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Bilanz nach 100 Tagen

Vor 100 Tagen hat die große Koalition unter Bundeskanzlerin Angela Merkel die Amtsgeschäfte übernommen. Die Koalitionspartner finden sich in ihre Rollen. Nach drei Jahren Dauerkrawall und wildem politischen Gezerre, nach Blockaden im Bundesrat und legislativem Gemetzel im Vermittlungsausschuss wird das Regieren in der Anfangsphase Merkel zu einer Hymne auf den Konsens.

Von Karl-Heinz Gehm | 01.03.2006
    Wirtschaft und Verbraucher sind in Hochstimmung, Konsumforscher jubilieren, Demoskopen reiben sich verblüfft die Augen: Die Stimmung im Lande, Arbeitsmarkt hin, Energiepreise her, von außenpolitischen Risiken ganz zu schweigen, hat sich völlig gewandelt. Alles wird gut, heißt jetzt die Parole. Jammerland, das war einmal. Vorbei, Angela Merkel macht es möglich:

    Angela Merkel: "Lassen Sie uns mehr Freiheit wagen! Lassen Sie uns die Wachstumsbremsen lösen! Viele unserer europäischen Nachbarn zeigen uns doch, was möglich ist, und Deutschland kann das, was andere können, auch. Davon bin ich zutiefst überzeugt."

    Seit 100 Tagen regiert in Deutschland eine große Koalition und ihre Aufgaben sind gewaltig:

    Angela Merkel: "Wir wissen, wir haben dicke Bretter zu bohren. Wir wollen den Föderalismus neu ordnen, wir wollen den Arbeitsmarkt fit machen, wir wollen unsere Schulen und Hochschulen wieder an die Spitze führen. Wir wollen unsere Verschuldung bändigen und unsere Gesundheits- und Renten- und Pflegesysteme in Ordnung bringen. Niemand kann uns daran hindern, außer uns selbst."

    Die Voraussetzungen zum Regieren sind, auf den ersten Blick, optimal, unvergleichlich günstiger als bei der gescheiterten rot-grünen Vorgängerregierung. Im Bundestag verfügt Schwarz-Rot über eine satte 73-Prozent-Mehrheit, im Bundesrat immerhin über die absolute Mehrheit. Ein "Durchregieren", wie es Angela Merkel im Wahlkampf noch propagiert hatte, wäre möglich, zumindest numerisch. Die Kanzlerin aber hat in ihrer Regierungserklärung vorgebaut:

    Angela Merkel: "Viele werden sagen, diese Koalition geht ja viele kleine Schritte und nicht den einen großen. Und ich erwidere ihnen, ja, genauso machen wir das!"

    Gezwungenermaßen wohlgemerkt. Denn die große Koalition ist einer List des Wahlvolks entsprungen, nicht der ursprünglichen Absicht der politischen Akteure:

    Gerhard Schröder: "Wir müssen die Kirche doch auch mal im Dorf lassen. Sie wird keine Koalition unter ihrer Führung mit meiner sozialdemokratischen Partei hinkriegen. Das ist eindeutig!"

    Diese Art politischer Unvereinbarkeit, die aus jahrzehntelanger Gegnerschaft resultiert, ist subkutan auch bei Spitzenpolitikern der Koalition durchaus noch vorhanden:

    Michael Glos: "Der FDP bin ich eigentlich immer noch ein Stück näher; also ich tue mich schwer, die FDP jetzt voll als Gegner anzunehmen."

    Peter Struck: "Also ich habe nicht auf diese große Koalition gewartet. Die rot-grüne hätte mir besser gefallen."

    Aber das legt sich bald angesichts der Lage. Denn Kanzlerin wie Vizekanzler fügen sich in das Unvermeidliche und geben der Sache Perspektive:

    Angela Merkel: "Wenn man vertrauensvoll zusammenarbeitet, dann glaube ich, gibt es eine riesige Chance. Dass uns die Probleme auf dem Weg ausgehen, habe ich jetzt keine Sorge. Solange wir menschlich Vertrauen zueinander haben, glaube ich, kriegen wir das hin."

    Franz Müntefering: "Ich bin zuversichtlich. Ich glaube, dass die Frage der zwischenmenschlichen Beziehung in Ordnung ist, und dass wir das politisch wollen, dass ist sowieso klar."

