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Big Brother - Little Brother

Aktueller können Romane nicht sein: Vier neue Jugendbücher setzen sich mit der "Schönen neuen Welt" in Zeiten von Internet, Cyberwar und Videoüberwachung an öffentlichen Orten auseinander. Spannend und unterhaltsam, philosophisch und klug.

Von Simone Hamm | 22.01.2011
    Unsere Welt ist eine Welt, in der wir googeln können nach allem, was wir wissen möchten. Eine Welt, in der wir durch soziale Netzwerke miteinander verbunden sind. In der wir einander nahe sind. Zumindest virtuell. Doch diese virtuelle Nähe, das Surfen im Internet hat auch Schattenseiten. Privat, das war gestern. Nicht auszudenken, wenn alle diese Informationen in die falschen Hände kämen. Oder was sie in einem autoritären Staat bedeuten könnten. Einem Überwachungsstaat. Big brother is watching you. George Orwell im Jahre 2010.

    Marcus und seine Freunde schwänzen die Schule. Sie schlendern die Straße entlang, da laufen ihnen verängstigte Menschen in Panik entgegen, schreien, rennen, schubsen, schieben. Die Oakland Bay Bridge in San Francisco ist in die Luft gesprengt worden. In dem Gerangel und Gedränge wird einer der Jugendlichen verletzt. Seine Freunde schleppen ihn auf die Straße, wollen ein Auto anhalten. Polizei - und Krankenwagen rasen vorbei. Die Schüler stoppen schließlich einen militärisch aussehenden Jeep. Gewehre werden auf die gerichtet, sie werden niedergeschlagen, gefesselt.

    "Ich musste einfach diese Idioten, die uns gekidnappt hatten, genauer ansehen. Ich wollte es wissen. Ich wollte wissen, wie Terroristen aussahen, auch wenn das Fernsehen alles getan hatte, um mich zu überzeugen, dass sie braunhäutige Araber mit starken Bärten und Strickmützen in flatternden Baumwollkutten waren, die ihnen bis auf die Knöchel reichten. Aber nicht unsere Kidnapper. Sie hätten auch Cheerleader für die Halbzeitshow beim Superbowl sein können. Sie wirkten auf eine Weise amerikanisch, die ich nicht genau definieren konnte. Gesunde Kiefer, kurze, gepflegte Haare. Sie waren keine Kämpfer aus Afghanistan, sie wirkten eher wie Touris aus Nebraska."

    Nein, es sind keine Touristen, keine Kämpfer aus Afghanistan, keine Terroristen, die die Kids gefangen genommen haben, es sind Beamte der Heimatschutzbehörde. Marcus und seine Freunde sind Gefangene der Vereinigten Staaten von Amerika. Und sie werden in ein geheimes Gefängnis gebracht, isoliert, verhört, gefoltert. Sie gelten als potentielle Terroristen.

    So fulminant beginnt der neue Bestseller des Kanadiers Cory Doctorows "Little brother".

    Marcus und seine Freunde waren zur falschen Zeit am falschen Ort. Nicht der Staat muss ihnen nachweisen, dass sie unschuldig sind, sondern sie müssen ihre Unschuld beweisen. Und Marcus ist erstaunt, was die Abteilung für Landessicherheit so alles über ihn weiß. Da hat Cory Doctorow gewiss nicht übertrieben. Jede Bewegung im Internet, jeder Kauf mit Kreditkarte, jede Autofahrt auf einer mautpflichtigen Straße kann nachvollzogen werden. In jeder Innenstadt gibt es tausende von Kameras, die unsere Bewegungen aufzeichnen. Aber bringt das den Staat wirklich weiter im Kampf gegen den Terrorismus? Cory Doctorow:

    "Wenn man versucht, alles und jeden zu kontrollieren und zu beobachten, dann beobachtet man am Ende niemanden. Die wahllose Ansammlung von Wissen macht es schwer, dieses Wissen richtig zu gebrauchen. Ich denke, diese Konsequenzen sind in allen Gesellschaften zu sehen, in denen es erlaubt wurde, Überwachung und Misstrauen über unseren menschlichen Verstand zu setzen. Und das Resultat daraus ist, dass jeder Einzelne am Ende zu einem Verdächtigen wird. Es geht nicht um Sicherheitsprüfungen, sondern es soll Leute in Angst halten."

