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Bewegungsstudie
"Straßenkindheit" fördert kindliche Intelligenz

Toben auf der Straße macht schlau: So lapidar könnte man die Studie "Raum für Kinderspiel" des Freiburger Instituts für Angewandte Sozialwissenschaft zusammenfassen. Darüber hinaus werden Kreativität und Motorik gefördert. In der Praxis gibt es allerdings zu wenig Raum für Bewegung.

Von Ulrike Burgwinkel | 24.07.2014
    Das begehbare Kunstwerk "Labyrinth" des Berliner Künstlers Olaf Nicolai aus Pariser Straßenfegerbesen.
    Toben macht klug? Eine Studie will zeigen, dass daran etwas dran sein könnte. (picture alliance / ZB / Waltraud Grubitzsch)
    Eine "Straßenkindheit" ist heute nicht mehr ein für soziale Unterschichten typisches Phänomen, sondern eher für Kinder aus dem Bereich gutsituierter Mittelschichten. Durch Ganztags-Kita und -Schule verschiebt sich allerdings die kindliche "Freizeit" an andere Orte. Dass Bewegung, Sport und Spielen (außerhalb der Wohnung und im besten Fall ohne elterliche Kontrolle) der kindlichen Entwicklung förderlich sind, wird von Sportwissenschaftlern, Entwicklungspsychologen und Neurowissenschaftlern immer wieder hervorgehoben.
    Erste Studie in den 90er-Jahren
    Diese Annahme hat sich bestätigt. Der Familiensoziologe Baldo Blinkert hat gemeinsam mit seinem Kollegen Peter Höfflin von der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg die im Frühsommer erschienene Studie "Raum für Kinderspiel" geleitet. Sie basiert auf den Erkenntnissen der ebenfalls von ihnen durchgeführten Freiburger Kinderstudie aus den 1990er Jahren. Die Stadt hatte damals laut Baldo Blinkert prompt reagiert:
    "Die konventionellen Spielplätze wurden ziemlich radikal umgeändert. Wir haben der Stadt empfohlen, dass es wichtig sei, dass Kinder attraktive Spielorte haben und nicht diese langweiligen konventionellen Spielplätze mit Rutschen und Kriechtieren und Wackeltieren, wo man dann wirklich nichts anderes machen kann als kriechen und wackeln."
    Auf Initiative der Kommunalbehörden und aufgrund der außerordentlichen Medienresonanz auf die Freiburger Kinderstudie wurden in vielen anderen Bundesländern die Spielplätze umgestaltet, allerdings ohne pädagogisch inszeniert und mit Animateuren aufgerüstet zu werden. Baldo Blinkert:
    "Das Gelände wurde umgestaltet, auch nach den Vorstellungen der Kinder, die auch sehr intensiv beteiligt waren. Da wurde eine Hügellandschaft gebaut mit Gruben, wo sich dann auch mal Regenwasser sammeln kann und Matsch, Baumaterialien und Klötzen. Können Sie sich wahrscheinlich gut vorstellen, wie so eine Baulücke aussieht, die auf den ersten Blick ein bisschen verwahrlost aussieht, die aber für Kinder ungeheuer attraktiv ist. Die Kinder sollten einfach die Gelegenheit haben, etwas anzufangen, etwas entdecken, etwas herstellen. Das sind ja wesentliche Elemente von kreativem Verhalten, das wissen wir ja aus der eigenen Kindheit noch, dass das Herstellen von etwas, ob das eine Baumbude ist oder ein Zelt aus irgendwelchen Decken, dass dieser Vorgang des Herstellens sehr viel interessanter ist, sehr viel faszinierender ist als später das Nutzen von den Dingen."
    Aktuelle Studie "Raum für Kinderspiel"
    Auf der Basis dieser Erfahrungen haben die Autoren in der aktuellen Studie "Raum für Kinderspiel" des Deutschen Kinderhilfswerkes den Untersuchungsraum erweitert, weg von den Spielplätzen zum Wohnumfeld. Denn dieses sei laut Baldo Blinkert entscheidend für entweder die "Verhäuslichung" der Kinder oder aber für eine "Draußen-Kindheit" mit entsprechenden Erlebnismöglichkeiten:
    "Dass also Kinder, die in einem Wohnumfeld leben, das für sie zugänglich ist, wo es keine Verbote- Barriere gibt, das relativ gefahrlos ist, so ganz ohne Gefahren geht es ja nie, was nicht langweilig ist und wo man vor allem Chancen hat, andere Kinder anzutreffen, wenn diese Merkmale erfüllt sind: Gefahrlosigkeit, Zugänglichkeit, Gestaltbarkeit, Interaktionschancen. Dass also immer dann, wenn so eine hohe Aktionsraumqualität vorliegt, Kinder sehr viel draußen spielen."