    Der Vizekanzler ist Politprofi genug, um sich alsbald den Gegebenheiten anzupassen:

    Franz Müntefering: "Was wir machen, ist normale mitteleuropäische zivile Umgangsform. Ich bin ein freundlicher Mensch, was wollen wir?"

    So wird denn aus dem einst unversöhnlichen "Die kann es nicht" sehr bald ein höflich, leicht resignatives "Die kann es". Etwa in der Außenpolitik, wo die neue Kanzlerin bei ihren Antrittsvisiten Eindruck macht. Die Gastgeber im Elysee und Weißen Haus begegnen ihr mit ausgesuchter Höflichkeit:

    George Bush: "She is smart… and I want take her to lunch."

    Angela Merkel, unbelastet von dem aus der Ära Schröder resultierenden deutsch-amerikanischen Zerwürfnis in Sachen Irak-Krieg, lässt in Washington keinen Zweifel an ihrer Kritik am umstrittenen US-Gefangenenlager Guantanamo. Freimütig auch das Gespräch in Moskau mit Putin:

    Angela Merkel: "Wir haben auch über Punkte gesprochen, wo wir vielleicht noch nicht immer sofort einer Meinung sind, zum Beispiel bei der Einschätzung der Lage in Tschetschenien. Und wir haben das sehr ausführlich und sehr freimütig ausgetauscht."

    Die Atmosphäre von Feierlichkeit und Rotem Teppich, Kennzeichen der Staatsvisiten, geht der Konsolidierungspolitik im Innern ab. Dort ist Kärrnerarbeit angesagt. Der Traum vom Durchregieren, vom Reform-Ruck, der durch Deutschland gehen soll, kommt da sehr schnell abhanden.

    Entsprechend kritisch gibt sich die wider Erwarten auf den Oppositionsbänken sitzende FDP.

    Wolfgang Gerhardt: "Im Grunde genommen hat sie doch vieles ad acta gelegt, was sie vorher für wichtig gehalten hat. Sie hat in den Koalitionsverhandlungen im Grunde genommen den Arbeitsmarkt nicht geöffnet. Sie hat auf eine Gesundheitsreform von vorneherein nahezu verzichtet. Das habe ich alles für große Fehler gehalten."

    Angela Merkel aber konzentriert sich auf das, was machbar ist in einer großen Koalition, nach einem Grundsatz, den sie vorgibt.

    Angela Merkel: "Also ganz nach oben setze ich erstmal ein Prinzip. Und dieses Prinzip heißt, wir müssen raus aus dem Kreislauf von zu großen Erwartungen und dann wieder Enttäuschungen."

    Wie aber sieht das System Merkel aus, das sich von dem ihrer Amtsvorgänger deutlich absetzt?

    Angela Merkel: "Ich finde, dass wir schon einige Dinge in Angriff genommen haben, die durchaus in Zeiten, wo es keine große Koalition gegeben hat, zu erheblich größeren Diskussionen geführt hätten. Vielleicht ist es auch die Tatsache, dass manches auch lautloser sich vollzieht."

    Die Lautlosigkeit des Regierens ist Grundlage für den Höhenflug der Union und für die Akzeptanz der Kanzlerin beim Wahlvolk, für Popularitätswerte, die jene ihrer Amtsvorgänger Schröder und selbst Kohl weit übertreffen. Nach drei Jahren Dauerkrawall und wildem politischen Gezerre, nach Blockaden im Bundesrat und legislativem Gemetzel im Vermittlungsausschuss ist das Regieren in der Anfangsphase Merkel eine Hymne auf den Konsens. Auch deshalb, weil die Stimme der Opposition mangels Masse kaum zu vernehmen ist. Konsens aber kommt an beim harmoniesüchtigen Wahlvolk. Der Merkelsche Führungsstil unterscheidet sich zudem deutlich von dem Gerhard Schröders:

    Franz Müntefering: "Wir diskutieren manchmal länger. Das ist gut, das finde ich auch gut dabei. Aber natürlich Kanzlerin oder Kanzler muss immer auch führen, muss immer auch sagen, wo der Punkt ist. Und das war etwas, was ganz hervorragend bei Gerhard Schröder immer dagewesen ist. Das ist eine unterschiedliche Herangehensweise. Wenn man sofort in den Mittelpunkt stürmt, dann kann es sein, dass man irgendwas nicht mitbekommt, was am Rande stattfindet. Aber wenn man nur von außen das umkreist, kann es auch sein, dass man den Mittelpunkt nicht findet. So hat alles seine Stärken und Schwächen, und ich glaube auch, dass wir vielleicht ein bisschen mehr Zeit brauchen für das Gespräch, das muss aber nicht schädlich sein."

