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Beziehung "à la carte"

Die einen halten den ehemaligen Boulevardjournalisten Mathias Nolte für einen Unterhaltungsschriftsteller, die anderen für "klug, tiefgründig, brillant." In seinem neuen Beziehungs-Literaturkrimi beobachtet er den Menschen mit seinen kleinen Schwächen und großen Gemeinheiten.

Von Florian Felix Weyh | 04.07.2013
    Mathias Nolte: "Brutto minus netto ergibt Tara."

    Brutto minus netto ergibt Tara.

    Nolte: "Da macht er sich einfach ein bisschen lustig über sie. Also, dass sie nur die Verpackung ist, die Hülle.''"

    Sie ist nur die Hülle.

    Nolte: ""Das sagte einmal einer zu einem Mädchen, was 'Tara' gesagt hat, und da hab ich das auch aufgeschnappt und fand das damals so fies! Aber ich hab das nicht aufgeschrieben oder notiert irgendwie, das ruf ich dann einfach ab, genau so wie die Gummibärchen."

    Wie die Gummibärchen.

    Nolte: "Das hat mal ne Freundin von mir gemacht. Das war irgendwann vor zwölf Jahren oder wat. Und dann grinst du und merkst dir das, und wenn du dann so was schreibst, dann kommt’s einfach vor, ne?"

    Dann kommt es einfach vor.

    "Sie hockte ruhig, leicht vorgebeugt in dem Korbsessel, ihren linken Fuß stützte sie auf der Tischkante ab, mit der rechten Hand pinselte sie ganz vorsichtig die Zehen an. Damit die sich nicht berührten, hatte sie zwischen jeden einzelnen ein Haribo-Gummibärchen geklemmt."

    Das ist Tara, Tara mit dem Nagellack und mit den Gummibärchen, brutto minus netto, Tara, eine kleidsame weibliche Schmuckverpackung. Kleidsam vor allem für Männer, die sie vom Scheitel bis zur Sohle begehren und vor seltsamen Liebesdiensten nicht zurückschrecken.

    "'Nimm ihn in die Hand und puste, Lukas.'"

    Den Fuß natürlich.

    "'Du weißt doch, wie man pustet, oder? Wenn alle Zehen trocken sind, tanzen wir.' (...) Ich nahm ihren schmalen Fuß zwischen die Hände und betrachtete die glänzenden, maulwurffarbenen Zehennägel.
    'Und was ist mit den Bären?'
    'Die sind für dich, alle acht – zur Belohnung.'
    'Belohnung für was?'
    'Für's Pusten, natürlich. Nun mach schon, Lukas ... puste!' Sie klang ungeduldig. Ich pustete, und Tara musste kichern."


    Tara muss kichern. Und ob der Held die Gummibärchen vor dem Tanz verspeist, bleibt ungewiss. Zuzuraten wäre ihm kaum – wer weiß schon, wie viele andere Pusteknaben bereits ihren feuchten Atem über Taras schlanke Fesseln streichen ließen? Denn sie lebt sexuell à la carte.

    Nolte: "Den find ich eigentlich furchtbar, den Ausdruck! Aber das hat mal auch irgendjemand gesagt. Dann schnappst du das auf und sagst: 'Hast du ne feste Freundin, bist verheiratet?' Und dann hat der Blödmann irgendwie gesagt: 'Ich lebe à la carte'."

    Der Blödmann! Aber Tara lebt eine Zeitlang genau so.

    "'Nach Johnny (...) habe ich à la carte gelebt.' Die Antwort traf mich so unerwartet wie der Schlag mit einem nassen Handtuch im Gesicht. Tara sah es mir an, sie lächelte. 'Jetzt bist du schockiert, nicht wahr? Aber du hast gefragt, und jetzt musst du auch damit leben. À la carte', sagte sie, 'so ist es nun mal, Lukas. Oder glaubst du, nur weil ich nicht den richtigen Kerl gefunden habe, mit dem ich unter einem Dach leben wollte, habe ich mich in Verzicht geübt? Ich gebe meinem Körper, was ihm gut tut.'"