    Marcus ist ein ganz normaler 17-Jähriger. Als er gefoltert wird, fängt er an zu reden, genau wie seine Freunde. Denn man weiß viel über ihn und weiß, womit man ihn erpressen kann. Seine Peiniger wenden das "waterboarding" an, eine Foltermethode, bei der der Tod durch Ertrinken simuliert wurde. Die Gefangenen hängen mit dem Kopf nach unten. Wasser wird ihnen eingeflößt in Mund und Nase. "Waterboarding" wurde in Guantanamo angewandt, genehmigt vom US-Präsidenten George W. Bush. Doctorow:

    "Wenn man Leute foltert, dann beichten sie alles. Das endet dann damit, dass unschuldige Leute ins Gefängnis gehen müssen und Schuldige frei herumlaufen. Das macht das Leben für uns alle weniger sicher."

    Man lässt Marcus gehen unter der Voraussetzung, dass er niemandem erzählt, dass er im Gefängnis war. Die Vereinigten Staaten von Amerika haben sich in einen Überwachungsstaat verwandelt. Nach dem Motto: Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten. Genau das ist die Position von Marcus Vater. Lautstark diskutieren die beiden miteinander. Die Jugendlichen fühlen sich nirgendwo mehr sicher. Der Staat wittert überall Verrat, Terroranschläge. Aus einem harmlosen Rockkonzert wird ein Inferno.

    ""GEHEN SIE SOFORT AUSEINANDER", sagte Gottes Stimme. Und im nächsten Moment senkte sich ein Nebel herab. Er kam aus den Hubschraubern. Uns erwischten zwar nur die Ausläufer. Aber es war, als ob mir die Schädeldecke vom Kopf gerissen würde. Als ob mir die Nebenhöhlen mit Eispickeln zerstochen würden. Die Augen schwollen und tränten, meine Kehle war wie zugeschnürt. Pfefferspray. Nicht hunderttausend Scoville Einheiten, sondern eineinhalb Millionen. Sie hatten die Menge unter sich eingegast. Im Park wälzten sich die Menschen auf dem Boden, Jugendliche und Erwachsene ballten die Hände vors Gesicht und würgten. Die Bullen rissen sie an den Achseln hoch, knallten ihnen die Plastikhandschellen um und zerrten sie wie Stoffpuppen in die Trucks.""

    Bürgerliche Rechte gelten nichts mehr. Im Kampf gegen den Terrorismus ist jedes Mittel recht. Kameras können am Gang erkennen, wer die Straße entlangläuft. Marcus und seine Freunde überlisten die Kameras. Sie stecken sich kleine Steine in die Schuhe und haben einen anderen Gang. Aber sie wollen mehr, als unbeobachtet die Straße entlanglaufen, sie wollen ihre Rechte zurück. Sie wollen, dass niemand mehr über sie weiß als sie bereit sind preiszugeben. Und sie haben eine Waffe: das Internet. Sie beherrschen es perfekt, können subversive Botschaften schicken, gründen eine Art Stadtguerilla. Je einflussreicher sie werden, desto gefährlicher leben sie. Sie müssen ihren Feinden immer einen Schritt voraus sein. Sie wissen, sie brauchen die Öffentlichkeit. Heimlich nehmen sie Kontakt zu einer Journalistin auf. Und das hat die Heimatschutzbehörde nicht vorhergesehen. Niemand kann alles vorhersehen.

    "Wenn man ein wirklich gutes deutsches Beispiel dafür will, muss man nur auf die Stasi schauen. Sie wussten mehr über jeden gewöhnlichen Deutschen, als jemals eine Regierungsbehörde davor auch nur ahnte. Sie waren überall. Sie kannten jeden lächerlichen Witz den man jemals erzählte, jedes noch so bizarre Verhalten. Sie warteten nie darauf, dass Leute kriminell wurden, sie wussten es bereits vorher. Aber irgendwie haben sie nicht erkannt, dass die Mauer kurz davor war zu fallen. "

    Cory Doctorow ist Mitherausgeber des populären Blogs "Boingboing". Vier Jahre lang hat er in London das europäische Büro der Electronic Frontier Foundation geleitet, einer Datenschutzorganisation. Cory Doctorows prangert den Kontrollwahn, das Außerkraftsetzen demokratischer Gesetze und Regeln durch einen allmächtigen Staat an. Denn dann könnte es bald vorbei sein mit der Freiheit. Doctorows Credo ist die freie, für jedermann verfügbare Information. So ist es nur folgerichtig, dass der 38-jährige Kanadier seinen Lesern die Möglichkeit gibt , seinen Roman aus dem Internet herunterzuladen. Am selben Tag, als "Little brother" in den Verkauf kam, kam es als freier Download im Internet heraus. Doctorow macht das immer so. Er glaubt nicht, dass "Little Brother" sich deswegen schlechter verkauft. Im Gegenteil.