    Ganz konkret bedeutet das: Kinder in einem guten Wohnumfeld mit hoher Aktionsraumqualität spielen zwei Stunden unbeaufsichtigt draußen. Demgegenüber sind Kinder in einem weniger guten Wohnumfeld maximal 15 Minuten draußen. Sie verbringen die meiste freie Zeit im Haus.
    "Straßenkindheit hat man früher mit dem Unterschichtmilieu in Verbindung gebracht und das stimmt überhaupt nicht mehr. Das kann man ganz leicht erklären, warum das so ist. In den Städten können wir einfach so etwas wie eine Sortierung oder einen Selektionseffekt beobachten. Eltern mit günstigen Ressourcen wohnen einfach sehr viel häufiger in einem Umfeld , das für Kinder dieser Altersgruppe sehr günstig ist."
    Straßenkindheit vor allem in der Mittelschicht
    Das bedeutet: Straßenkindheit ist ein Mittelschichtsphänomen geworden. Die Sackgasse, der Wendehammer, die Reihenhaussiedlung mit Gärtchen bieten Möglichkeiten, die in dicht bebauten Quartieren, mit möglicherweise dichtem Verkehr und ohne Grün fehlen. Die Konsequenzen liegen für Baldo Blinkert auf der Hand:
    "Wir gehen ja davon aus, dass es gerade in dem Alter ganz wichtig ist, dass Kinder frei unbeaufsichtigt draußen spielen können, die Welt entdecken, etwas herstellen können. Das ist ganz wichtig, das führt einfach dazu, dass Kinder unter solchen Bedingungen so etwas entwickeln können - um das mal etwas gehoben auszudrücken - so etwas wie einen Habitus der kreativen Weltaneignung."
    Das ist natürlich nicht der einzige Vorteil dieses Wohnumfeldes. Aufgrund des hohen Bildungsstands der Eltern sind die Kinder in der Regel auch in der Schule erfolgreich. Gefragt nach ihrem Sicherheitsbedürfnis und der Lernorientierung, ob also Lernen wichtiger sei als Spielen, gaben Eltern aus den unterschiedlichen Milieus und Wohnumfeldern laut Baldo Blinkert erstaunliche Antworten:
    "Bei den Lernorientierungen und auch bei den Sicherheitsorientierungen ist es so, dass Eltern mit hohem Schulabschluss sehr viel geringer diese Einstellungen haben als Eltern mit einem eher einfachen Bildungsabschluss. Damit haben wir überhaupt nicht gerechnet. Gerade Eltern mit Abitur und höherer Bildung sehen, dass Spielen für Kinder in diesem Alter etwas ganz Wichtiges ist."
    Insofern bestätigt die Studie "Raum für Kinderspiel" den seit den ersten Pisa-Jahren häufig geäußerten Vorwurf, dass in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern immer noch das Elternhaus den Schulerfolg und die spätere Karriere entscheidend beeinflusse. Baldo Blinkert:
    "Da wissen die Eltern: Es kommt ganz darauf an, diese Differenzierung, die letzten Endes ganz entscheidend ist auch für Karriere sogar, dass das etwas Wichtiges ist und dass dazu auch gehört, dass Kinder so etwas wie Kreativität entwickeln können und das lernen sie vielleicht beim freien Spielen draußen eher als in der Schule."
    Draußen spielen fördert die Intelligenz
    Nicht nur um Kreativität geht es beim Spielen, der Bewegung draußen auf der Straße oder dem Spielplatz. Renate Zimmer, Professorin für Sport- und Bewegungswissenschaften an der Uni Osnabrück prägte sogar den Slogan: Toben macht schlau. Und wie sich schulische Leistungen durch einfache Balance-Übungen verbessern ließen, zeigte die im Mai herausgegebene sogenannte kleine "Schnecke-Studie" des hessischen Kultusministeriums. Die "Schnecke" meint hier das Organ im Innenohr, das für den Gleichgewichtssinn zuständig ist. Am Berliner Max-Planck-Institut für Bildungsforschung untersucht die Diplompsychologin Dr. Sabine Schäfer den Zusammenhang zwischen motorischen und kognitiven Leistungen unter genau definierten Versuchsbedingungen:
    "Wir haben uns vermehrt mit Doppelaufgabensituationen befasst, also mit Situationen, in denen Menschen zwei Aufgaben gleichzeitig machen und da dann immer eine motorische Aufgabe, also so etwas wie Balancieren, gehen auf einem schmalen Parcours, gehen auf einem Laufband und eine Denkaufgabe, Gedächtnisaufgaben, die viel Konzentration erfordern."