    Gut tut Taras Körper die Ménage-à-trois. Eine Beziehung zu zwei Männern, zwei Schrifstellern, um genau zu sein. Philipp Bach, der einen weltberühmten Roman geschrieben hat ...

    "Miss Bohemia"

    "Miss Bohemia"

    "Wie ein gleichnamiges Buch von Mathias Nolte."

    Wie der Roman von Mathias Nolte. Nur dass Philipp Bach dann keinen zweiten, dritten oder vierten schreibt, sondern dreißig Jahre lang mit Gedichten und spärlichen Novellen als auratisches Ein-Buch-Genie durch den Kulturbetrieb tingelt. Dann ist er plötzlich tot. Tot auf auf eine Weise, wie man es aus seinem weltberühmten Roman kennt, was den zweiten Schriftsteller Lukas Moskowicz auf eine rückblendenreiche Reise in die Vergangenheit schickt, die dieser am Ende auch nicht überlebt. Oder doch?

    Nolte: "Also da ich noch vor Ihnen sitze, hat der Held das auch geschafft."

    Der Held hat es geschafft. Moskowicz lebt. "Miss Bohemia" stammt wahlweise von Philipp Bach oder von Mathias Nolte

    "Oder von einem Dritten."

    Oder von einem Dritten. Doch was physisch greifbar unter dem Namen Nolte vorliegt, hat in Wahrheit Moskowicz niedergeschrieben – wie jetzt?

    Nolte: "Dem Helden hab ich schon meine Zigaretten gegeben und mein Espresso gegeben, und das französische Kino gegeben. Also alles was ich gerne hab, hat in diesem Fall auch mein Held gerne, obwohl er nicht ganz so gut wegkommt in dem Roman. Er ist ja ein ziemliches Weichei. Aber vielleicht bin ich das auch."

    Vielleicht ist er ein ziemliches Weichei, der Nolte Mathias, aber ein guter Schreiber: Seit "Großkotz" von 1984 ...

    "Großkotz?"

    Großkotz: Donnernder Titel für ein großes Debüt. Seit dieser Zeit also kann er sich Lob an die Brust heften wie andere Leute Orden. Seine Literatur ist, kleiner Zitatreigen:

    "Sinnlich. Saftstrotzend. Schmissig. Klug. Tiefgründig. Brillant. Verblüffend. Drehbuchreif. Erstklassig. Hinreißend. Elegant. Packend. Kurzweilig. Intelligent. Spannend."

    Trotzdem muss er hart im Nehmen sein, denn er gilt allgemein als ... Unterhaltungsschriftsteller.

    Nolte: "Es hat so’n leicht pejorativen Anklang, ne? Wenn man sagt 'Unterhaltungsschriftsteller'"

    "Bach (...) verzichtete sogar darauf, mich Unterhaltungsschriftsteller zu nennen, ein Wort, das er, was meine Person betraf, mit Vorliebe benutzte, weil er glaubte, mich damit auf die Palme bringen zu können."

    Nolte: "Ich weiß gar nicht, wenn ein Schriftsteller nicht unterhält, dann schreibt er ja meistens wahrscheinlich eher ein bisschen ruhigere, wenn nicht gar langweiligere Bücher."

    Die langweiligen Bücher sind es, die berühmt machen und einem zu Literaturpreisen verhelfen.

    Nolte: "Dürrenmatt hat mal gesagt: 'Die Langweiler habe es leicht, je mehr sie uns langweilen, desto lauter bewundert man sie.' Und das fand ich also sehr amüsant. Ich saß am Tisch, als er den Satz gesagt, hat bei Daniel Keel in Zürich."