    "Viele Autoren und Schreiber sagen: Man kann nun mal leider keinen Ruhm essen. Nur bekannt zu sein, hilft einem nicht. Niemand kauft einem seine Sachen deswegen ab. Und sie haben recht. Aber so hart es ist, Geld nur durch Ruhm und Berühmtheit zu machen, so ist es nicht möglich, Geld mit Unbekanntheit zu machen. Ich meine, niemanden interessiert es, dein Buch zu kaufen, wenn dich niemand kennt. Oder besser gesagt wenn niemand genug Interesse daran hat, sich dein Buch downzuloaden, dann wird es auch keiner kaufen. Bekannt zu sein hilft einem am Ende, sein Geld als Autor verdienen zu können."

    Der neuseeländische Autor Bernard Beckett hat seinen Roman "Das neue Buch Genesis" in eine ferne Zukunft verlegt, eine düstere Zukunft. Sein Buch ist kein Thriller. Es bezieht seine hohe Spannung allein aus den Dialogen. Und aus Betrachtungen philosophischer Art.

    "Die prä-republikanische Welt war ihrer eigenen Furcht zum Opfer gefallen. Die Welt hatte sich für die Menschen zu schnell verändert. Ihr Glaube wurde fundamentalistischer, Grenzen wurden schärfer gezogen. Nach und nach durfte niemand einfach nur ein Individuum sein. Jeder war durch seine Nationalität, , seine Hautfarbe, seinen Glauben, seine Generation, seine Klasse gekennzeichnet. Furcht überschwemmte die Menschheit."

    Eine Seuche hat fast alle Menschen hinweggerafft, nur auf einer Inselgruppe am Ende der Welt leben noch Menschen, die sich abgeschottet haben. Sie töten jeden Flüchtling, der versucht, in ihre Gewässer einzudringen. Er könnte die Seuche haben. Einer hat sich nicht daran gehalten, hat ein junges Mädchen gerettet. Adam Forde.

    Jahre später steht Anaximander vor der Prüfungskommission der Akademie, in die sie aufgenommen werden will. Mehr erfährt der Leser zunächst nicht über die junge Studentin und die Akademie, die geheimnisvoll ist und mächtig. Assoziationen zu Kafkas Akademie sind gewollt.

    Fünf Stunden lang wird Anaximander befragt, muss alles wissen über ihr Prüfungsthema. Das Prüfungsthema ist das Leben des Adam Forde. Adam Forde wurde gefangen genommen, als herauskam, dass er ein Mädchen aus dem Wasser gefischt und in eine Höhle gebracht hatte. Er wurde zur Strafe zusammen mit einem Roboter in einen Raum gesperrt. Ein Wettstreit künstliche Intelligenz contra Mensch begann. Beobachtet von Wissenschaftlern. Keinen Schritt konnte Adam tun, kein Wort sagen, ohne das er beobachtet wurde. Den Wissenschaftlern ist der denkende, mitfühlende Mensch längst ein Dorn im Auge. Ein Mensch wie Adam:

    "Ich bin keine Maschine. Denn was weiß eine Maschine schon vom Geruch von nassem Gras oder dem Klang eines weinenden Babys. Ich bin das Gefühl der warmen Sonnenstrahlen auf meiner Haut. Spotte nur über meine kurze Lebensspanne, denn erst die Furcht vor dem Tode haucht mir Leben ein. Ich bin der Denker, der über das Denken nachdenkt. Ich bin die Neugierde. Ich bin die Vernunft. Ich bin die Liebe und ich bin der Hass. Ich bin die Gleichgültigkeit. Ich bin das Wunder und ich wundere mich. Ich bin das Ding,das keine Maschine jemals machen kann. Ich bin die Bedeutung."

