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Bild des Lebens

Der Inhalt des Romans "Hotel Central" von Silvia Szymanski lässt sich kaum auf einen Nenner bringen. Es geht um verschiedene Länder und Mentalitäten, das Illusionäre des Tourismus, die deutsche Realität samt Literaturbetrieb, Politik, Fernsehen, die Auswirkungen von Terror und Krieg in den Köpfen und vieles mehr. Durch ein derart breit aufgefächertes Szenario gelingt es der Autorin, ein genaues Bild des Lebens zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu zeichnen.

Von Olaf Karnik | 14.03.2006
    "Ich wollte es eigentlich möglichst verrückt werden lassen und auch ein bisschen lustig und märchenhaft. Und da lag das nahe. Ich übertreib auch gern in diesen sexuellen Dingen beim Schreiben, und, ja, aus dem Grund gefiel mir das. Sadomaso – das kam mir schon so wohlbekannt vor. Das mit den Tieren ist wenigstens noch relativ selten."

    Sich Sex-Geschichten erzählen und von Sodomie und Inzest fantasieren, bis die Grenzen von Fiktion und Realität verschwimmen – beinahe exzessiv betreiben die Schriftstellerin Eva und ihr irakischer Freund Viktor diesen Eskapismus in Silvia Szymanskis neuem Roman. Einmal lässt die Autorin Viktor grausame Experimente mit einer Fruchtfliege anstellen, ein anderes Mal lässt sie den Sexbesessenen sogar eine Kakerlake mit seinem Sperma anlocken. Abgesehen davon, dass solche Schilderungen ziemlich unappetitlich sind, ist die dramaturgische Funktion der krassen Überzeichnung sexueller Perversion nicht unbedingt klar. Es ist auch durchaus problematisch, dass ausgerechnet Viktor als in Deutschland Asyl suchender und unter Ausländerfeindlichkeit leidender Iraker als Perversling gezeichnet wird. Oder geht es der Autorin dabei um eine Provokation von vermeintlichen Vorurteilen des Lesers?

    "Ja, daran habe ich eigentlich beim Schreiben nicht gedacht. Natürlich ist es mir aber klar, wenn ich drüber nachdenke, dass die Leute das so verstehen könnten. Also, ich hab ihn eben als sexuell exzessiven, etwas verrückten Heimlichtuer gezeichnet und dachte dabei nicht, dass das jetzt jemand als typisch Ausländer oder so etwas betrachten könnte, das ist für mich Blödsinn, das hat damit eigentlich gar nichts zu tun. Aber was will man machen, egal, wie man jetzt in dieser Situation jetzt einen ausländischen Mann mit diesem Hintergrund schildern würde, das würde immer in diesen Kontext gesetzt und käme immer merkwürdig. Wenn ich ihn jetzt sehr lieb und mild gezeichnet hätte, hätten die Leute das wahrscheinlich auch wieder dann so mit diesen politischen Sachen im Hintergrund gelesen. Manche fänden das dann gerade blöd, weil der hat ja gar keine Ecken und Kanten, da will jemand extra so jemanden beschönigen oder so. Keine Ahnung, also so etwas würde einem, egal wie man die Figur macht, passieren – leider."

    Die problematischen Aspekte mindern dann auch nur geringfügig die Qualität von "Hotel Central". Das Glück liegt in der Ferne – auch diesen alten Traum vieler Schriftsteller und Künstler lässt Silvia Szymanski ihre Protagonisten träumen. So begibt sich Eva zu Beginn auf eine Reise in die Karibik, später reist sie mit Viktor nach Belgien, und am Ende besucht er seine Verwandten im Irak. Erst vor dem Hintergrund dieser Auslandsaufenthalte gewinnt das Dasein in Deutschland umso deutlicher an Kontur. Als abweisend und kalt, voller Angst und überbesorgtem Streben, geistlos und unidealistisch angesichts des alles überstrahlenden Glanzes der Warenwelten zeichnet Szymanski die deutsche Wirklichkeit.

