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Beton im Trend
Stylisches Grau

Wenn es nach Blogs und einschlägigen Wohnzeitschriften geht, hat Sichtbeton die cleane, weiße Wand im Raum schon lange abgelöst. Beton gibt es aber nicht nur an der Wand, er ist auch in den Raum gezogen. Möbel aus Beton sind gefragt. Vom stabilen Baustoff der Architekten ist Beton zum Trend-Werkstoff für alle geworden.

Von Gesine Kühne | 06.11.2015
    Ein Mensch springt auf seinen Bürostuhl und Tisch
    Ob im durchdesignten Büro oder im Wohnzimmer: Sichtbeton liegt im Trend. (imago / Westend61)
    Graues, staubiges Pulver, dazu hellen, feinen Sand und Wasser geben. Beim Vermischen steigt Schlammgeruch in die Nase. Was sich anhört wie die Vorbereitung zum Sandburgen bauen, ist in Wirklichkeit: Beton anmischen. Für zwei Lampenschirme. Selbstgemacht. Angeleitet von einem Do-it-yourself-Buch.
    "Beton hat Einzug im normalen Wohnumfeld im Designkontext bekommen. Also der Kunde hat mittlerweile mitbekommen, es gibt Beton, man kann aus Beton was anderes machen als eine normale Wandschalung."
    Erzählt Alexander Skowronski. Er ist Produktdesigner bei der Leipziger Manufaktur "Betoniu". Das Designunternehmen hat sich auf Möbel und Nippes aus Beton spezialisiert. Tische und Sessel, Obstschalen und Vogelhäuser, sogar Schmuck bieten die Leipziger an. Und selbst wenn die kleine Beton-Streichholzschachtel für knapp 20 Euro letztlich zum Rumstehen verdammt ist, die Kunden kaufen's.
    "Das hängt auf jeden Fall mit der ästhetischen Entwicklung der Gesellschaft zusammen. Beton ist gerade stetig am wachsen und entspricht auch dem Zeitgeist. Weil wir in den letzten Jahren von Plastik überschwemmt und umgeben wurden und Beton ist da eine Gegenbewegung, weil es ein ehrliches, natürliches Material ist."
    Beton wird auch als künstlicher Stein bezeichnet. Der wichtigste Bestandteil ist das Bindemittel Zement, das bei Wasserzugabe reagiert und erhärtet. Die alten Römer haben schon mit einer Zementmischung gebaut - lange vergessen, erlebte der Baustoff dann im 19. Jahrhundert seinen ersten Höhepunkt. Um seine selbst gebauten Blumenkübel aus einer Zementmischung stabiler zu machen, legte der Franzose Joseph Monier ein Drahtgewebe in die Masse. So wurde Stahlbeton erfunden.
    "Beton charakterisiert und kennzeichnet und formt seit 100 Jahren die Architektur."
    Sagt Professor Johannes Cramer. Der Architekt lehrt Baugeschichte an der TU in Berlin.
    "In den 20er Jahren hat der Beton die Architektur von vielen formalen Restriktionen befreit, man konnte plötzlich geschwungene, lebendige, sich bewegende Formen bauen, was vorher praktisch ausgeschlossen war."
    Aber wie hat es der Beton von Außen, von der Außenwand der Gebäude, nach innen, bis in meine Wohnung, genauer gesagt an die Decke meines Flures als neue Lampenschirme geschafft?
    Die Antwort liefert die Geschichte. Architekt Le Corbusier legt in den 50ern an seinen Bauten den Beton frei. Beton Brut oder auch Sichtbeton genannt.
    "Der Sichtbeton war dann eben das Synonym für ehrliche Architektur. Und ehrliche Architektur zeigt sich erst mal nach außen aber im Laufe der Zeit dann auch nach Innen."
    Es sind letztlich einige Betonliebhaber – Architekten, Designer, Zementmischer –, die sich dem grauen Alleskönner verschrieben haben. Klare Linien, eine harte Oberfläche, ein kühler Ton – das passt gut in unsere Post-Eichenschrankwandzeit. Weg vom Schnörkel, hin zum Minimalismus.
    Die Lampenschirme sind inzwischen gegossen. Zwischen zwei Plastikschüsseln hat sich die zähflüssige graue Masse breit gemacht. Die restliche Zementmischung wird in eine Pappform gekippt. Herauskommen soll ein diamantförmiger Betonklotz. Wofür ich diesen brauche? Vermutlich gar nicht. Dass ich ihn trotzdem gut finde, erklärt der Uni-Professor Johannes Cramer so.
    "Heute lebt die Architekturgestaltung und das Design ja auch letzten Endes immer mehr von Paradoxien, wo der Betrachter sich wundert, dass mit einem solchen Material ein solches Gebilde entstehen konnte. in dem Zusammenhang ist natürlich auch ein Diamant aus Beton ein vollkommen logisches Produkt für unsere Zeit, weil es den Nutzer oder die Nutzerin zum Erstaunen bringt."
    Dank der Schwämme an Selbstmachanleitungen und betonlobpreisenden Stylebloggern werden sich unsere Augen aber bald an den grauen Anblick gewöhnt haben. Spätestens dann bemerken wir, dass Betonnippes – auch in Diamantform – genauso untrendy einstaubt wie Plastik-, Holz- und Metallkrimskrams.