    In einem totalitären Staat ist für Menschen wie Adam Forde kein Platz. Und dann machte er einen entscheidenden Fehler. Wohl, weil er so lange nur mit einem Roboter zusammengelebt hatte, nahm er ihn an wie einen Menschen, vertraute ihm und wollte mit ihm fliehen. In einem totalitären Staat ist auch kein Platz für jemanden wie Anaximander. Zu spät sieht sie, dass sie sich vor der Akademie um Kopf und Kragen geredet hat. Mit Sätzen wie diesen:

    "Ich glaube, dass jene, die Adams Verhalten nachvollziehen können, instinktiv begreifen, wie wichtig Mitgefühl ist. Damit eine Gesellschaft erfolgreich funktionieren kann, ist vielleicht ein Maß an Mitgefühl nötig, dass nicht korrumpiert werden kann."

    Mitgefühl ist das letzte, was ein totalitärer Staat von seinen Bürgern erwartet. Das erkennt Anaximander zu spät. Sie hat denselben Fehler gemacht wie Adam. Wenn der Staat einmal damit begonnen hat, seine Bürger auszuspähen, wenn diese aus Angst schweigen und aufhören zu denken, dann gibt es kein zurück mehr. Obwohl Bernard Beckett am Ende noch eine überraschende Wendung parat hat, die hier nicht verraten werden soll, bleibt er pessimistisch.

    In "Das neue Buch Genesis" tragen die Protagonisten Namen wie Perikles und Sokrates. Bernard Beckett stellt Fragen nach Vernunft, nach dem richtigen und dem falschen Handeln. Philosophische Fragen. So ist sein nachdenklich stimmendes Buch weit mehr als ein Science Fiction Roman.

    Bettina Obrecht hat ihren flott geschriebenen Roman "Isoliert" in der Jetztzeit angesiedelt. Dachte man bei Doctorow und Beckett an Orwell, fühlen wir uns hier zunächst in Huxleys schöne neue Welt versetzt. Menschen auf Fernreisen, Menschen vorm Fernseher, Menschen, die das Denken verlernt haben, die sich zu Tode amüsieren. Bettina Obrecht:

    "Es ist näher an 'Brave new world', und zwar, weil bei '1984' dieses autoritäre Regime so ein starkes Gewicht hat. Da sind die Menschen Opfer des totalitären Regimes, die sind unterdrückt, werden beobachtet. Bei 'Brave new world' finden sie ja eigentlich, sie haben das perfekte System. Und das ist natürlich näher an der Gegenwart. Spiel, Unterhaltung, Spaß, also diese Spaßgeneration ist da alles. Es ist alles perfekt geregelt. Es soll ja keiner allein sein. Das ist nichts."


    Eine Gruppe von Flugreisenden kehrt nach Deutschland zurück und wird sofort isoliert. Es ist möglich, dass die Urlauber ein gefährliches Virus in sich tragen. Sie werden aber nicht in ein Krankenhaus gebracht, sie dürfen in ihren Wohnungen bleiben. Kameras werden installiert, die Rückkehrer werden rund um die Uhr bewacht. Aber nicht von Profis, nicht von Krankenschwestern, nicht von Polizisten, nein, die Kameras übertragen ihre Bilder direkt ans Fernsehen. Und jeder der Lust hat, zuzugucken, kann dies tun. Wer glaubt, dass Bettina Obrecht über zu viel Fantasie verfügt, den belehrt sie eines besseres. Die Anregungen zu "Isoliert" bekam sie aus dem ganz realen Leben:

    ""Es gab ein Vorbild, das war SARS, da ist das in Singapur so gehandhabt worden, dass die Leute bei sich zu Hause, in ihren Wohnungen unter Quarantäne gestellt worden sind. Das habe ich kombiniert mit einer Information, die ich hatte aus London, dass es da die Idee gab, öffentliche Plätze mit Kameras überwachen zu lassen, aber tatsächlich diese Kameras auf einen Fernsehsender zu schalten, den konnte man abonnieren. Man konnte tatsächlich von zu Haue aus diese ganzen öffentlichen Plätze beobachten. Die Idee war eben, dass jetzt die Öffentlichkeit da mit kontrolliert, ob jetzt da irgendwelche Taschendiebe unterwegs sind oder was auch immer."

