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"Betriebsblinde" Ermittlungen

Ein absichtliches Wegsehen bei den Ermittlungen zu den NSU-Morden sei nicht erkennbar, sagt Clemens Binninger, Unionsobmann im NSU-Untersuchungsausschuss. Beim Anschlag 2004 in der Kölner Keupstraße hätten sich die Ermittler aber zu früh auf organisierte Kriminalität festgelegt und dann nur noch in diese Richtung ermittelt.

Clemens Binninger im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 26.04.2013
    Tobias Armbrüster: Wenn der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages tagt, dann kann man sich eigentlich immer sicher sein, dass neue Details über schlampige Ermittlungsarbeit von Polizei und Verfassungsschutz ans Tageslicht kommen. Das war auch gestern wieder so: In der Ausschusssitzung ging es um den Bombenanschlag in der Kölner Keupstraße im Jahr 2004. Zwei Polizisten, die kurz vor diesem Anschlag am Tatort waren, wurden damals überhaupt nicht befragt. Außerdem wussten die Ermittler nicht, wie sie die Sprengstoffdatei des Bundeskriminalamtes richtig nutzen konnten.

    Bei uns am Telefon ist jetzt Clemens Binninger von der CDU, Unionsobmann in diesem Untersuchungsausschuss. Schönen guten Morgen, Herr Binninger.

    Clemens Binninger: Guten Morgen, Herr Armbrüster.

    Armbrüster: Herr Binninger, wie erklären Sie sich, dass die Ermittler damals vor neun Jahren so dermaßen nachlässig vorgegangen sind?

    Binninger: Ich glaube, man hat sich sehr früh einfach auf eine Ermittlungsrichtung festgelegt. Das war damals wieder die Vermutung, organisierte Kriminalität, aus diesem Bereich muss es kommen, müssen die Täter kommen. Und hat dann alles fast ein bisschen betriebsblind in diese Richtung ermittelt und hat dadurch wesentliche Hinweise übersehen. Oder hat auch Möglichkeiten nicht genutzt, von denen ich heute sage, sie hätten zur Aufklärung der Tat und zur Entdeckung der Täter führen können.

    Armbrüster: Haben Sie denn den Eindruck, dass die Polizei heute aus diesen Fehlern gelernt hat. Oder könnte das so noch mal passieren?

    Binninger: Ich glaube, dass heute alle Akteure im Sicherheitsbereich, die Verfassungsschutzbehörden, die Justiz und natürlich auch die Polizei aus diesen Dingen gelernt haben und ja auch jeden Tag noch dazulernen. Ganz ausschließen kann man Fehler nie, das wäre jetzt illusorisch, so etwas zu behaupten. Aber ich glaube schon, dass die Lehren gezogen wurden und so etwas, also eine schlechte Auswertung von Videobändern, eine Nichtnutzung einer Datei, Nichtvernehmung von Zeugen, nicht mehr vorkommen würde.

    Armbrüster: Dahinter, könnte man ja vermuten, könnte auch durchaus mehr stecken als Schlamperei.

    Binninger: Nein. Wir haben ja auch immer dieser Frage eine besondere Bedeutung beigemessen. Gibt es hier ein Versagen, das über, wie soll man sagen, handwerkliche Fehler, Fehleinschätzungen, Schlampereien hinausgeht. Aber da sind wir uns im Ausschuss schon einig über alle Fraktionen hinweg, dass ein bewusstes, ein absichtliches Versagen, ein absichtliches Wegsehen der Sicherheitsbehörden oder sonst irgendeine gravierende andere Aktion nicht vorliegt. Aber es ist so auch schlimm genug. Und ich sage immer, in Köln hätte es so viele Hinweise gegeben, dass man diese Tat hätte aufklären können, vielleicht sogar hätte aufklären müssen.

    Armbrüster: Aber müsste man nicht, wenn das Versagen ja so offensichtlich ist, gegen die Verantwortlichen von damals notfalls auch juristisch vorgehen?

