Donnerstag, 25. April 2024

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Besuch bei einem vergessenen Volk

Rund um Zdynia im Südosten Polens herrscht die Stille einer verlassenen Gegend. Es ist eine Gegend, die der Schriftsteller Andrzej Stasiuk in Büchern wie "Die Welt hinter Dukla" oder seinen "Galizischen Geschichten" vor dem Vergessen gerettet hat. Es ist eine Gegend, in der der Wanderer allerorten auf verschlafene Dörfer trifft und auf verkrautete Friedhöfe, die von einem Stück vergessener europäischer Geschichte erzählen.

Von Mirko Schwanitz | 28.10.2007
    Ihr Schicksal war besiegelt, als Warschau und Moskau am 16. August 1945 einen Vertrag unterschrieben, der die Westverschiebung Polens regelte. In der Folge verlor auch das im Südosten Polens siedelnde Volk der Lemken seine Heimat. 500.000 wurden in die Ukraine, viele von dort in die sibirischen GULAGs deportiert und zwei Jahre später, also vor genau 60 Jahren, kam es dann zur "Aktion Weichsel": Die letzen, der knapp 150.000 verbliebenen Lemken wurden "über Nacht" an die Oder-Neiße-Grenze deportiert, ihre Höfe enteignet, ihre Familiennamen polonisiert und ihre Sprache verboten.

    Seit einigen Jahren aber entdecken die Enkel dieser Vertriebenen die alte Heimat wieder. Gemeinsam mit ihren polnischen Freunden retten sie alte Friedhöfe, sammeln lemkische Lieder, legen Wanderwege an oder investieren in den Tourismus. In die Dörfer der Lemken zieht wieder Leben ein.
    Stimmengewirr/Maultrommel/einzelne Instrumente

    Die Straße glich dem Gang eines Mannes nach durchzechter Nacht. Haken und Bögen schlug sie, im Straßengraben rostete ein Traktor. Auf einer Wiese ein paar junge Leute. Kinder tollten herum.

    Mirek Bogonj: "”Ich bin Mirek Bogonj. Wir befinden uns hier in Südpolen, unweit des malerischen Örtchens Senkowa. Die Gegend hier ist mal wild, mal sanft, bergig und sehr romantisch. Diese Wiese hier, diese sechs Hektar, das ist unser Grundstück. Und das da sind meine Freunde.""

    Ein Kontrabass lehnt an einem Polski Fiat 128, klein wie eine Butterdose. Mir ist schleierhaft, wie sie es da heil hinein und wieder heraus bekommen hatten. Mirek grinst und faselt etwas von osteuropäischem Improvisationsgeist.

    Mirek Bogonj: "”Früher haben wir Volksmusik gemacht. Heute nennen wir uns "Serencza". Wir machen Folk-Music und nutzen die alten Lieder lediglich als Basis. Von anderen Bands unterscheidet uns vor allem unsere Zusammensetzung. Wir sind Lemken. Nur zwei von uns haben auch polnische Wurzeln.""

    Plötzlich sitzt ein junger Mann auf dem Tisch. Eine Flöte verschwindet in dem dunklen Schatten, den ein breitkrempiger Goralenhut auf sein Gesicht wirft.

    Mirek Bogonj: "Diese Lieder tragen wir von Geburt an in unserem Herzen. Es sind Lieder, die wir schon in unserer Kindheit gesungen haben."

    Ich war mitten hinein geraten in eine Probe. Am nächsten Tag sollte Serencza auf einer Vatra auftreten, mit der die Lemken der Vertreibung aus ihrer Heimat gedenken, zugleich aber die Widerauferstehung ihrer Kultur feiern.

    Mirek Bogonj: "Vatra, dass bedeutet eigentlich "Feuer", "Lagerfeuer". In der lemkischen Sprache bedeutet Vatra ein großes Fest, auf dem sich Lemken aus aller Welt treffen. Sie kommen aus Amerika, Frankreich, aus Deutschland, sogar aus Australien.

    Ich will mehr wissen über das Schicksal diese vergessenen Volkes. Mirek bietet mir die Hütte als Nachtlager an. Ich soll ihn besuchen, morgen, zum Frühgottesdienst. Ich höre sie noch singen, als ich mir die Decke über die Ohren ziehe..."