    Was nicht bedeutet, dass die auch außerhalb des Kabinettssaals mit ihrem Team überaus kommunikative Kanzlerin ihre Rolle als die einer Gesprächsleiterin interpretiert.

    Angela Merkel: "Allein mit Moderieren können sie nicht Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland sein. Da gibt es schon vieles zu entscheiden, vieles vor allen Dingen auch zusammenzuführen."

    Auftakt im Januar bei der Kabinettsklausur in Genshagen: ganz oben das Arbeitsprogramm für das laufende Jahr, daneben die "Vertiefung des Vertrauensklimas". Nach gelungener Ouvertüre gibt sich die Kanzlerin zufrieden:

    Angela Merkel: "Ich bin sehr stark gefordert. Mir macht die Arbeit Spaß. Wir hatten auch durchaus schon etliche Dinge, die nicht ganz einfach zu entscheiden sind."

    Aber bei der Premiere in Genshagen gab es auch Defizite, die bezeichnend sind. Denn kaum zusammengeführt, zerbrach der schwarz-rote-Konsens am Beispiel Kinderbetreuungskosten bald wieder und konnte dank familienpolitischer Profilneurosen der Beteiligten erst mühsam wieder hergestellt werden. Allerdings blieb ein erster Vorgeschmack, wie hart die Fronten einmal werden können, wenn es um mehr geht als gerade einmal 460 Millionen Euro. Indessen: die Kanzlerin zwischen Auslandsreisen und Kabinettsklausur gibt sich mit Blick auf die von den Demoskopen ermittelte Wertschätzung beim Wahlvolk strahlend selbstbewusst. Ihr Vizekanzler, dessen Sozialdemokraten wie zu mäßigen Schröder-Zeiten im Regen stehen, müht sich derweil ganz koalitionstreu um Erklärendes:

    Franz Müntefering: "Das ist ganz klar, dass so, wie wir gestartet sind, mit einer Kanzlerin zum ersten Mal neu an der Spitze, sie im Fokus des Interesses steht. Dass bei den Auslandsreisen, den vielen roten Teppichen und vielen großen Anlässen sie im Bild ist. Und wenn man immer im Bild ist, und das ordentlich macht – und das macht sie – dann gibt es dafür auch Punkte."

    Hubertus Heil, der SPD-Generalsekretär, zeichnet derweil ein etwas anderes Bild:

    "Es kann nicht sein, dass in der Koalition die SPD im Maschinenraum schwitzt, während die CDU winkend auf dem Sonnendeck sitzt."

    Während tief unten im Maschinenraum die Malocher gelegentlich munter übereinander herfallen, zum Schaden des Obermaschinisten Platzeck. Das macht anfällig, fördert innerparteiliche Kritik am Führungspersonal und beschäftigt über Gebühr die Parteigremien:

    Hubertus Heil: "Das Präsidium war einhellig der Meinung, dass diese Diskussion zu Ende sein muss."

    Fußballfreund Müntefering spricht in diesem Fall, wenn besorgte Parteifreunde unter entsprechendem öffentlichen Getöse den Vorsitzenden Platzeck ins Kabinett verfrachten wollen, von Kreisliga. Indessen: Das Niveau der Champions Leaque verfehlt auch der Vizekanzler gelegentlich, etwa dann, wenn Müntefering den Fahrplan zur Rente mit 67 beschleunigt und, wie im Koalitionsvertrag angelegt, den Übergangsprozess zum künftigen Rentenalter verkürzt. In der SPD, wo erbittert die Dachdeckerdebatte geführt wird, macht sich wieder einmal ein Hauch von Kakophonie breit. Der Frust über den kommunikativen Alleingang Münteferings entlädt sich auf Parteichef Platzeck, und Wahlkämpfer Kurt Beck ist nicht davon angetan, dass sein Vizekanzler wie Ziethen aus dem Busch das neue Procedere verkündet.

    Kurt Beck: "Man hätte besser daran getan, wenn man ein, zwei Tage vor der Veröffentlichung gesagt hätte, jetzt schlagen wir das auch öffentlich vor."

    Müntefering selbst zeigt sich genervt und sieht die Schuld bei anderen.