    Binninger: Das ist schwierig und so weit würde ich auch nicht gehen. Machen wir es an den Beispielen fest: Da gibt es diese Sprengstoffdatei, die jedes Sprengstoffdelikt in Deutschland erfasst, schon immer mit verschiedenen Merkmalen. Der Schwerpunkt liegt natürlich auf dem Sprengstoff selber mit 200 Merkmalen, wo aber auch Täter erfasst werden. Diese Datei wird üblicherweise dazu genutzt, um die Sprengstoffe zu vergleichen, weil man wissen will, wo ist dieser Sprengstoff schon mal verwandt worden, um so Zusammenhänge zu erkennen. Dass man dann vor lauter Routine nicht auch sagt, können wir nicht auch nach Tätern suchen, die dort auch gespeichert sind – Mundlos und Böhnhardt waren ja mit sieben Sprengstoffdelikten in dieser Datei gespeichert. Man hätte ein Video der Täter in Köln gehabt, wo man das hätte vergleichen können. Das ist ein tragischer Fehler. Aber da würde ich jetzt keinen Vorsatz unterstellen. Das gleiche gilt für die Nichtvernehmung der Polizeistreife, die sich etwa eine Stunde lang in der gleichen Straße wohl aufgehalten hat wie die beiden Täter vor der Tat und wo wir heute von den Videobildern wissen, dass einer der beiden Täter wahrscheinlich direkt auf die Streife zufuhr, als er geflüchtet ist. Die wussten natürlich nicht, wer sich da entfernt. Aber dass man die Beamten neun Jahre lang nicht vernommen hat, auch da würde ich jetzt keine Absicht unterstellen, sondern das, was ich zu Beginn gesagt habe, ein schweres Versäumnis. Aber es war dieses betriebsblinde Vorgehen, es ist organisierte Kriminalität und wir ermitteln da in eine andere Richtung. Und dann brauchen wir diese Informationen nicht. Das war der tragische Fehler und auch das, was wir ja immer wieder kritisieren.

    Armbrüster: Herr Binninger, wenn man sich in diesen Tagen mit türkischen oder türkischstämmigen Deutschen unterhält, dann kriegt man häufig zu hören, das können alles keine Pannen gewesen sein, das können nicht nur Ermittlungsfehler gewesen sein. Vor allem, weil sich diese Fehler ja auch an vielen anderen Tatorten wiederholt haben. Da heißt es dann immer wieder, die Terroristen des NSU, die müssen Helfer in den Behörden gehabt haben. Haben Sie für so eine Sicht Verständnis?

    Binninger: Ja, wir kriegen das auch vorgetragen. Aber wir müssen da auch dagegen halten und tun das auch, dass wir sagen, wir sind dieser Frage nachgegangen. Wir haben wirklich keinerlei Beleg dafür bekommen. Und ich will auch einen Punkt anführen, der das überhaupt nicht entschuldigt, aber ein Stück weit auch erklärt. Ich meine, der Föderalismus ist hier mit seinen Sicherheitsbehörden an die Grenzen seiner Möglichkeiten gekommen. Wir haben aber Fehler, die sich auf viele verschiedene Behörden und verschiedene Bundesländer verteilen. Die Fälle waren ja verteilt über ganz Deutschland und jedes Mal war jemand anders zuständig. Das heißt, das was heute in einer so beispiellosen Summierung an Fehlern uns entgegenkommt, verteilt sich aber natürlich auf verschiedenste Zuständigkeiten. Deshalb muss man das da auseinanderhalten und wir sagen, nein, solche Belege, Hinweise gibt es nicht. Aber wir nehmen alle Hinweise ernst. Wir sind ja auch der Sache gestern mit den nicht vernommenen Polizeibeamten deshalb nachgegangen, weil uns ein Anwohner der Keupstraße geschrieben hat und da gesagt hat, da waren noch zwei, die kamen mir vor wie Zivilbeamte. Ich weiß aber nicht, was die da gemacht haben. Und deshalb sind wir dem nachgegangen, haben jetzt entdeckt, dass das wichtige Zeugen hätten sein können. Die wurden neun Jahre lang nicht vernommen, aber mehr können wir ausschließen. Aber es ist trotzdem schlimm genug. Aber wir sind diesen Dingen immer nachgegangen. Aber ein Mitwirken der Sicherheitsbehörden können wir wirklich, egal in welcher Form, nach 15 Monaten Arbeit ausschließen.