    Menschen unterschiedlicher Altersstufen kommen unterschiedlich gut mit den beiden Anforderungen klar. Senioren zum Beispiel haben mitunter größere Schwierigkeiten, Kinder dagegen überhaupt nicht. Dr. Sabine Schäfer:
    "Hier haben wir herausgefunden, dass Kinder sich verbessern können, wenn sie zwei Sachen gleichzeitig machen. Wir hatten zum Beispiel das Phänomen, dass sie, wenn sie balanciert haben auf einem sogenannten Therapiekreisel, der recht wackelig ist, dass sie stabiler stehen konnten, wenn sie gleichzeitig eine Denkaufgabe hatten, als wenn sie gar nichts gleichzeitig gemacht haben und umgekehrt. Im Bereich des Denkens hatten wir auch den Befund, dass Kinder, wenn sie in ihrer Lieblingsgeschwindigkeit auf einem Laufband gegangen sind, in einer ziemlich schwierigen Zahlenaufgabe bessere Leistungen hatten als im Sitzen."
    Die Laborergebnisse zeigen deutlich das Potential von Bewegung für die kindliche Entwicklung. Mehr Forschung sei nötig. Dr. Sabine Schäfer hat Pläne dazu:
    "Mich würde extrem faszinieren, ob da vielleicht auch hyperaktive Kinder von profitieren. Das heißt die Kinder, die ja mit dem Stillsitzen offensichtlich so große Probleme haben, ob für die ein Lernumfeld, das die Bewegung eben implizit dabei hat, nicht sehr hilfreich ist. Dass die eben von diesem Zappeln und Sich-Ständig-Bewegen-Müssen so ein bisschen wegkommen bzw. sich auf eine rhythmische sinnvolle Art bewegen und sich dann ihre Gedächtnisinhalte einprägen oder sich konzentrieren."
    Verbesserung der Motorik
    Mehr Bewegung, ob spielerisch, beim Toben oder beim Sport sei auf jeden Fall wünschenswert, nicht nur wegen der eindeutigen gesundheitlichen Effekte. Dr. Sabine Schäfer:
    "Es gibt auch erste Anzeichen, dass eine Förderung in der Motorik, also ein gezieltes Sportprogramm - das wurde jetzt in Amerika untersucht über ein Jahr hinweg, die haben die Schüler jeden Tag zusätzlich eine Stunde Sport treiben lassen und haben das verglichen mit einer Kontrollgruppe, die eben dieses Sportprogramm nicht absolviert hat, dass die sporttreibenden Kinder sich in verschiedenen Denkaufgaben verbessert haben. Die konnten also besser störende Informationen inhibieren und auch in bestimmten physiologischen Parametern des Gehirns, also dieses EEG haben die mehrfach abgeleitet, dass sie sich dort auch verbessert hatten im Vergleich."
    Diese Ergebnisse sollten Schulpädagogen zu denken geben - zumindest eröffnen sie neue Sichtweisen. Vielleicht muss man nicht so weit gehen wie Renate Zimmer in ihrem schon 1995 erschienenen Bestseller "Schafft die Stühle ab". Aber Gedanken können auch allmählich verfertigt werden beim Gehen, Toben oder Spielen - nicht nur beim Reden. Dr. Sabine Schäfer:
    "Das läuft auf die Frage hinaus, welche Aspekte des Denkens besonders profitieren von der Bewegung und es gibt da meines Wissens mehr Forschung zu doch recht standardisierten Aufgaben, die Konzentration erfordern und nicht so sehr dieses kreative Denken, wo man vielleicht Assoziationen findet, die man vorher nicht hatte, wo man aber die Gedanken auch so ein bisschen abschweifen lassen kann. Das wär schön, wenn es da ein paar mehr Studien zu gäbe. Wir wissen eher, dass man sich vielleicht einen Tick besser konzentrieren kann. Ob wir auch in der Kreativität, in dem Neue-Lösungen-Finden besser werden, das ist plausibel, das erzählen ja auch viele Leute aus ihrer Erfahrung, aber da bräuchten wir einfach mehr belastbare Daten."
    Jugendarbeit in der Praxis
    Vor allem aber müsse die Bewegung Spaß machen und auch nicht in einem Sportverein zur immer gleichen Zeit am festgelegten Ort stattfinden, so Sabine Schäfer. Schule und Wohnumfeld seien ebenso gut, wenn nicht sogar besser geeignet. Der Aktionsraum Schule gewinnt ohnehin immer mehr an Bedeutung in Bezug auf Bewegung und Spielen. Ulrich Deinet, Soziologieprofessor an der Fachhochschule Düsseldorf, hat sich speziell mit sozialraumorientierter Jugendarbeit in der Praxis beschäftigt:
    "Der kindliche Wunsch, das Bedürfnis zum freien Spiel auch ohne ständige Beaufsichtigung oder Anleitung von Erwachsenen, das Spiel in der Kindergruppe, das ist nach wie vor ein wichtiges Bedürfnis und ein wichtiger Bildungsbereich in der Persönlichkeitsentwicklung, soziale Kompetenzen. Aber das hat sich verlagert und ein wichtiger Ort dafür ist heute die Schule geworden."
