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Betörend und verstörend

Albert Ostermaier gehört zu den produktivsten literarischen Stimmen in Deutschland. Über die Lyrik kam er zu Literatur und Theater. Nun hat er eine geheimnisvolle Erzählung geschrieben, die sich zwischen Mythos und Realität in Paris, der Stadt der Liebe, bewegt.

Von Annette Brüggemann | 09.01.2013
    Die Geschichte von Kirke und Odysseus ist Tausende von Jahren alt. Homer erzählt in seiner "Odyssee", wie Odysseus mit seinem Schiff und seinen Gefährten auf der Insel Aiaia landet, wo Kirke, die Zauberin, lebt.
    Alle Besucher auf ihrer Insel, so Homer, hat Kirke in Tiere verwandelt, sodass dort Löwen und Wölfe hausen, die die Neuankömmlinge zärtlich umschmeicheln – ein gefährlicher Hinweis auf die Verführungskünste Kirkes. Odysseus Gefährten missachten die Warnung, lassen sich von Kirkes Gesang in ihre schöne Villa locken und werden allesamt von ihr in grunzende Schweine verwandelt. Nur Odysseus widersteht durch ein göttliches Kraut ihrem Zauber und gewinnt seine Gefährten zurück.

    Albert Ostermaier benutzt die antike Vorlage in seiner geheimnisvollen Erzählung "Die Liebende". Seine Liebende ist eine Kirke der Gegenwart, und zugleich spielt Albert Ostermaier – auf vielschichtige Weise - mit dem Mythos und dessen Klischee. Seine Hauptfigur gilt als Verführerin und Serienmörderin, die reihenweise ihre Liebhaber umbringe. Sie selbst behauptet, sie verwandle sie "in alle möglichen und unmöglichen Gestalten". Dafür ist sie in Paris verhaftet worden, und nun soll der junge Polizeikommissar Olivier sie verhören. Und der ahnt bei aller Coolness und Abgebrühtheit nicht, wen er in dem kleinen Verhörraum auf dem Pariser Polizeidezernat vor sich sitzen hat. Das Verhör mit der alten Frau, die seine Großmutter sein könnte, wie Olivier lächelnd feststellt, wird mehr und mehr zu einem Monolog. In antiquierten, pathetischen Sätzen redet sie auf ihn ein:

    Ich bin es gewohnt, alleine zu sprechen. Ihr hört mir doch zu. Wie einsam ihr seid, wie einsam du bist. Gib mir dein Haar und ich vervielfältige dich. Und du wirst dir zwischen den Klippen begegnen. Und es wird zu eng für zwei von deinem Maß, und die Einäugigen werden zwei Augen haben und sehen, wie du sie blenden willst. Wie du mich geblendet hast und blendest, meine Augen, die ich nur für dich hatte und mit denen überall und in allem ich nur dich sah. Ich bin das Gift und das Gegengift. Ich bin, was du glaubst, das ich bin. Hättest du ein Schwert, würdest du mir drohen, mich in zwei Hälften zu tranchieren, wie ein Schwein. Aber du verfügst nur über deinen schneidenden Blick, der dich stärker trifft als mich. Je mehr du mich begehrst, desto älter werde ich.

    Zunächst betrachtet Olivier sie noch als "verrückte Alte", routiniert aus der Distanz. Sein persönlicher Spaß als Kommissar ist es, die Verdächtigen, die er verhört, nach Autoren zu kategorisieren. "Dante" nennt er die, die ohne Punkt und Komma reden und einen in ihre Erzähllabyrinthe und Höllenschleifen hinein locken wollen. Seine neue Verdächtige, die in keine seiner Kategorien passt, nennt er treffenderweise "Circe". Und auch wenn er sie anfangs nicht ernst nimmt, je länger er ihr zuhört, umso weniger kann er sich ihr entziehen:

    Was war in ihrer Stimme? In ihrer Stimme liegt etwas, beschwor er sich, etwas von Hypnose. Ihre Stimme ist die Stimme einer jungen Frau, prügelte er auf seinen Verstand ein, ihre Stimme führt deine Augen in die Irre, ihre Stimme lässt dein Herz in die Hose rutschen. Er bekam Angst, er sollte unterbrechen, alles abbrechen, sagte er sich, sich krankschreiben lassen. Er schwitzte, sie hatte ihn zum Schwitzen gebracht.