    Es ist die Zeit nach dem 11. September, kurz vor der anglo-amerikanischen Invasion des Iraks. Die Stimmung in Europa ist gedrückt und der Winter hart. Ausländerfeindlichkeit ist überall spürbar, die Medien schüren Paranoia, während sich Eva und Viktor mit Internet, Computerspielen und sexuellen Fantasien die Zeit vertreiben. Und da draußen in der deutschen Wirklichkeit wird derweil, so erleben es die Beiden, "die Vernichtung von Lebensgrundlagen überall vorangetrieben". Kein Wunder, dass wieder das Glück der Kindheit herbeigesehnt wird.

    "In meiner Kindheit war der Standard in Deutschland noch nicht so hoch gewesen. Auch das Bagdad, in dem Viktor als Kind gelebt hatte, war einfacher und nur bescheiden wohlhabend gewesen. Er hatte sich dort sehr wohl gefühlt; ich hier damals auch. Das Leben hatte in unserer Kindheit andere Formen als heute hervorgebracht, runder, an den Rändern ausgefranst und blumenhaft wie die Abbildungen in den Büchern über Chaosforschung. Etwas sprach damals den ganzen Tag mit uns Kindern, das nun viel seltener was sagte. Märchen, Sonne, Schnee und Luft, die Pflanzen, Tiere und die Erde waren unser Element gewesen. Hatten wir uns wirklich davon entfernen müssen, um in der Welt der Erwachsenen zu leben? Jedenfalls war das geschehen. Viele ehemalige Jugendliche waren dann in Knechtschaft geraten und mussten sich um des Geldes willen Dingen widmen, die ihnen nicht von Herzen wichtig waren.

    Anders als die der kleinen, wilden Tiere draußen, waren unsere Kinderspiele ins Leere gelaufen; wir hatten etwas eingeübt, das wir dann kaum mehr brauchten."

    Ähnlich wie Rolf Dieter Brinkmann, wenn auch nicht so krass und radikal, erspürt Silvia Szymanski Sinn und Bedeutung in flüchtigen Beobachtungen – Plakatwänden, Architekturen, Atmosphären und den Dingen des Alltags. Es gibt viele schöne Stellen im Roman, wo sich aus der präzisen Beschreibung von Details der Blick auf das Ganze öffnet. Durchaus positiv ist auch, dass sich der Inhalt des Buches gar nicht auf einen Nenner bringen lässt. Es geht um so vieles – verschiedene Länder und Mentalitäten, das Illusionäre des Tourismus, die deutsche Realität samt Literaturbetrieb, Politik, Fernsehen und anderen Medien, Ausländerfeindlichkeit und die Auswirkungen von Terror und Krieg in den Köpfen, Surrealismus und die Macht künstlicher Welten, schließlich um Sex und Perversion als Möglichkeit, der Realität zu entfliehen.

    Das Alles wird abwechselnd aus der Perspektive von Eva und Viktor erzählt. Durch ein derart breit aufgefächertes Szenario gelingt es Szymanski, ein möglichst genaues Bild des Lebens zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu zeichnen.

    "Ja, das war exakt die Absicht. Ich wollte in das Buch, möglichst dicht allerdings, hinein die Sachen tun, die mich während der Zeit des Schreibens und drumherum, ja, davor eben auch, ein bisschen so umgetrieben haben. Also, alles, was wichtig wurde und auch diese Widersprüchlichkeit, also von trivialen Sachen, die manchmal wichtig werden, so dummes, banales zwischenmenschliches Zeug im Gegensatz zu diesem beginnenden Krieg und dieser ganzen Kampf-der-Kulturen-Stimmung und so. Ich hatte das Bedürfnis, das so nebeneinander in das Buch hinein zu packen und, damit ich das da drin hab und am Ende irgendwas erkenne. Da ist Erkenntnis zwar drin, aber das lässt sich dann nicht mehr in Worte fassen. Mal gucken, wohin das alles noch führt, diese ganze gesellschaftliche Entwicklung im Moment. Das sieht nicht gut aus, finde ich."