    Armbrüster: Die Bundesregierung musste sich jetzt im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen unangenehme Fragen anhören wegen dieser Ermittlungspannen. Wie groß ist der außenpolitische Schaden nach dieser Mordserie?

    Binninger: Ich glaube, dass natürlich die negativen Wirkungen vor allen Dingen nach Auffliegen des Trios 2011 und nach den Pannen, die dann so Schritt für Schritt ans Licht kamen, zunächst schon nicht unerheblich waren. Aber ich glaube auch, dass wir, so hoffe ich zumindest, durch unsere Arbeit im Ausschuss, durch die Konsequenzen, die gezogen werden im Sicherheitsbereich, und auch die Art der Debatte, wie wir sie jetzt geführt haben, dazu beitragen, dass das Vertrauen auch wieder zurückkommt. Wir waren mit dem Ausschuss in der Türkei, hatten viele Gespräche mit Regierungsvertretern. Auch dort hatten wir den Eindruck, dass man sieht, dass wir uns um die Fehler, um die Ursachen kümmern, auch Konsequenzen ziehen. Und deshalb, glaube ich, wird auch da das Vertrauen wieder zurückkehren.

    Armbrüster: Herr Binninger, jetzt startet in wenigen Tagen in München der verschobene Prozess gegen Beate Zschäpe. Das Bundesverfassungsgericht hat gestern entschieden, es wird keinen zusätzlichen Raum für Journalisten geben, die Zahl der Medienvertreter bleibt also auf etwa 50 begrenzt. Ist das eine sinnvolle Entscheidung?

    Binninger: Die Entscheidung des höchsten deutschen Gerichts will ich jetzt so auch nicht bewerten. Ich hatte immer gesagt, es wäre wünschenswert, wenn so was ginge. Jetzt hat das Gericht anders entschieden, dann muss man es so respektieren. Ich will aber auf einen Aspekt hinweisen, den das Oberlandesgericht ja nach den Startschwierigkeiten jetzt doch, glaube ich, als gute Lösung präsentiert, nämlich dass das Gericht, anders als ursprünglich vorgesehen, jetzt den Journalisten anbietet, dass sie jederzeit, die, die Plätze bekommen, ihren Platz auch mit Kollegen wieder tauschen können. Und sind wir realistisch: An vielen Verhandlungstagen glaube ich nicht, dass alle 50 Journalistenplätze besetzt sind, sodass da auch immer ein guter Austausch erfolgen kann. Aber gleichwohl wäre es schön gewesen, wenn man noch einen anderen Weg gefunden hätte. Aber der Raum hat Sicherheitsauflagen, das dürfen wir auch nicht ganz vergessen. Die Größe wird immer begrenzt sein, es ist ein Prozess, der unter besonderen Sicherheitsauflagen steht und deshalb auch die Plätze weniger sind. Insofern, glaube ich jetzt, sollte der Prozess, wenn er jetzt beginnt, in der Aufmerksamkeit stehen, die er verdient. Da geht es jetzt um die Aufklärung der Taten und da erhoffe ich mir auch noch einiges.

    Armbrüster: ..., sagt Clemens Binninger von der CDU, Unionsobmann im NSU-Untersuchungsausschuss. Vielen Dank, Herr Binninger, für das Gespräch.

    Binninger: Bitte schön, Herr Armbrüster.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.