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Bevölkerungsentwicklung
Demografische Krise war gestern

Viel, lange und laut wurde vor der schrumpfenden und alternden Gesellschaft gewarnt. Doch nun steigen die Geburtenraten wieder an, die Migration nimmt zu. Für die Rentenkasse und das Bildungssystem ist das aber kein Grund zur Entwarnung. Im Gegenteil: Neue Herausforderungen warten bereits.

Von Ingeborg Breuer | 21.12.2017
    Für ein Foto liegen viele Babys zusammen auf der Neugeborenenstation im Krankenhaus St. Elisabeth und St. Barbara in Halle in ihren Bettchen, aufgenommen am 05.01.2011.
    Für ein Foto liegen viele Babys zusammen auf der Neugeborenenstation im Krankenhaus St. Elisabeth und St. Barbara in Halle (picture alliance / dpa / Waltraud Grubitzsch)
    "Wir sind hier so zwischen Friedrichshain und Kreuzberg in Oberbaum-City und es fährt hier ein Kinderwagen nach dem nächsten. Also in der Tram hierher waren auf den zwei Kinderwagenplätzen vier Kinderwagen." Berliner Eltern über den Babyboom in Berlin
    "Ich war überrascht, wie schwierig es ist, eine Wohnung zu finden. Gefühlt gibt es einfach nichts. Und wenn es was gibt, gibt es so viele Leute, dass man eigentlich keine Chance hat." Florian Fischer, Wohnungssuchender in Mainz.
    "Wir haben jetzt schon ein strukturelles Problem, was die Lehrerversorgung angelangt, das würde uns enorm treffen." Yvonne Gebauer, Schulministerin in NRW über steigende Schülerzahlen.
    Laute Warnrufe
    Manch einer mag sich verwundert die Augen reiben: Babyboom? Zuzug in deutsche Großstädte? Lehrermangel aufgrund steigender Schülerzahlen? War nicht jahrelang vor einer vergreisenden Gesellschaft, vor überlasteten Rentenkassen, vor schrumpfenden Städten gewarnt und das Ganze mit dem Attribut "unabwendbar" versehen worden? Herwig Birg etwa, emeritierter Bevölkerungswissenschaftler an der Uni Bielefeld, warnte im Jahr 2006:
    "Die Nichtgeborenen der letzten 30 Jahren fehlen jetzt als Eltern, sie können beim besten Willen keine Kinder haben. Folglich schrumpft die Bevölkerung. Auch wenn die Geburtenrate nicht weiter sinkt, muss die Bevölkerung mit mathematischer Sicherheit schrumpfen, weiter abnehmen, denn das tut sie seit 1972. Schrumpfung ist für mindestens fünf Jahrzehnte unvermeidlich."
    Und jetzt? "Schrumpfen war gestern" hieß es in einer Pressemitteilung des Instituts der deutschen Wirtschaft Anfang dieses Jahres. Dr. Reiner Klingholz, Leiter des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung bestätigt diesen Trend: "Für diese Auffassung, dass das Schrumpfen vorbei ist, sprechen zwei Gründe. Erstens sind die Kinderzahlen in Deutschland wieder gestiegen, aber nur sehr leicht, das bringt relativ wenig. Wesentlich wichtiger ist, dass die Zuwanderung seit zwei, drei Jahren massiv gestiegen ist. Die lag jahrelang so im Schnitt nur bei 200.000 pro Jahr. 2015 und 2016 sind aber insgesamt zwei Millionen Menschen nach Deutschland gekommen. Und deswegen haben wir jetzt andere Aussichten."
    Die Geburtenrate steigt
    Dr. Sebastian Klüsener vom Max-Planck-Institut für demographische Forschung in Rostock ist Experte für Fertilität, also für Geburtenentwicklung. Auch er bestätigt: "Insgesamt sehen wir in ganz Deutschland im Moment einen relativ robusten Aufwärtstrend."
    Im Jahr 2009 lag die Geburtenrate in Deutschland bei durchschnittlich 1,36 Kindern. Mittlerweile aber ist sie auf den höchsten Wert seit der Wiedervereinigung gestiegen: "Wenn man die jährlichen Zahlen betrachtet, liegen wir bei 1,5 Kindern pro Frau, das ist immer noch im internationalen Vergleich auf einem sehr niedrigen Niveau. Uns ist eigentlich auch sehr viel wichtiger die Zahl der Kinder, die Frauen dann während ihres gesamten Lebens bekommen. Und da ist die positive Entwicklung, dass wir da auch endlich wieder einen Aufwärtstrend sehen, der auch um 1,5 sich bewegt und auf die 1,6 jetzt zugeht."