    Rosalie hat kein gutes Gefühl dabei, diese permanente Sendung zu sehen. Aber all ihre Freunde schauen zu. Und ganz besonders hingerissen davon ist ihre Großmutter, die sie versorgt. Ihre Eltern sind Forscher und häufig auf Reisen. Die Großmutter verfällt dem Zugucken völlig. Sie vernachlässigt die Enkelin und auch ihren Freund. Bald spricht sie von den Menschen, die sie tagein, tagaus beobachtet, als seien es ihre Freunde. Sie hat die Realität mit der virtuellen Welt vertauscht. Rosalies Freundin Clarissa hat sich gar in einen der Bewachten verliebt. Er kann so schön singen. Bald ist ein Wettstreit im Gange. Der beste "Gefangene" wird gesucht. Diese Wahl wird auf Großleinwänden in der Stadt übertragen. Mottopartys werden gefeiert. Die Fetengänger kleiden sich wie ihre Lieblingsgefangenen. Rosalie wird immer unbehaglicher zu Mute:

    "Das Mädchen aus 1043 kann mich nicht sehen. Sie weiß nichts von mir. Sie hat keine Ahnung, dass ich in ihr Zimmer sehe.´Ich bin eine unter ganz vielen."

    "Jeder Einzelne hat die freie Entscheidung, was er da macht. Also, in meinem Buch ist es schon so, meine Hauptperson muss sich da entscheiden, macht sie da mit oder nicht."

    Was aber ist mit denen, die unter Quarantäne stehen. Sie haben keine Wahl:

    "Das bezieht sich natürlich nur auf die, die draußen sind. Die, die drinnen sind, sind natürlich eindeutig die Opfer, und die werden natürlich auf diesem Altar der Unterhaltung geopfert. Die haben da keine Freiheiten drin."

    Dann kann einer der Kandidaten dem Druck nicht länger standhalten. Es ist der Sänger. Vor laufender Kameras versucht er, sich das Leben zu nehmen. Aber die Party geht einfach weiter. Eine andere Gefangene singt jetzt sein Lied. Das ganze Land scheint verrückt geworden zu sein. Schnell wird die Kamera abgeschaltet. Doch der Vorstadtrapper aus dem Isolationsfernsehen findet Nachahmer. Junge Menschen bringen sich um, weil sie den Gedanken nicht ertragen können, ihrem Fernsehidol nicht mehr nahe zu sein.

    "Es ist ein bisschen schizophren. Es gibt eine Verwechslung zwischen diesen Realitäten. Das wird so völlig vermischt und völlig durcheinander geworfen, was Realität ist und was nicht."

    Immer wahnsinniger wird das Spiel um Virus, Fernsehen und Überwachung.

    "Die eigentlichen Kranken sind doch die, die jetzt Tag und Nacht vor der Glotze hängen und die anderen überwachen und solche Partys feiern. Und natürlich die, die das alles organisiert haben, das mit den Kameras in den Wohnungen."

    Bei Bettina Obrecht sind es noch Kameras, die überwachen. Sie weiß, dass der moderne Staat sie eigentlich gar nicht mehr braucht:

    "Denn das Raffinierte ist ja, dass sich die Bevölkerung freiwillig an diese ganze Überwachung andockt, also man hat hier einfach in den letzten Jahren so viel Spielzeug zur Verfügung gestellt und so viel Technologie, soviel Medien: Du musst auch dabei sein. Die Welt ist im Netz und Du musst erreichbar sein. Man macht das so gerne und gibt jede Menge von sich Preis,was eigentlich niemanden etwas angeht."

    Und genau das ist das Thema des neuseeländischen Romans: Angriff aus dem Netz.

    "Du liest diesen Prolog. Prima? Ich schaue mir währenddessen mal den Inhalt deiner Festplatte genauer an. Du hast richtig gelesen: deiner Festplatte. In deinem Computer. Ja, genau dich meine ich. Ich betrachte deine Digitalfotos und den ganzen Bilderkram, den du aus dem Internet heruntergeladen hast, ich öffne deine intimsten Dateien und Dokumente und lese sie ziemlich gründlich, und natürlich schnüffele ich nicht nur auf deiner Festplatte herum, sondern lese auch deine E-Mails. Ich kenne Dich jetzt. Ich weiß, wer du bist. Ich weiß, wo du wohnst. Ich weiß, was du hast. Und sollte es sich eines Tages ergeben, dass ich dringend etwas von dir haben muss, dann krieg' ich es von dir."

