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Big Brother is helping you

Im deutschen Schulsystem haben vor allem Kinder von Einwanderern Schwierigkeiten und Leistungsdefizite. Handlungsbedarf erkannten türkische Studierende aus dem Ruhrgebiet und gründeten einen interkulturellen Bildungs- und Förderverein, in dem sie als große Brüder und Schwestern diesen Kindern Hilfe bei den Schulaufgaben anbieten.

Von Birgit Fenzel | 23.08.2007
    Donnerstagnachmittag im Pavillon auf dem Schulhof der Janusz-Korczak- Gesamtschule in Castrop-Rauxel. Mitten in den Sommerferien herrscht dort Hochbetrieb. Der kleine Pavillon ist das offizielle Schulgebäude des interkulturellen Bildungs- und Fördervereins für Schüler und Studenten, wie sich das Große-Brüder-Projekt offiziell nennt. Rein ehrenamtlich bieten die Mitglieder Hausaufgabenhilfe für die Klassen 3 bis 13, Deutsch-, Englisch- und Mathe-Kurse, Freizeitgestaltung und sogar praktische Lebenshilfe an.

    "Das Projekt war eine Spontanidee",

    erinnert sich Murat Vudal, seines Zeichens Doktorand am Lehrstuhl für Theoretische Elektrotechnik:

    "Das war Januar 2004. Ich saß mit meiner Schwester im Auto und die hatte damals eine Diplomarbeit geschrieben über Mädchen in Deutschland mit Migrationshintergrund. Und da hat hat sie mich angesprochen: Wir müssen irgendwas für die Migrantenkinder in Deutschland tun. Halt egal, was wir tun. Das müssen wir ehrenamtlich tun."

    Nach anderen türkischen Studierenden, die bei dem Projekt mitmachen wollten, mussten Murat Vudal und seine Schwester nicht lange suchen. Trotzdem war der Anfang alles andere als einfach:

    "Ganz am Anfang hatten wir fünf Betreuer und drei Kinder. Und da haben wir wiklich gedacht: Vielleicht läuft das Ding gar nicht."

    Erst als die Janusz-Korczak-Gesamtschule in Castrop-Rauxel mitzog, kam das Große-Brüder-Projekt in Fahrt. Jetzt sind rund 70 Ehrenamtliche dabei, 80 Prozent davon studieren noch. Neben der Korczak-Gesamtschule sind mittlerweile auch andere Schulen in das Große-Brüder-Projekt eingestiegen und stellen nachmittags Räume zur Verfügung. Die Anzahl der Kinder und Jugendlichen beträgt mittlerweile rund 200 - 80 davon schon allein an der Korczak-Schule, dort, wo alles anfing.

    Darunter auch Görkan, Nasrijan und Miriam. Die drei könnten an diesem Donnerstagnachmittag in den Sommerferien im Freibad liegen, kommen stattdessen aber lieber zum Förderunterricht der Großen Brüder und Schwestern. Görkan:

    "Es macht dran Spass, dass man Lehrer hat, die dir helfen, die gründlich erklären. Wenn die das erklären, ist das viel besser. Zum Beispiel in der Schule, ich hab’ da erlebt, dass da immer laut ist und man nicht alles verstehen kann."

    Nasrijan aus der 5. Klasse: "Ich finde die Lehrer ganz nett, ich komm’ auch gerne hier hin. Die helfen uns auch immer bei den Hausaufgaben oder wenn wir Teste schreiben. Am nächsten Tag komm ich dann mit ’ner eins oder zwei nach Hause."

    Miriam: "Vorher hatte ich in Mathe ’ne vier und jetzt hab’ ich wenigstens ’ne drei geschafft. Wenn ich nicht hierher gekommen wäre, wäre ich auf die Hauptschule gekommen. Und ich bin jetzt auf die Realschule gekommen."

    Die meisten der Schüler sind hier geboren. Doch ihre Eltern stammen aus dem Ausland. Aus der Türkei, aber auch einige aus Bosnien oder dem Libanon. Oft spricht nur ein Elternteil deutsch, mit dem Schulsystem und seinen Anforderungen sind die meisten überfordert, fasst Murat Vudal seine Erfahrungen aus über drei Jahren Vereinsarbeit mit den Eltern zusammen:

    "Wir haben sehr oft erkannt, dass die das gerne wollen, aber nicht diesen Schritt wagen. Die sagen plötzlich: Ach, ich weiß ja gar nicht, woher ich sowas holen kann. Und wo bekommt man jetzt Nachhilfelehrer, wie muss ich daran gehen? Also die einfachsten Sachen sind schon unklar und da helfen wir und das geht ganz einfach."

    Dadurch, dass die meisten der Ehrenamtlichen selbst einen Migrationshintergrund haben, steigt die Akzeptanz bei Eltern und Schülern. Görkan Öczan gehörte zu den ersten Migrantenkindern, die von Murat Vudal und seinen Mitstudenten Förderunterricht bekommen haben. Seine Noten haben sich drastisch verbessert, er will Architekt werden. Ohne die großen Brüder und Schwestern hätte er das nicht geschafft, sagt der 14-jährige:

    "Die sind einfach Vorbilder. Sie haben Berufe kennengelernt und danach bringen sie auch uns bei. Die haben schon in ihrem Leben was erreicht. Daran kann man sehen, dass sie uns schon was beibringen können. Ich find’ das einfach gut, dass sie uns helfen."

    Durch die ehrenamtliche Tätigkeit im Verein verlängert sich die Studienzeit bei einigen der großen Brüder und Schwestern schon um ein paar Semester. Doch irgendwann in der nächsten Zeit werden sie alle ihren Uniabschluss in der Tasche haben; doch auch dann soll das Projekt an den Schulen weiterleben. Dafür haben sie schon vorgesorgt. Görkan:

    "Wir haben hier ein Programm ‚SHS – Schüler helfen Schülern’. Also, ich helf’ den Fünft- bis Sechstklässlern. Da komm’ ich immer extra für hin. Da helf’ ich den Kleinen bei den Hausaufgaben."

    In diesem Nachwuchs-Modell liegt die Zukunft des Vereins. Und wer weiß, wohin es die Gründer beruflich verschlägt. Vielleicht aus dem Ruhrgebiet in andere Bundesländer. Und vielleicht heißt es dann woanders: Große Brüder machen Schule.