    Dass in Deutschland wieder mehr Kinder geboren werden, hat für Sebastian Klüsener verschiedene Gründe: "Im Moment ist es für Deutschland positiv, dass wir eine sehr positive wirtschaftliche Entwicklung haben, dass wir sehr zuversichtlich in die Zukunft schauen und dann eher bereit sind, Kinderwünsche zu realisieren. Die Familienpolitik spielt eine Rolle und sie spielt insbesondere eine Rolle für Akademiker, die in Deutschland ja sehr wenig Kinder bekommen. Und wenn man weiß, man kann in den Beruf zurückkehren nach der Geburt des Kindes und das Kind ist dann auch versorgt, was die Betreuungssituation angeht, dass dann auch Akademikerinnen sich für ein Kind entscheiden."
    Sebastian Klüsener ist optimistisch, dass der Trend zum Kind auch in Zukunft anhält. Denn möglicherweise werden kinderlose Paare durch Geburten im eigenen sozialen Umfeld motiviert, selbst eine Familie zu gründen. Doch so erfreulich der "Babyboom" auch ist, allein reicht er nicht aus, die Bevölkerungszahl auf dem gleichen Stand zu halten.
    Bevölkerungswachstum liegt vor allen an Migration
    "Um eine Bevölkerung stabil zu halten, bräuchten wir 2,1, einfach damit die Kindergeneration zahlenmäßig so groß ist wie die Elterngeneration. Und da liegen wir mit 1,5 immer noch deutlich drunter", so Dr. Christian Fiedler vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung. Er weist zugleich darauf hin, dass das Ansteigen der Geburtenzahlen auch zurückzuführen ist auf die geburtenstarken Jahrgänge der sogenannten Babyboomer. Diese nämlich hätten viele Kinder bekommen, die heute im gebärfähigen Alter seien und selbst wieder Kinder bekämen.
    "Es liegt auch daran, dass wir momentan eine sehr starke Generation haben, die in dem Alter zwischen 25, 35 Jahren sich befindet. Das sind die Kinder der Babyboomer. Und weil die Babyboomer so stark vertreten waren, setzt sich das wie ein Echoeffekt in die nächste Generation weiter. Und es ist absehbar, dass dieser Berg auch irgendwann wieder in ein Tal gehen wird und dass die nächste Generation nicht mehr so stark sein wird. Und dann gibt es entsprechend weniger Kinder."
    Dass die Bevölkerung in Deutschland derzeit wächst, liegt vor allem an der Zuwanderung, zum einen einer Zuwanderung aus wirtschaftlich schwächeren europäischen Ländern. Zum anderen aber hat die Flüchtlingswelle aus den Krisengebieten seit Sommer 2015 zu einem deutlichen Anwachsen der Bevölkerung geführt. Vom Statistischen Bundesamt sind diese Zahlen noch kaum erfasst, aber das Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln versuchte mittlerweile, diese neuen Zuzüge zu berechnen. Philipp Deschermeier über das Ergebnis:
    "Wir gehen davon aus, dass durch die hohe Zuwanderung die Bevölkerung bis 2021 auf etwa 83,9 Millionen ansteigen wird. Wir erwarten, dass sich das Wanderungsgeschehen danach deutlich stabilisiert und erwarten einen Bevölkerungsstand von etwa 83,1 Mio. Menschen. Das sind etwa drei Millionen mehr als das Statistische Bundesamt in seiner Vorausberechnung angibt."
    Unklare Bevölkerungsentwicklung
    Langfristige verlässliche Prognosen zum Bevölkerungswachstum sind zurzeit schwierig zu treffen. Bis 2060 bleibe die Einwohnerzahl der deutschen Bevölkerung nahezu stabil, schätzt die Bundesregierung in ihrer neuesten Demografie-Bilanz. Das Statistische Bundesamt wiederum geht für 2060 von Bevölkerungszahlen zwischen 67,6 und 76,5 Millionen aus. "Deutschland schrumpft. Irgendwann", textete das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung bewusst vage im November: "Ab 2030 ungefähr wird’s allmählich zu einem langsamen Rückgang der Bevölkerung kommen, der sich dann, das sind die langfristigen Prognosen, auch noch ein bisschen verstärkt. Aber das sind Vorausberechnungen, die sind natürlich nur so gut, wie die Annahmen, die ihnen zugrunde liegen. Und je länger der Zeitraum ist, den man für diese Prognose ansetzt, desto schwieriger wird es auch, diesen Punkt zu treffen."
