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"Bewaffnete Gewalt gegen Unbewaffnete"

Das Phänomen ist brandgefährlich, omnipräsent und bedroht die Grundfesten unserer Zivilisation. Seit einigen Jahren dient der Terrorismus als Universalantwort auf die Frage "Warum müssen wir uns rüsten?" – wie die gleiche Frage vor einem Vierteljahrhundert unweigerlich zur Replik führte: wegen der sowjetischen Übermacht.

Von Florian Felix Weyh | 14.04.2005
    Doch je mehr wir vom Terrorismus hören, desto weniger kennen wir ihn. Dieser Umstand treibt den britischen Zeitgeschichtler Charles Townshend nachhaltig um. Militärisch gesehen, dürfte Terrorismus eigentlich kein Problem sein, denn die Zahl von Opfern und Gegnern ist – machtzynisch gesprochen – zu vernachlässigen:

    "Sogar in Israel, so hat man betont, würde die Zahl der seit dem Krieg von 1967 durch terroristische Anschläge getöteten und verletzten israelischen Bürger kaum eine gesonderte Erwähnung in der nationalen Sterblichkeits- und Morbiditätsstatistik verdienen, würde man ihre Bedeutung nur rein quantitativ betrachten."

    Doch die Terroristen wissen, dass nicht die Toten des Schlachtfelds zählen, sondern ausschließlich die psychologische Wirkung ihrer Anschläge. Während Kombattanten im Krieg wissen, dass sie Kombattanten sind, trifft der Terror stets Unbeteiligte:

    "Damit haben wir einen Schlüssel zu dem, was ich als "reinen" Terrorismus bezeichnen möchte. Ziele sind möglicherweise in einem objektiven Sinn nicht unschuldig, aber sie müssen, praktisch gesehen, wehrlos (weich) sein. Das Wesen des Terrorismus besteht in der Anwendung von bewaffneter Gewalt gegen Unbewaffnete. "

    Die russischen Anarchisten des 19. Jahrhunderts brachten erstmals die neue Brutalität in die Welt, die sie mit "Propaganda der Tat" überschrieben. Will heißen: Man beseitigte nicht den unerreichbaren Tyrannen – in dem Fall den Zaren – sondern beliebige subalterne Stellvertreter, um zu beweisen, dass das System verletzbar sei. Mit paradoxem Ergebnis:

    "Obwohl die Anarchisten unablässig nach den Schwachstellen der staatlichen Verbindungswege Ausschau hielten, schien die traurige Wahrheit zu sein, dass die repressivsten Staaten durch terroristische Attacken am wenigsten verwundbar waren – und zwar eben deswegen, weil die öffentliche Meinung in diesen Staaten politisch ohne Bedeutung war. Demokratien waren weitaus anfälliger, doch die edel gesinnten Terroristen strichen sie von ihrer Liste möglicher Ziele. "

    "Edle" Terroristen gibt es nicht mehr – wenn es sie je gegeben hat! –, längst sind Demokratien zum Idealziel aller Anschläge avanciert, weil sie sich als verwundbarer erwiesen denn jedes autokratische Regime. Demokratien tun den Terroristen meist dann auch noch den Gefallen, sich nach den erfolgten Attentaten genau in jene Richtung zu verändern, die schon vorher von den Terroristen behauptet wurde: self-fulfilling prophecy als Ansporn für weitere Taten. Allerdings sind die unedlen Terroristen unserer Tage auch keine Psychopathen, das zumindest besagen die psychologischen Täterprofile.

    Erstaunlich hoch bei dieser "asymetrischen Kriegsführung" gegen einen verhassten Staat – sei’s der eigene oder ein fremder – ist der Anteil von Frauen; bei der deutschen RAF war das ebenso, wie es bei den palästinensischen Kommandos ins Auge springt. Womit man unweigerlich vor der Frage steht: Warum tun die das? Welcher Mensch, welche Mutter löscht ungerührt zahllose Leben von Unschuldigen aus, um sich einem in weiter Ferne liegenden, utopischen politischen Ziel zu nähern? Wie groß muss der Hass sein, wie beschränkt die eigene Realitätswahrnehmung?

    Darauf weiß Charles Townshend keine klare Antwort, weil es sie vermutlich nicht gibt. Terrorismus ist in seinen Grundzügen so irrational, dass mehr als eine Taxonomie bestehender Phänomene kaum je möglich sein wird, und hier leistet der fleißige Professor aus Newcastle-under-Lyme akribische Vorarbeiten. Sollte die Periode des Terrorismus irgendwann einmal beendet sein, werden Interpreten dieser Taxonomie vielleicht herausfinden, welche mentalen Ursachen den blutigen Verirrungen zugrunde lagen.

    Für uns heute bleibt das Phänomen undurchschaubar und lässt nur einen praktischen Schluss zu: die wahren Kräfteverhältnisse zu sehen und sich nicht panisch machen zu lassen. Die Gefahr, durch einen Terroranschlag zu Schaden zu kommen, bleibt minimal, während die Bedrohung unseres Rechtsstaats durch inadäquate Reaktionen ungleich größer ist. Terror siegt, wenn er Verhältnisse schafft, die weiteren Terror zu rechtfertigen scheinen. Für diese zentrale Erkenntnis muss man das gelbe Reclambändchen freilich nicht zu Rate ziehen.

    Terrorismus. Von Charles Townshend. Reclam Verlag