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Beten und bereuen
Die frommen Verbrecher von Norfolk

Es ist das weltweit einzige Kloster hinter Gefängnismauern. Im Norfolk State Prison bei Boston lebt eine fast 30-köpfige christliche Laien-Gemeinschaft von Dominikanern. Viele von ihnen sind lebenslänglich inhaftiert wegen schwerer Gewalttaten.

Von Klaus Hofmeister | 08.09.2016
    Gefängnisinsassen im Metropolitan Detection Center in Albuquerque.
    Orangefarbene Overalls in US-Gefängnissen: "eine Form von Entmenschlichung"? (imago / ZUMA Press)
    Es ist Sonntagnachmittag, kurz vor zwei, im Norfolk-Staatsgefängnis. Einer der Fixpunkte im Gemeinschaftsleben der dominikanischen Laiengemeinschaft. Zeit für Gebet, gemeinsames Singen, Studium und Austausch, anderthalb Stunden. Die Stimmung ist freundlich und zugewandt. Männer in den Vierzigern, Fünfzigern, in Jeans, grau- blaue Freizeithemden, wie man sie im Gefängnis trägt. John wurde im Jahr 2000 auf die Brüder aufmerksam: "Ich sah die Brüder", sagt er, "die hatten etwas, das ich auch wollte." Und er fährt fort:
    "Ich habe es an ihren Gesichtern gesehen, ihren Augen. Es ist so befreiend, wenn du dich wieder als Mensch siehst. Innen fühlen sich die meisten nicht so, die Aufseher behandeln dich nicht so. Die anderen Insassen behandeln dich nicht so. Und dann kommen die Schwestern und vermitteln Dir das Gefühl, dass Du ein Mensch bist. Mein Leben hat sich dadurch verwandelt. Plötzlich war ich frei. Sechs Meter hohe Mauern um mich herum - und ich fühlte mich frei. Zum ersten Mal in meinem Leben. Es rettete mein Leben."
    "Selbst die Härtesten wurden liebenswürdig"
    Paul, Frankie, Alex, Justin, James, Stanley, Moses sind Lebenslange, sie haben gemordet, waren Teil des organisierten Verbrechens. Aber sie haben eine existentielle Bekehrung erlebt und wurden Laien-Mitglieder im Dominikanerorden. Gebet, Gemeinschaft, Studium und der Einsatz für andere sind die Säulen ihres Ordenslebens.
    Wie reagieren die anderen Insassen auf diesen sonderbaren Club?
    "Sie sehen, wie wir uns nach dem Treffen am Sonntagsnachmittag umarmen. Sie verstehen es nicht, wollen wissen, was wir haben, das sie nicht haben. Das macht sie neugierig. Sie kommen zur Messe, und da beginnt dann alles. Unser Umgang miteinander hat die Herzen von Leuten berührt, von denen Du das nie erwartet hättest. Sogar bei den Wachleuten! Wir haben erlebt, wie einige der härtesten Wachleute liebenswürdig wurden. Und fürsorgend. Sie sehen, was vor sich geht. Und der Geist berührt sie und verändert sie."
    "Das Wunder von Norfolk"
    Amazing Grace singen sie zum Einstieg in den Nachmittag. Kein Lied könnte das Grundgefühl dieser Menschen hier tiefer ausdrücken: Sünder, durch Gnade gerettet.
    Ruth Raichle sitzt mit im Kreis, die schmale freundlich dreinblickende 67-jährige, viele Jahre Gefängnisseelsorgerin in Norfolk. Sie veranstaltete Glaubenskurse, brachte Ehrenamtliche ins Gefängnis und schuf ein Netz aus Zuwendung und Freundschaft zu den Gefangenen. Dass daraus – weltweit einmalig – ein Kloster im Knast wurde, bestehend aus dominikanischen Laienbrüdern, ist für sie das Wunder von Norfolk.
    "Das Wunder von Norfolk? Dass sich Herzen wandeln. Einige haben sehr, sehr krasse Verbrechen begangen. Und sie sind die heiligsten Personen geworden."
    Wärme hinter kalten Mauern
    Ruth Raichle war selbst viele Jahre im Orden der Dominikanerinnen von Bethanien, deren Schwerpunkt die Gefängnisseelsorge ist. Gegründet von dem 2012 selig gesprochenen Pater Lataste, dem Apostel der Gefängnisse.
    Die kleine Band und der Chor der Brüder bringen etwas Wärme hinter die kalten Mauern von Norfolk, auch das ist eine Mission und Teil ihres Apostolats hinter Gittern. Je nachdem, ob in ihrem Zellenbau weitere Dominikaner leben, beten die 26 Mitglieder der Laiengemeinschaft das sogenannte Stundengebet zwei Mal täglich gemeinsam oder allein. Montags ist Messe, Mittwochabend und Sonntagsnachmittags Gemeinschaftstreffen.
    Vom Saulus zum Paulus
    Heute ist Marina zu Gast, Philosophie-Dozentin aus Boston, sie spricht über Barmherzigkeit - ein zentrales Stichwort für die Brüder, das wird schnell klar. Wer so dramatisch gescheitert ist, so tief seiner Scham und Schuld ausgesetzt ist wie diese verurteilten Mörder, für den ist es eine existentielle Erfahrung, auf Barmherzigkeit angewiesen zu sein. Tom hat diesen Lernprozess hinter sich. Als er 2010 im Norfolk-Staatsgefängnis die Ewigen Gelübde ablegte, wählte er bewusst den Ordensnamen Paul, weil sich sein Leben von Saulus zum Paulus geändert hatte.
    "Ich war immer ein Mensch voll Wut, und man zieht dann solche Menschen auch an. In der Kirche fiel mir auf, dass die Leute dort diese Wut nicht mehr hatten. Schuld und Scham äußern sich immer in Gewalt, wenn Du das in dir brodeln lässt. Das ist mir genommen worden. Ich kenne Scham für die Verbrechen, die ich begangen habe, dass ich die Familie sich selbst überlassen habe, dass ich nicht anständiger war. Wenn Du mit Scham gelebt hast und sie ist weg, sind auch Wut und Zorn weg. Und ohne das gibt es keine Gewalt."
    "Das Demoralisieren muss aufhören"
    Tom sagt: Die Liebe ist es, die Menschen verändert. Weil das so ist, fällt sein Urteil über das amerikanische Gefängnissystem sehr kritisch aus. Was würde er ändern?
    "Das Demoralisieren der Männer und Frauen müsste aufhören. Aus irgendeinem Grunde legen sie es drauf an, dich zu zerbrechen. Wenn du Leuten rote Overalls anziehst oder sie angekettet nackt über den kalten Flur schleifst, mit Hunden hinten dran, wenn sie das filmen und diese Filme dann als Lehrfilme zeigen, das ist wirklich die schlimmste Form von Entmenschlichung."