Erwägung ziehen, die Beziehung abzubrechen, aber dazu brauche sie etwas mehr Zeit. Noyuri war völlig überwältigt von dieser sachlichen Darstellung. "Die Entscheidung liegt ganz bei Ihnen", sagte Satomi, als beende sie ein Kundengespräch, und erhob sich."

    Die Ironie der Szene liegt darin, dass die Geliebte der Ehefrau quasi die Bedingungen diktiert, und dass diese sich das auch "gefallen lässt". Doch dieses "sich etwas gefallen lassen" entspricht ganz und gar dem Charakter der Protagonistin, wie sich auch in anderen Situationen zeigt, etwa, als sie eine Arbeitsstelle in einer Arztpraxis sucht. Noyuri drängt sich nicht offensiv nach vorn, sondern weicht eher zurück, wenn andere etwas von ihr verlangen – auch dann, wenn es beinahe unzumutbar ist. Und gerade diese defensive Einstellung zum Leben lässt Noyuri so liebenswert erscheinen; es ist ihr Distinktionsmerkmal, dass sie nicht wie alle anderen ihre Ellbogen einsetzt, um sich Platz zu verschaffen, sondern dass sie, mit einer fast unendlichen inneren Ruhe begabt, abwarten kann.

    Dabei lässt sich keineswegs sagen, Noyuri wisse nicht, was sie wolle. Das weiß sie sehr wohl, und allemal besser als ihr wetterwindischer Ehemann: Sie will sich zum Beispiel nicht von ihm trennen. Nicht, weil sie ihn nicht hergeben will, also nicht aus einem Besitzanspruch heraus, sondern, weil sie ihn liebt. In dieser Zuneigung zu einem Menschen, der eine solche entschiedene Liebe kaum zu verdienen scheint – einmal spricht er das sogar selbst aus -, liegt die Kraft der Protagonistin und auch die des ganzen Romans.

    Man könnte übrigens nach dem hier Festgestellten vermuten, dass Noyuri eine passionierte Leserin ist; und man könnte fast darauf wetten, dass das für Takuya nicht gilt. Beides trifft zu. Takuya liest selten Romane oder Erzählungen.

    "Was soll an etwas Erfundenem interessant sein?", hatte er sie ganz ernsthaft gefragt. Spontan hatte Noyuri ihm darauf keine Antwort geben können. Es sei zwar richtig, dass unbekannte Menschen unbekannte Dinge taten, aber das Interessante sei vielleicht, dass man eine Vertrautheit mit ihnen entwickle. So ähnlich hatte sie wohl geantwortet. Takuya hatte ihre Erklärung mit skeptischer Miene angehört. "Es liegt sicher daran, dass ich Naturwissenschaftler bin. Aber ich kann dir auch nicht erklären, was interessant an der Wellengleichung ist", hatte er gesagt und gelacht. Noyuri hatte ebenfalls gelacht."

    Natürlich enthält diese beiläufige Passage auch eine Miniatur-Poetologie von Hiromi Kawakami. Unbekannte Menschen tun unbekannte Dinge, und man entwickelt nach und nach eine Vertrautheit mit ihnen. Eben das geschieht in guten Romanen, und es geschieht exemplarisch in diesem. Und das heißt auch: Die Menschen bleiben nicht unbekannt; man versteht ihre Motive nach und nach, auch wenn sie anfangs vielleicht rätselhaft erschienen. Der Leser könnte sich beispielsweise fragen: Hat diese Noyuri eigentlich gar keinen Stolz? Es ist übrigens Takuya, der ihr diese Frage tatsächlich einmal an den Kopf wirft. Und wie reagiert Noyuri darauf? Noch gibt sie ihm keine Antwort – zumindest nicht verbal.

    "Es macht ihm gar nichts aus, so kalt mit mir zu sprechen, dachte sie. Noyuri kniff die Augen fest zu. Aber einen Moment später öffnete sie sie wieder ganz weit. Durchhalten, du musst durchhalten, wiederholte sie bei sich."

    Der quälenden Ungewissheit der Situation zum Trotz zieht Noyuri mit ihrem Mann aus Tokio weg in eine andere Stadt, als er versetzt wird. Schließlich aber verlässt sie ihn doch, und wie es dann weiter- und zu Ende geht, soll nicht verraten werden. Nur soviel: Einmal besucht Takuya seine Frau in ihrem winzigen, bescheidenen Apartment, in dem es nicht einmal ein Essservice gibt.

    ""Ist ja ganz gemütlich hier", sagte er und setzte sich. "Findest du?", sagte Noyuri steif. "Wann kommst du zurück?", fragte er unvermittelt. Einen Moment lang krampfte sich alles in Noyuri zusammen. Sie sah zu Boden, schaute aber gleich wieder auf. "Ich komme nicht zurück", sagte sie, jedes Wort betonend. "Du bist derjenige, der zurückkommen muss." Takuya blieb der Mund offen stehen. Er rappelte sich hoch und strich seinen Regenmantel glatt."

    Und damit ist wohl endgültig deutlich geworden, dass wir es hier mit einem ganz besonderen, einem eminent feinfühligen und untergründig spannenden Porträt einer Frau zu tun haben, die womöglich so etwas wie eine Heldin ist.

    Hiromi Kawakami: Bis nächstes Jahr im Frühling
    Roman. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe und Kimiko Nakayama-Ziegler. Hanser Verlag, 222 S., 19,90 €.