    Franz Müntefering: "Ich glaube, dass wir in der Partei es nicht geschafft haben, auf der Strecke seit dem Koalitionsvertrag das Bewusstsein in der Öffentlichkeit zu schaffen, dass die 67 da drinstehen. Ich habe es viele Male erzählt, aber es ist so, man kann verschiedene Sachen tausend Mal erzählen, und dann, wenn es konkret wird, dann sagen die aber: so war es doch nicht gemeint. Aber es ist so gemeint."

    Die Rente mit 67 – ein exemplarisches Stück aus dem politischen Wirken der großen Koalition: Was früher Rot-Grün unter heftigsten monatelangen Geburtswehen auf die Rampe gebracht hätte, geht jetzt binnen zweier Wochen über die Bühne. Einzig die SPD regt sich noch darüber auf, wie der Koalitionsvertrag umgesetzt wird.

    Eine andere Variante schwarz-roten Regierens zeigt sich bei der Föderalismusreform. Was gar nicht solange her noch an der Halsstarrigkeit mancher Unions-Länder gescheitert war, jetzt gibt sich die Kanzlerin höchst optimistisch.

    Angela Merkel: "An einer Stelle ist der Knoten im Grunde schon durchgeschlagen worden, das muss jetzt allerdings umgesetzt werden, das ist die Föderalismusreform."

    Doch dieses Umsetzen wird auch bei einer großen Koalition kein Kinderspiel. So tagen wieder einmal die Vertreter von Bund und Ländern und tagen, und endlich ist es so weit. Der Durchbruch, wieder einmal. Selbst Edmund Stoiber gibt sich euphorisch:

    "Die größte Reform unseres Staatswesens, unseres Staates, diese Föderalismusreform ist ja die Mutter aller Reformen. Jetzt lässt sich auf Grund dieser Reformbereitschaft der großen Koalition aufbauen für weitere große Reformen."

    Die Güte des Kompromisses aber ist derweil heftig umstritten, und am vermeintlichen Jahrhundertwerk wird gerüttelt. Die Bildungspolitiker befürchten bei einer anvisierten Länderzuständigkeit eine bildungspolitische Flickschusterei. Ähnliches gilt für den Umweltbereich. SPD-Fraktionschef Struck baut schon einmal vor:

    "Föderalismusreform ist uns sehr wichtig. Wir hoffen, dass wir das parlamentarische Verfahren sehr ausführlich darstellen, und auch die Bedenken, die vorgetragen werden, berücksichtigen können."

    Doch weiß jeder, dass diesmal das Strucksche Gesetz kaum greifen kann. Würde jener mühsame Kompromiss zwischen Bund und Ländern im Zuge der jetzt anstehenden Gesetzgebung noch einmal aufgeschnürt, wäre die notwendige Zwei-Drittel-Mehrheit bei der Verabschiedung wohl dahin. Die zweite Stufe der Föderalismusreform wäre dann kaum mehr auf den Weg zu bringen. Die aber hat es in sich.

    Finanzminister Peer Steinbrück: "Wenn wir in einer Föderalismusreform II an die Finanzbeziehungen von Bund und Ländern herangehen, dann werden wir die Erfahrung machen, dass Föderalismus I eine relativ leichte Operation war, weil – da geht es ans Eingemachte."

    Nicht wenige der Ministerpräsidenten bezweifeln schon jetzt, dass ein Konsens über die Neuordnung der Finanzbeziehungen überhaupt zu erzielen ist. Das entscheidende Problem des föderativen Staates aber, eine Neugliederung der Bundesländer, wird auch von einer großen Koalition wegen Aussichtslosigkeit gar nicht erst angepackt.

    Ein anderes Problem, dem sich die Kanzlerin besonders verpflichtet fühlt, Chefsache, ist kaum weniger sperrig - der Abbau der Bürokratie:

    Angela Merkel: "Wo wir nach meiner Auffassung am meisten leisten können, das ist in der Frage des Bürokratieabbaus. Wir nehmen uns klare Reduktionsziele vor, und das haben uns andere Länder vorgemacht, zum Beispiel die Niederlande, zum Beispiel Großbritannien. Weniger Kontrollpflichten, weniger Überprüfungspflichten, einfachere Formulare, nicht dauernd neue Statistiken, dies wird eine ganz wichtige Aufgabe, eine besondere Aufgabe, die wir auch vom Kanzleramt aus steuern wollen.""