    Vögel zwitschern

    Ich hatte mich früh auf den Weg gemacht. Im Örtchen Pentna zeigten die Häuser ihre geschnitzten Giebel. Frauen saßen auf verwitterten Bänken und ihr Nichtstun setzte sich aus einer Reihe lautloser Gesten zusammen. Kraftlos ließ die Uhr am Kirchlein ihre verrosteten Zeiger hängen. Einen Ort weiter, in Senkowa hatte der Gottesdienst schon begonnen.
    Mirek Bogonj: "Der Glauben ist das, was die Lemken zusammenhält. Du wolltest gestern wissen, was uns von den Polen unterscheidet. Während die Polen eine Messe feiern, feiern wir einen Gottesdienst. Bei den Polen wird mehr gesprochen, bei unseren Gottesdiensten mehr gesungen."

    Es war eine Holzkirche. Ihr Schindeldach war tief herab gezogen. Besucher müssen sich tief bücken, um unter dieses Dach und von dort zum Eingang zu gelangen. Im Winter, wenn sibirische Winde den Schnee im Tal zu turmhohen Wächten auftürmen, nimmt die Kirche Gläubige so unter ihre schützenden Fittiche.

    Sie sangen in einer mir fremden Sprache. Nicht polnisch, nicht russisch. Auch nicht slowakisch, was möglich gewesen wäre, die Grenze war gerade einmal 15 Kilometer entfernt.

    Mirek Bogonj: "Unsere Sprache ist eine Mischung aus der ukrainischen, polnischen und slowakischen Sprache. Wenn wir uns untereinander auf lemkisch unterhalten, würde uns kein Pole verstehen. Wenn ich mich mit meiner Band treffe, dann reden wir nur in unserer Sprache."

    Mit Mirek, seinem Freund Demko und Andrzej bin ich unterwegs nach Zdynia, dem Ort der Vatra. Vor der Frontscheibe Bergwiesen. In ihren Wellen versinken ein paar Ställe. Dann plötzlich ein Stück Straße, das im Nichts endet. Als Andrzej meinen fragenden Blick bemerkt, hält er an.

    Andrzej: "Man hat hier so etwas vollzogen wie eine unblutige ethnische Säuberung. 1947 hat man die Lemken hier einfach in Viehwaggons gepackt und in den Westen Polens verfrachtet, in die Gebiete, aus denen vorher die Deutschen vertrieben wurden."

    Die Reste einer Schaukel. Ich entdecke sie hoch oben im Geäst eines Baumes unerreichbar für jedes Kind. Die Vatra von Zdynia, meint Demko, ist nicht irgendein Fest. Es ist das größte Vetriebenentreffen in Polen.

    Demko: "Für die Älteren ist die Aktion Weichsel, wie die Kommunisten die Deportation nannten, noch immer ein Thema. Sie haben die neuen Häuser im Westen Polens nie als ihr zuhause angenommen. Die nächste Generation aber hat die Situation akzeptiert. Auf der Vatra zeigen wir, dass wir nie vergessen, aber auch, dass wir nicht ständig trauern wollen."

    Eine Weile schleudert das Auto noch durch die Reste dieser untergegangenen Welt. Vorbei an verwilderten Streuobstwiesen, zugewucherten Friedhöfen auf deren Feldsteinumfriedungen gelbschwarz die Salamander leuchten. Dann öffnet sich der Wald. Das erste Haus, es gehört Demkos Großmutter. Marya Dziubina füttert gerade ihre Schweine. Sie erinnert sich noch gut.

    Marya Dziubina: "Die polnische Armee kam und hat meinen Vater und andere Männer mitgenommen. Sie sagten, die Leute hier würden eine ukrainische Untergrundarmee unterstützen, die gegen den neuen polnischen Staat sei. Wir hatten damals zwei Stunden, um unsere Sachen zu packen. Einquartiert wurden wir bei Poznan mit fünf anderen Familien in einem Haus ohne Fenster und Türen."

    Wie Marya Dziubina haben viele Lemken längst ihre Verbannungsorte verlassen. Still und ohne viel Aufhebens sind sie in ihre Heimat zurück gekehrt.

    Marya Dziubina: "Ich war die erste, die zurück kam. In unseren Häusern wohnten längst andere Menschen. Eine Entschädigung vom polnischen Staat haben wir nie erhalten. Die einen haben ihre Häuser von den neuen Besitzern zurück gekauft, die anderen haben sich in der Umgebung von Gorlice neue gebaut."