    Und was ist nun mit der "demografische Krise", vor der Bevölkerungswissenschaftler seit Jahren immer wieder warnten? Verlieren nun, wo es mehr Kinder und mehr Zuzug vor allem jüngerer Menschen gibt, die Szenarien einer vergreisenden Republik ihren Schrecken?
    "Die Alterung lässt sich dadurch praktisch nicht aufhalten, denn die stärksten Altersgruppen in Deutschland sind die sogenannten Babyboomer, in den 60ern geboren, die sind heute 50 - 60 Jahre alt. Und die bestimmen die Alterung im Wesentlichen, das ist so ne richtige Beule in der Bevökerungspyramide. Und 2030 zum Höhepunkt der Verrentung dieser Jahrgänge beginnen dann die massiven Probleme am Arbeitsmarkt und in den Sozialkassen."
    Denn, ergänzt Christian Fiedler: "Gleichzeitig haben wir immer weniger junge Leute, die entsprechend in den Arbeitsbereich aufsteigen, deswegen wird es da eine Herausforderung werden, das System in der Balance zu halten. Nur es gibt immer wieder die Berechnungen, wie wird die Rente angepasst, wie wird der Beitragssatz der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten angepasst? Das wird ja immer schon mit dem demografischen Faktor berücksichtigt."
    Migranten könnten Babyboomer-Lücke schließen
    Natürlich könnte der verstärkte Zuzug von jungen Migranten die Sozialsysteme entlasten, wenn sie schnell auf dem Arbeitsmarkt integriert würden. Aber - auch wenn genaue Zahlen noch kaum vorliegen - gestaltet sich die Ausbildung junger Geflüchteter schwierig: "Das liegt natürlich auch daran, dass diese Menschen dann selber von sich aus viel investieren müssen, also zwei, drei, vier Jahre vielleicht in das Spracherlernen und eine Ausbildung. Und das ist vielen zu lang, weil sie Geld verdienen wollen. Und deswegen vermeiden manche eine Ausbildung und gucken, dass sie schnell an Geld kommen mit einem simplem Job. Trotzdem sollte man die, so gut es geht, in die Arbeit integrieren. Das kostet Geld und das wissen alle. Die sind jung und bestenfalls sind die in ein paar Jahren so gut ausgebildet , dass sie dann, wenn die Babyboomer in Rente gehen, bereit stehen, um diese Lücke im Arbeitsmarkt zu stopfen."
    Gerd Bosbach allerdings, Professor für Statistik an der Hochschule Koblenz hält die "Demografie-Logik" nach der die Altersstruktur einer Gesellschaft zwangsläufig deren Wohlergehen bestimmt, für einen Trugschluss: "Dieser reine Blick auf Bevölkerungsdaten und das als fast entscheidendes Kriterium für unsere Zukunft zu nehmen, das ist absolut beschränkt. Wenn man glaubt, ne jüngere Gesellschaft ist eine bessere als eine ältere, dann hätte es uns im 19. Jahrhundert viel besser gehen müssen, weil das war eine junge Gesellschaft. Und heute müsste es Ländern wie Bangladesch, Pakistan, Nigeria sehr gut gehen, weil die eine junge Bevölkerung haben, und Ländern wie Deutschland, Schweden und USA geht so, aber auch Japan, denen müsste es sauschlecht gehen, weil die eine alte Bevölkerung haben."
    Gerd Bosbach, Mitautor des in diesem Jahr erschienenen Buchs "Die Zahlentrickser" hält die Befürchtungen, die mit der Alterung der Gesellschaft verbunden sind, für generell unbegründet. Seit 1870 gebe es amtliche Daten zur Bevölkerungsstruktur und seitdem seien die Deutschen immer älter geworden. Schlechter allerdings sei es ihnen nie gegangen.