    So beginnt " Angriff aus dem Netz", der neue Roman des neuseeländischen Autors Brian Falkner. Auch sein Thriller spielt in einem durch die Heimatschutzbehörde veränderten Amerika. Nichts ist mehr privat. Brian Falkner geht noch weiter als Cory Doctorow. Auch in seiner Welt gibt es den gläsernen Menschen. Aber bei Falkner ist nicht nur das, was ein Mensch schreibt und liest, durch ein paar einfache Tricks erfahrbar. Mit der sogenannten Neurotechnologie können Blinde sehen und Taube hören. Die Neurotechnologie kann noch mehr. Sie kann eindringen in die Gehirne der PC Nutzer, beeinflussen, was ein Mensch denkt, fühlt, woran er sich erinnert - sobald er sich einen Kopfhörer aufsetzt. Brainjack heißt sein Roman im Original, frei und eher holprig übersetzt bedeutet das: "Hirnentführung".

    "An einem Freitag, auf dem Weg zur Schule, zwang Sam Wilson die Vereinigten Staaten von Amerika in die Knie. Obwohl er es gar nicht geplant hatte. Eigentlich wollte er sich nur mal ein neueres, schnelleres Notebook unter den Nagel reißen."

    Es beginnt also damit, dass Sam, der Netzwerke, Speicher und Datenströme hacken kann, einen dieser neuen Neuroheadsets haben will. Er will ihn nicht kaufen, er will ihn stehlen. Sam überwindet Firewalls und loggt sich sonstwo ein, gelangt an die teuren Kopfhörer - und wird erwischt. Aber die Polizei wird nicht gerufen. Stattdessen wollen die, die ihn geschnappt haben, wissen, was er sonst noch alles kann. Sie wollen ihn testen, denn sie möchten mit ihm zusammenarbeiten. Noch hat er keine Ahnung, wer sie sind. Sie befehlen ihm, sich ins Computersystem des Weißen Hauses einhacken.

    Bald muss Sam mehr können. Er weiß jetzt, dass er gegen die arbeitet, die die Menschen per Kopfhörer zu Marionetten machen. Langsam begreift er, welch teuflische Wirkung die Neuroheadsets haben. Er gewinnt eine furchtbare Erkenntnis:

    "Früher konnte ich in deinen Computer schauen, konnte Deine Daten lesen. Jetzt kann ich viel tiefer schauen. Ich kann in dein Gehirn schauen. Ich kann sehen, was du in deinem Herzen empfindest."

    Nicht nur werden die Gedanken und Gefühle derer beeinflusst, die sie tragen. Es gibt ein ganzes Netzwerk, das seine Kraft aus den Hirnen der Benutzer zieht. Es ist eine zerstörerische Kraft. Las Vegas liegt nach einem Atomschlag in Schutt und Asche. Die Menschen sind geflohen. Alles geht drunter und drüber. Auch Sam ist auf der Flucht. Und in großer Gefahr. Wer immer hinter der Neurotechnik steht, er trachtet ihm nach dem Leben. Sam ist bereit zu kämpfen. Für sich. Für seine Freunde. Für die Freiheit.

    Brian Falkners "Angriff aus dem Netz" ist ein Buch für die, die fortgeschritten sind im Cyberspace. Es ist spannend und unterhaltsam geschrieben. Bernard Becketts "Neues Buch Genesis" setzt sich eher philosophisch mit dem Thema Überwachung durch eine Staatsmacht auseinander. Bettina Obrecht fasst in "Isoliert" den ganz alltäglichen Voyeurismus ins Auge und wie ein autoritärer Staat sich diesen sehr leicht zu Nutze machen kann. Cory Doctorow schließlich hat mit "Little Brother"einen sehr klugen Roman über Jugendliche geschrieben, die am eigenen Leibe erfahren haben, was es bedeutet, unschuldig verdächtigt zu werden. Nicht zuletzt deshalb bedeuten ihnen die bürgerlichen Rechte sehr viel. Aktueller können Romane nicht sein.
    "Das neue Buch Genesis", ein Roman von Bernard Beckett
    "Das neue Buch Genesis", ein Roman von Bernard Beckett. (script 5)
    "Angriff aus dem Netz", ein Roman von Brian Falkner
    "Angriff aus dem Netz", ein Roman von Brian Falkner. (dtv)