    Olivier zeichnet das Verhör mit einem Diktiergerät auf. Immer wieder hört er sich das Tape an, während er in seinem Auto, einem gelben 76er Porsche, durch das nächtliche Paris rast. Vor Jahren hat Olivier seine Frau verlassen. Seitdem ist er selbst ein Suchender, der von einer Liaison zur nächsten zieht. Schlaflos und einsam ist er geworden.

    Albert Ostermaier verleiht seinen Figuren eine interessante Doppelbödigkeit. Der junge Kommissar Olivier wirkt selbst wie ein moderner Odysseus, ein Reisender, der immer unterwegs ist auf der Suche nach neuen Herausforderungen und Abenteuern und der doch, am Ende, endlich ankommen möchte.

    Die verrückte Alte mit der jungen Stimme in seiner Verhörzelle erinnert Olivier an seine Einsamkeit und Sehnsucht. Er fühlt sich zu ihr hingezogen – in einer Mischung aus Angst und Faszination. Und so überlegt Olivier sogar, sich selbst als Lockvogel ins Spiel zu bringen, um ihrer tödlichen Verführungskunst auf die Schliche zu kommen. Dabei verschwimmen Realität und Mythos für ihn immer mehr:

    Immer sprach sie von Betrug. Machte ihn direkt verantwortlich. Als hätte er sie betrogen, als kennte sie ihn. Als gehörte er zu der großen Zahl der Männer, von denen sie sich betrogen glaubte. Als sei er deren Wiedergänger. Sollte er das nicht ausnutzen, fragte er sich, und sich zum Lockvogel aufbauen. Wenn er für sie Odysseus wäre, müsste sie ihn zu töten versuchen.

    Geschickt webt Albert Ostermaier ein dichtes Netz aus dem alten mythischen Stoff – auch Zitate aus Ovids "Metamorphosen" flicht er ein - und einem Erzählstrang, der in der Gegenwart spielt. Vieles deutet er nur an und lässt es in der Schwebe.

    Die knisternde, düstere Atmosphäre von Albert Ostermaiers Erzählung hat etwas vom Film Noir, von französischen Kriminalfilmen der 1960er-Jahre. Die intensiven Verhörszenen und nächtlichen Autofahrten durch die Stadt lassen filmische Bilder im Kopf entstehen.

    "Die Verführerin" und nicht "Die Liebende" sollte die Erzählung Albert Ostermaiers heißen, denn mit einem romantischen Liebesdiskurs hat sie am Ende nichts zu tun. Olivier wird tot in seiner Küche aufgefunden, im Ohr noch den Kopfhörer seines Diktiergerätes, während ein Zitronenfalter aus dem Fenster fliegt.

    Oliviers "Circe" ist die starke Stimme des Textes. Im Gegensatz zu den antiken, von männlichen Helden dominierten Texten hat hier eine Frau das Wort. Das erinnert an den unvergesslichen Monolog der "Nighttalkerin" in Albert Ostermaiers exzellentem Theaterstück "Radio Noir", die nachts allein am Mikrofon, sirenenhaft und cool, zu Liebe, Revolution und Tod aufruft.

    In Zeiten von "Shades Of Grey", jenem sogenannten "Skandalroman" der britischen Autorin E. L. James auf Groschenheftniveau, der Millionen Käufer fand und der wieder einmal eine junge Frau zur devoten Sexpartnerin eines dominanten, bindungsgestörten Mannes stilisiert, fährt Albert Ostermaier in "Die Liebende" andere Kaliber auf. Souverän schlüpft Albert Ostermaier in die antiken Rollen Kirkes und Odysseus' und katapultiert sie in unsere Zeit. Zwar überwiegt an vielen Stellen das Pathos, trotzdem ist seine Erzählung elegant und rasant erzählt.

    Albert Ostermaier: Die Liebende
    Erzählung. Suhrkamp 2012. 81 Seiten, 14,95 Euro