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Bewusstsein messen

Neurologie. - Wachkoma-Patienten liegen in Bett, sie haben die Augen offen, bewegen sich manchmal, aber sie reagieren nicht. Haben sie kein Bewusstsein, oder sind sie nur nicht in der Lage, zu kommunizieren? Inzwischen suchen Forscher direkt im Gehirn nach den Spuren des Bewusstseins. Mit Hilfe von Hirnscannern konnte man schon bei einzelnen Wachkoma-Patienten Bewusstsein nachweisen. Doch diese Geräte sind für den Routineeinsatz nicht geeignet. In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift "Science" berichten nun belgische Forscher, dass das auch mit dem EEG geht.

Von Volkart Wildermuth | 13.05.2011
    Wenn Komapatienten Zeichen des Erwachens zeigen, sind die Angehörigen erleichtert. Aber manchmal erholen sich die Kranken nicht, sondern bleiben über Monate, Jahre oder gar Jahrzehnte in einem Zwischenreich. Ihre Augen öffnen sich, aber niemand weiß, ob sie etwas sehen. Sie bewegen sich, aber vielleicht nur reflexhaft.

    "Es ist am Krankenbett schwer zu entscheiden ob sie bei Bewusstsein sind. Wir wissen nicht, was ihr Verhalten bedeutet. Deshalb versuchen wir die Hirnfunktion dieser Patienten zu messen, um objektive Hinweise auf bewusstes Erleben zu erhalten."

    Dr. Melanie Boly gehört zu einer Belgisch-Englischen Arbeitsgruppe von Hirnforschern, die sich auf Wachkoma-Patienten spezialisiert haben. Sie will zwei Gruppen dieser Kranken unterscheiden. Einmal Patienten im vegetativen Zustand, deren Bewegungen rein reflexhaft sind. Zum zweiten Kranke mit einem minimalen Restbewusstsein, die zwar nicht kommunizieren können, aber doch auf die Umwelt reagieren. In ihrer aktuellen Arbeit nutzt Melanie Boly das EEG, das Elektroenzephalogramm, um die Reaktion des Gehirns auf Pieptöne zu verfolgen.

    "Wenn eine andere Tonhöhe anfängt, ist sie etwas Neues, eine Abweichung, aber nach ein paar Piepern gewöhnt man sich daran. Wir versuchen zu messen, wie unterschiedlich das Gehirn neue Töne und gewohnte Töne verarbeitet."

    60 Elektroden über den Kopf verteilt zeichneten die Gehirnströme auf. Bei gesunden Freiwilligen fanden sich mehrere Wellen der Verarbeitung ungewohnter Töne, die fast eine halbe Sekunde andauerten. In abgeschwächter Form galt das auch für 13 Wachkoma-Patienten, die noch Anzeichen für Bewusstsein zeigten. Bei acht untersuchten Patienten im tiefen Wachkoma, die keinerlei Reaktion auf die Umwelt erkennen ließen, war die Verarbeitung dagegen schon nach einer Zehntel Sekunde vorbei. Für sich genommen verraten die an der Kopfhaut gemessenen Hirnströme nur ganz grob, welche Hirnregionen gerade aktiv sind. Melanie Boly hat deshalb die Feinstruktur ihrer Daten mit einem knappen Dutzend mathematischer Modelle der Hirnaktivität verglichen. Die beste Passform zeigte ein Modell, das neben der Hörrinde auch Bereiche an der Seite und im Stirnhirn abbildet. Dabei fließt die Information nicht nur in eine Richtung, von den Sinnen zu den höheren Zentren, sondern die höheren Zentren geben auch Impulse zurück.

    "Tatsächlich ist diese Rückkoppelung entscheidend. Sie ist der einzige Unterschied zwischen Patienten mit und ohne Restbewusstsein. Auf diese Rückmeldung kommt es offensichtlich an."

    Dieser Befund passt zu einer bestimmten Theorie des Bewusstseins. Danach erleben wir alle Eindrücke, die große Gehirnbereiche gemeinsam aktivieren - und diese weitreichende Aktivierung wird über Rückkoppelungsschleifen vom Stirnhirn koordiniert. Die EEG-Experimente am Krankenbett helfen so, das Phänomen Bewusstsein besser zu verstehen. Bislang ist es Melanie Boly gelungen, Unterschiede zwischen der kompletten Gruppe der Patienten mit einem Restbewusstsein und den anderen Wachkoma-Patienten zu finden. Die Ärzte benötigen aber Aussagen über den einzelnen Kranken, der vor ihnen liegt. Hier wäre ein Hinweis auf bewusstes Erleben ein eher gutes Zeichen. Gelegentlich erwachen aber selbst einzelne Patienten nach Jahren ohne jede Bewusstseinsspur. Ob eine EEG-Diagnostik den Ärzten also wertvolle Informationen liefert, ist noch offen . Wahrscheinlich muss die Analyse für diese Aufgabe noch deutlich verfeinert werden. Melanie Boly sieht in dem vergleichsweise einfachen EEG aber ein großes Potential.

    "Drei der von uns untersuchten Patienten haben sich erholt und wir versuchen herauszufinden, was sie von den anderen unterscheidet, damit wir in Zukunft einmal eine verlässlichere Prognose geben können."