    Vom Rand des Dorfes dringen die wuchtigen Schläge schwerer Hämmer herüber. Ein Mann mit müht sich mit einem Schild ab. "Lemkowska Vatra" steht darauf. Stefan Hladyk hat vor 27 Jahren die erste, damals noch illegale Vatra organisiert, heute ist er Vize-Vorsitzender des Weltverbandes der Lemken
    Stefan Hladyk: "”Dieses Tal hier ist unser Mekka. 57 Jahre, nachdem wir über die ganze Welt verstreut wurden, kehren die Lemken für drei Tage in ihre Heimat zurück. Das ist, als käme man drei Tage ins Paradies. Und deshalb kreisen die Gedanken der Lemken auf aller Welt um dieses Tal, das sieben Kilometer von der slowakischen Grenze entfernt liegt.""

    Wiesen steigen zum höher gelegenen Waldrand, bunt gesprenkelt von tausenden Zelten vor denen Rauchsäulen in den Himmel steigen – ein lemkisches Woodstock das anch gebratenem Fleisch riecht. Unten tanzt die Jugend und oben am Waldrand hat Familie Strochanowski sich den besten Platz gesichert.
    Großvater Strochanovsky: "Natürlich sind das Wichtigste die Erinnerungen, erzählt Großvater Strochanowsky. Das sind meine Berge hier, das ist mein Leben. Ich komme hierher, damit ich die Menschen wiedersehe, mit denen ich einst groß geworden bin. Hier treffen sich Lemken aus ganz Polen, aus Europa, sogar aus Kanada und den USA. Wir sind wie eine Familie. Lemke, ja, das ist fast schon so etwas wie ein Familienname."

    Die Strochanowskys wurden 1947 ins Lebuser Land deportiert. Heute leben sie in Sprottawa nahe der Oder. Doch jedes Jahr kehren sie in ihre Heimat zurück. Zum 15. Mal bereits sind sie bei der Vatra

    Frau: "Es hat sich viel geändert in den letzten Jahren. Es ist schöner jetzt. Wir haben neue Gebäude. Das Schönste aber ist, das nicht mehr nur alte Menschen kommen, wie bei den ersten Vatras. Heutzutage kommen ganz, ganz viele Jugendliche.

    Das ist unsere Hoffnung. Die neuen Leute haben Ideen und das Fest wird moderner. Wir hoffen, dass auf diese Weise unsere Kultur weiter besteht. Sie ist unsere Identität."

    Jedes Jahr kommen mehr als 17.000 Menschen, um ihrer Kultur neues Leben einzuhauchen. Es gibt Austellungen, Sportwettkämpfe, einen Markt lemkischer Volkskunst und Auftritte von mehr als 1000 Künstlern. Unten tut sich etwas. Die Jungen und Mädchen von "Serencza" streben durch die Massen zur Bühne. Wie ein silberner Fischschwarm folgt ihnen ein Blitzlichtgewitter hunderter Amateurfotografen. Mirek sehe ich und Demko. Als Jusek die Flöte in den Schatten seines Goralenhutes hebt, wird es still im Rund.
    Spät in der Nacht, treffe ich sie wieder. Die Musiker von Serencza sitzen mit Kindern eines Kinderchores um ein Feuer. Demko versucht mit der Gürtelschnalle seiner Freundin eine Flasche Bier zu öffnen. Ich frage Marzena, worin für sie der Unterschied besteht zwischen Polen und Lemken.

    Marzena: "Der Unterschied zwischen Polen und Lemken? Also ich finde, dass die Lemken viel lieber singen. Egal bei welcher Gelegenheit, ob bei Hochzeiten oder anderen Festen. Man muss sie nie zwingen, nie überreden und vor allem: sie brauchen keiner stärkeren Getränke, um fröhlich zu sein. Bei den Polen ist es oft so, dass es eine Motivation mit%en braucht. Bei den Lemken ist das einfach spontan."

    Demko: "Die Antwort ist eigentlich sehr einfach. Die Lemken sind trotz ihrer Geschichte immer fröhlich. Und das kommt daher, weil sie immer singen. Die Musik kommt aus den Herzen und geht in die Herzen. Deswegen sind die Lemken das glücklichste Volk der Welt."