    In Düsseldorf besuchen 70 Prozent der Kinder eine Ganztagsgrundschule, das heißt, sie sind in der Regel bis um 16 Uhr dort. Die Schulen wissen das und haben entsprechend ihre Pausenhöfe gestaltet. Es sind außerdem nicht nur Lerngruppen oder Kurse, die am Nachmittag angeboten werden, sondern es bleibt Freizeit zum Spielen, auch in Kooperation mit anderen Institutionen. Ulrich Deinet:
    "Die sind Oasen dieses freien Spiels, aber in einem geschützten Rahmen. Und das ist auch deren große Chance, das heißt, Eltern können da sicher sein, dass ihre Kinder nicht frei auf der Straße, was schon vom Gedanken her sich gruselig anmutet, spielen. Das Thema "Kindeswohlgefährdung" spielt leider heute auch eine wichtige Rolle auch bei dem Gedanken: was tun meine Kinder draußen? Insofern sind diese sozialpädagogischen Institutionen geschützte Orte, geschützte Räume, in denen allerdings dieses freie Spiel eine besondere Rolle spielt; das kann man sagen: eine verinselte oder verhäuslichte Kindheit, will sagen, man muss Abschied nehmen von dem alten Gedanken, dass Kinder sich im Laufe ihrer Entwicklung ihren Handlungsraum sich nach und nach erobern."
    Das geht laut Ulrich Deinet in größeren Städten mit ihrer sektoralen Aufteilung in Quartiere fürs preiswerte oder privilegierte Wohnen, Einkaufen, Industrie und Vergnügen nicht mehr:
    "Man meldete sich als Kind ab, so wie ich das auch noch kenne und sagte zu meiner Mutter: ich geh auf die Straße. Und dann bekam ich noch den Hinweis, um 6 Uhr pünktlich zum Abendessen wieder da zu sein. Aber eigentlich wusste man, dass, wenn man auf die Straße geht, dann ist man nicht allein, sondern da ist dann die Peergroup, die Gleichaltrigengruppe, die Kinderspielgruppe vorhanden."
    Heute muss dann eher das Smartphone für Verabredungen herhalten; denn nicht zuletzt auch aufgrund des demographischen Wandels fehlen oft die Kumpel auf der Straße. Für die Kinder aus eher problematischen Vierteln ist es laut Ulrich Deinet schwieriger, überhaupt aus den Quartieren herauszukommen:
    "Da geht es eben gar nicht so sehr oder nicht nur um die Aktivierung des direkten Wohnumfeldes, sondern da geht es darum, die Erweiterung des Handlungsraumes von solchen Kindern zu fördern."
    Stadtplanerisch könnte wie in der Stadt Wien beim Bauamt ein Referat die "Mehrfachnutzung" von Brachflächen und Baulücken organisiert werden, könnte als Freifläche für Kinder und Jugendliche offen gehalten werden, das wäre ein Wunsch des Sozialraumplaners Ulrich Deinet.
    Überforderung für Erzieherinnen, Lehrer und Eltern
    In der alltäglichen Praxis überall in Deutschland bleibt es derzeit engagierten Erzieherinnen, Eltern, Lehrern überlassen, eine Kindheit in Bewegung zu ermöglichen. Wie in der Kindertagesstätte Unterfeldhaus, im fast schon ländlichen Süden Düsseldorfs. Leiterin Nina Neubert, ihr Team und die Eltern legen großen Wert auf das Spielen draußen:
    "Bewegung ist ein ganz großes Thema. Wir haben Fahrzeuge hier, die Kinder spielen Verstecken, alte Spiele werden wieder neu ins Leben gerufen wie eben Seilchen springen oder Hüpfekästchen spielen. Das sind ja sonst Sachen, die ja doch immer weniger werden."
    Die Devise von Nina Neubert: Nicht gängeln, gewähren lassen, höchstens beobachten:
    "Dieses Klettern, Balancieren, Hangeln, auch das Raufen und Toben, das ist ein ganz wichtiger Entwicklungsprozess, denn dadurch testen sich die Kinder aus. und nur da können sich die Kinder wirklich frei mal austoben und an ihre eigenen Grenzen auch gehen. Und den Mut finden, diese Grenzen auch mal zu überwinden, gucken: was kann ich, was traue ich mir zu, bin ich mutig genug und es ist für die Kinder ein Super-Erfolgserlebnis, wenn sie es dann geschafft haben und sagen: Ich hab's geschafft, ich bin hier hochgekommen und das ganz alleine."