    "Seit 1990 ist die Lebenserwartung in Deutschland um über fünf Jahre gestiegen, der Anteil der über 65-Jährigen hat sich um mehr als 40 Prozent erhöht, der Anteil der Jungen ist um 14 Prozent zurückgegangen. Also aus demografischen Gesichtspunkten Horrorzahlen, innerhalb von 25 Jahren so eine Alterung. Und wie hat sich die Wirtschaft entwickelt seit der Zeit? Netto nach Abzug der Preissteigerungen ist die um 40 Prozent gestiegen."
    "Zu wenig Lehrer, zu wenig Schulen"
    Solange es Wirtschaftswachstum und Produktivitätssteigerungen gebe, so Gerd Bosbach, gebe es kein Rentenproblem, allenfalls ein Problem der Verteilung der Produktivitätsgewinne. Und für ähnlich unbegründet hält er auch die Warnungen vor einem zunehmenden Fachkräftemangel, wie er von vielen Seiten artikuliert wird.
    "Ich sehe im Moment im Prinzip einen ganz anderen Faktor. Wir haben zu wenig Lehrer, zu wenig Schulen. Zehn Jahre hatten wir immer weniger Ausbildungsplätze als Bewerber. Wir haben an den Hochschulen teilweise eine Vervierfachung der Studierendenmenge, d.h. wir bilden die Leute immer schlechter aus. Und jetzt hat man in Deutschland auf Teufel komm raus die Studierendenquote gesteigert, wir liegen mittlerweile bei 55% eines Jahrgangs, die studieren. Dann bleiben natürlich weniger übrig, die eine normale Ausbildung anfangen. Zu viele an die Hochschulen und zu wenige in eine qualifizierte Ausbildung."
    Entwarnung in puncto Fachkräftemangel gibt auch der langjährige Direktor des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts Wolfgang Straubhaar. Es gehe vielmehr darum, bislang "ungenutzte Arbeitspotenziale" etwa durch lebenslange Bildung oder Schaffung attraktiver Arbeitsbedingungen in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Zudem geht der Volkswirtschaftler davon aus, dass durch die Digitalisierungsprozesse der Industrie 4.0 der Bedarf an Fachkräften ohnehin reduziert werde. Ein langfristiger Rückgang der Bevölkerung sei deshalb durchaus wünschenswert. Eine These, die Reiner Klingholz für verfrüht hält:
    "Zu der Frage - Industrie 4.0 frisst unsere Arbeitsplätze weg - das weiß keiner. Die Vergangenheit spricht eher dagegen. Denn es gibt seit der Zeit, als in Deutschland noch 90 Prozent aller Menschen in der Landwirtschaft gearbeitet haben, zahllose Rationalisierungswellen. Ein Mähdrescher leistet die Arbeit von 1000 Menschen mit der Sense. Das heißt aber nicht, dass die Beschäftigung in Deutschland zurückgegangen ist. Im Gegenteil, die Menschen arbeiten eben nicht mehr an der Sense, sondern die können heute sinnvollere produktivere Arbeiten verrichten."
    "Keine Prognosen wäre naiv"
    "Prognosen sind schwierig, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen." Wer auch immer diesen Satz formulierte, der hatte recht. Und je weiter der Blick in die Zukunft geht, desto ungenauer wird er.
    "Ich mach’s am liebsten an der Vergangenheit klar. Wenn 1965 die damalige erste Große Koalition, wenn die gesagt hätten, 2015 wird das soundso sein, die hätten alles Mögliche übersehen, die hätten den Pillenknick übersehen, die hätten erstmals den Bau der Mauer mit der Wirkung, Öffnung der Mauer, Jugoslawienkrieg mit Zuwanderung, alles hätten die übersehen. Und ich habe mir die alten Prognosen mal angeguckt und keine von denen hat zehn Jahre einigermaßen treffsicher gearbeitet, alle sind dann durch neue ersetzt worden."
    Dr. Tim Aevermann, Geograf, stimmt Gerd Bosbach durchaus zu: "Es ist klar, je weiter wir in die Zukunft gehen, desto unsicherer wird es." Aber trotzdem hält der Wissenschaftler am Bundesamt für Bevölkerungsforschung Prognosen für unbedingt notwendig: "Es wär völlig naiv keine Prognosen zu machen, einfach in den Tag hineinleben und dann entscheiden, was wir morgen machen. Natürlich sollten wir versuchen, das Wissen, was wir haben, zu nutzen und planen und dann in Anständen immer wieder nachjustieren. Das ist die einzig verantwortungsvolle Möglichkeit, die wir haben."