    Er saß mit Dürrenmatt am Tisch beim damaligen Diogenes-Verleger Daniel Keel, er ist ein weltläufiger Mensch und kein Weichei. Auf diese Unterwerfungsgeste sollte man nicht hereinfallen. Im Leben vor dem Leben als Romancier war Mathias Nolte ein gewiefter Journalist, der als Boulevardzeitungs-Chefredakteur einen notorisch medienverliebten Schweizer Botschafter zu Fall brachte und anschließend selbst über die Affäre stolperte, in der Fact und Fiction zu einer trüben Soße verschwammen. Seither lässt Nolte nicht mehr das Leben die Romane schreiben – wie im Boulevardjournalismus, dem er kaum nachtrauert ...

    Nolte: "Bin im Augenblick zum Glück auch nicht gezwungen. Ich hoffe auch nicht, dass das noch mal wiederkommt."

    ... sondern beschreibt in seinen Romanen das Leben. Leichthändig, realistisch, punktgenau. In diesem Fall als Chronist des Berliner Umbruchs der 90er-Jahre, der viele Details beachtet und keines grundlos überliefert.

    Nolte: "Eine Sarggeburt ist ein Kind, was geboren wird, nachdem die Mutter schon tot ist."

    "Sarggeburt? Auch dieser Begriff war in Bachs Fragenkatalog aufgetaucht.
    Was genau ist eine Sarggeburt? So stand es auf dem Zettel geschrieben, den er mir in dem Cafe am Checkpoint Charlie überreicht hatte."


    Nolte: "Das hat schon seine Bewandnis."

    Das hat seine Bewandnis, denn die Liebesgeschichte ist ein Krimi, eine Liebesgeschichte, ein Krimi, eine Gesellschaftskomödie, ein Zeitroman. Es tauchen darin auf: Wolf Biermann, Christo und Jeanne-Claude, Edzard Reuter, das stadtbekannte Schnitzelrestaurant Engelbecken und Nikolaus Sombart, letzterer allerdings unter dem Namen Alexander Bezard.

    Nolte: "Das haben Sie selbst bei Simenon-Romanen oder bei Philip-Roth-Romanen, also da passieren einfach Sachen, die in der Wirklichkeit passiert sind, und sonst ist es ja auch schwierig, irgendwo Zeitgeschichte rüberzubringen. Simenon ist mein absoluter Liebling, also 'Der Mann, der den Zügen nachsah', da merkst du richtig noch das Paris der 30er-Jahre oder das Antwerpen der 30er-Jahre, das Amsterdam, also man merkt genau, also er kennt die Straßen, in denen er gelebt hat, denen kann man ja fast stadtplanmäßig folgen.""

    Folgen Sie Mathias Nolte! Biegen Sie nicht ab zu Martin Suter oder Thommie Bayer.

    "Oder erst nach der Lektüre."

    Oder erst nach der Lektüre, denn so viele deutschsprachige Könner intelligenter Unterhaltungsliteratur gibt es nicht. Lesen Sie "Miss Bohemia" am Strand oder im Zug und lassen Sie sich von der geheimnisvollen Tara ...

    "Brutto minus netto."

    ... in einen Literaturkrimi mit deutsch-deutscher Vergangenheit entführen. Aus dem klassischen Whodunnit wird hier ein Who wrote it?, doch das sei nur am Rande verraten. Im Zentrum steht der Mensch mit seinen kleinen Schwächen und großen Gemeinheiten, und die Story ... die sollte man in unterhaltsamen Romanen nie weitererzählen, will man sich den Unwillen potenzieller Leser ersparen, die ja zurecht auf Überraschungen spekulieren.

    Nolte: "Das ist auch so ein bisschen dieses Comédie humaine, und diesen Jahrmarkt der Eitelkeiten, das zu beobachten, das macht einfach großen Spaß."

    Das macht einfach großen Spaß.

    Mathias Nolte: Miss Bohemia
    Deuticke Verlag, 284 Seiten, 18,90 Euro