    Ein hehres, überaus anspruchsvolles Ziel, an dem auch schon andere gescheitert sind. So wird das Thema mit neuer Kraft angegangen – getreu der Maxime, dass sich Bürokratie am überzeugendsten durch Stellenausbau und bürokratischen Mehrbedarf bekämpfen lässt. Kanzleramtschef de Maizère weiß um das Problem. Hat er doch jüngst schon einmal sein Scheitern bei der Abwehr einer umfänglichen Fahrrad-Ausrüstungs-Verordnung kundgetan und der künftigen Entbürokratisierung allzu große Chancen nicht eingeräumt.

    Indessen muss sich de Maizère auch mit durchaus großkalibrigeren Themen auseinandersetzen: den höchst aufklärungsbedürftigen BND-Aktivitäten im Irak sowie dem Anti-Terror-Kampf. Im Dezember, bei der Visite der US-Außenministerin, hatte die Kanzlerin den Fall des von der CIA monatelang malträtierten Deutsch-Libanesen el-Masri noch auf erfrischend undiplomatische Weise angesprochen:

    Angela Merkel: "Wir haben über den einen Fall gesprochen, der von der Regierung der Vereinigten Staaten natürlich auch als ein Fehler akzeptiert wurde, das heißt, ich bin sehr froh, dass die Außenministerin auch hier noch einmal wiederholt hat, dass, wenn solche Fehler passieren, das natürlich umgehend korrigiert werden muss."

    Etwa seit jener Zeit hat der Außenminister Steinmeier, ehemals Kanzleramtschef unter Schröder und dabei zuständig für die Geheimdienste, einen erheblichen Erklärungsbedarf:

    Frank-Walter Steinmeier: "In aller Deutlichkeit und vorweg: Die Bundesregierung, der BND, das BKA und das BFV haben keine Beihilfe zur Verschleppung des deutsche Staatsbürgers el-Masri geleistet."

    Was der BND aber vielleicht doch geleistet hat, die politische Auseinandersetzung darüber hält den Außenminister mehr in Atem, als ihm nur lieb sein kann. Und so steht die Regierung Merkel 100 Tage nach ihrem Amtsantritt vor einem hochnotpeinlichen Untersuchungsausschuss. So normalisiert sich denn allmählich das politische Geschehen. Nach dem Höhenflug gewinnt die Politik wieder Bodenhaftung. Alte Probleme melden sich zurück:

    "Die Arbeitslosigkeit ist im Februar noch einmal leicht gestiegen und liegt wir im Januar über fünf Millionen."

    "Es reicht. Es gibt nicht länger die Bereitschaft, weitere Belastungen widerstandslos zu akzeptieren. Wir haben ein Ergebnis: 94,5 Prozent für Streik."

    "Man sollte nicht so tun, als könnten wir jetzt der Natur durch Paragrafen oder Reglementierungen Grenzen setzen. Es ist ein Naturereignis, was jetzt nur sehr, sehr schwer zu beherrschen ist."

    Die Augenhöhe fest im Blick, müht sich der SPD-Vorsitzende Platzeck derweil unverdrossen ums Profil:

    "Wir arbeiten an der Erneuerung unseres Landes, aber sie findet sozial gerecht statt. Wir wissen, dass die Hauptfrage auch der nächsten Jahre ist, Arbeitsplätze sichern und schaffen. Beschäftigung und Wachstum sind die Schlüsselworte, und die SPD ist dabei Motor und Ideengeber, aber auch das soziale Gewissen dieser Koalition."

    Das aber wird dann gehörig strapaziert werden, wenn nach dem Honeymoon der ersten 100 Tage und Wahlen in drei Bundesländern die Koalition die ersten wirklich dicken Bretter bohren muss: die Gesundheits- und Pflegereform, die Neuordnung des Arbeitsmarktes durch Kombi- und durch Mindestlohn, den Energiekonsens, und, Stunde der Wahrheit, den Sparhaushalt 2007.

    Das ist nicht wenig angesichts desaströser Finanzlage. Die ist gekennzeichnet durch einen verfassungswidrigen Haushalt, verschärfte Sanktionen der EU gegen den permanenten Maastricht-Sünder Berlin, durch Steuererhöhungen, die einen Rekordumfang ausmachen und Wachstumserwartungen, die deshalb erheblich beeinträchtigt werden. Die öffentliche Debatte aber ist erstaunlich ruhig. Im Land der neuen Harmonie ist die Kluft zwischen realer und gefühlter Lage zwar unübersehbar, aber öffentlich vorerst nur von mäßigem Interesse.