Freitag, 29. März 2024

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Bildspur des Wahnsinns

"Da es bekanntlich zwischen dem Nicht-Wahnsinn und dem Wahnsinn keine Grenze gibt, bin ich nicht geneigt, den Wahrnehmungen und den Ideen des einen oder des anderen Zustandes einen ungleichen Wert zuzubilligen." Dieser Satz steht fast am Ende einer Erzählung aus den späten zwanziger Jahren. André Breton, der wohl bekannteste Autor der surrealistischen Bewegung, hat ihn 1928 für sein Buch "Nadja" formuliert und damit sein eigentliches Thema gebündelt: wo ist die Wirklichkeit zwischen dem Erlebten und der Simulation?

Von Thomas Kleinspehn | 20.03.1998
    "Bist du es, Nadja? Ist es wahr, daß das Jenseits, das ganze Jenseits in diesem Dasein ist? Ich höre dich nicht. Wer da? Bin ich allein? Bin ich es selbst?" Lange vor der Postmoderne sucht ein Autor und mit ihm einen ganze Gruppe von Künstlern nach den Grenzen zwischen Realität und Phantasie, zwischen Vernunft und Wahnsinn. Angesichts dieser offenkundigen Parallelen ist es um so erstaunlicher, daß erst jetzt ein Buch erscheint, das sein Augenmerk auf die surrealistische Bewegung vor dem Hintergrund postmoderner Theorien legt. In ihrer ambitionierten, aber nicht ganz einfachen kleinen Studie "Bildspur des Wahnsinns" läßt sich Regina Mundel auf das Thema ein: "Ich glaube einfach, was ich wahrgenommen habe, wie meine Lebensumwelt sich darstellte, und als ich dann die Texte der Surrealisten gelesen habe, haben sich da Verbindungen aufgetan, und das hat mich interessiert. Ich habe dann festgestellt, daß es ganz viele Texte gab, die sich im Augenblick darüber mokierten, daß der Surrealismus eine avantgardistische Bewegung war, die zu Ende ist: ‘Das war eine nette Zeit, und es hat ganz viel zu tun mit der Moderne’. Ich hatte irgendwie das Gefühl das stimmt nicht. Da ist ein großes Brachfeld von Verweigerungen, sich mit diesen Texten nochmal auseinanderzusetzen."

    Nach den Wurzeln für diese Verweigerung sucht die Kulturwissenschaftlerin in ihrem Buch. Dafür untersucht sie die zahlreichen Schriften zum Wahnsinn und zur Abweichung, die die Surrealisten geschrieben haben. Sie hofft so, der Sprengkraft der Bewegung auf die Spur zu kommen. Denn diese Künstler-Gruppe hat in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen radikal Sprache und herkömmliche Betrachtungsweisen in Frage gestellt. Damit wollte sie verkrustete Strukturen in Kunst und Politik aufbrechen. Vor allem hierin sieht Regina Mundel Gemeinsamkeiten mit der postmodernen Theorie: "Eigentlich sehe ich Gemeinsamkeiten in der Gegnerschaft. Also der Leute, die die Postmoderne angegriffen haben als die großen Verfechter der Beliebigkeit, die der Gesellschaft sämtliche Werte nehmen, die Normen durcheinanderbringen, die nicht mehr wissen, wo es lang geht und daraus ihre Politik gestalten, und den Surrealisten, denen ähnliche Vorwürfe in ihrer Zeit gemacht wurden, denen auch gesagt wurde, daß sie die großen Chaoten sind, daß sie Chaos zum System machen, daß sie die Ordnung durcheinanderbringen. Und ich denke, das war die Verbindung, die ich gesehen habe, und dann ein eigenes Unbehagen, einerseits ein revolutionäres Potential der Surrealisten und Postmoderne, mich daran anzuschmiegen und gleichzeitig auch Angst davor zu haben und sehr wohl zu sehen, daß das auch negative Konsequenzen haben kann."

    Denn für Regina Mundel sind sowohl der Surrealismus als auch die Postmoderne im hohen Maße ambivalent. Beide begreifen sich zwar als avantgardistische Bewegungen, gehen aber gleichzeitig auch eine Koalition mit der Macht ein. Während die postmodernen Theorien einerseits die Auflösung aller Strukturen im Zeitalter der Simulation kritisieren, tragen sie andererseits auch zur Festigung dieser Strukturen bei, indem sie alles für beliebig erklären und damit zur Ware machen. Ähnliche Mechanismen beobachtet Regina Mundel auch beim Surrealismus. So suchen die Avantgardisten der 20er Jahre in ihren eigenen Träumen und im Wahnsinn nach dem "Urstoff der Sprache", der unkontrolliert fließt. Gleichzeitig versuchen sie aber, sich die Sprache des Wahnsinns anzueignen, um sie zu beherrschen, unter Kontrolle zu bringen. Deshalb, so weist Regina Mundel nach, sagt der Diskurs über die Sprache mehr über diejenigen aus, die sprechen, als über den Wahnsinn selbst. Die scharfe Grenzziehung zwischen dem Normalen und dem Pathologischen festigt ebenso den eigenen Standpunkt wie wissenschaftliche Positionskämpfe, ohne daß Zusammenhänge wirklich erhellt würden. Regina Mundel dazu: "Es ist eigentlich ein Versuch, eine Distanz zu schaffen zwischen Theorien oder Zustandsbeschreibungen und Wahrnehmungsweisen unserer Gesellschaft, also ein Versuch, diese Gräben, die da aufgetan werden zwischen Postmoderne und Moderne, den Leuten, die dafür sind und dagegen sind und wenn man da nachfragt, wissen sie eigentlich gar nicht, was es ist, ob das solche Gräben sind. Es geht mir eigentlich schon darum, zu zeigen, daß diese Gräben dazu da sind, damit man sich selber reproduziert, als derjenige der spricht."

    Für die Autorin geht es in der postmodernen Diskussion nicht um die Sache oder eine Beobachtung in der Realität, über die ein Wissenschaftler oder ein Autor spricht. Vielmehr bringe er etwas ein, was ihn charakterisiert, ihn aufwertet oder seine Karriere befördert. So wie der Arzt sich im Diskurs des Wahnsinns selbst als normal bestätigt, so definiert sich der postmoderne Theoretiker in seiner beliebigen Theorie ebenfalls permanent selbst. Gegen die dahinter verborgene Sprachlosigkeit und Lähmung versucht Regina Mundel mit ihrem Buch anzuschreiben: "Ich versuche nun, damit zu kämpfen. Was mache ich mit einer Theorie, mit der ich aufgewachsen bin und die mir gesagt hat, du bist einerseits ein Looser und anderseits ist sowieso alles möglich, und wenn du es richtig machst geht es auch. Für mich war dann die Anbindung an den Surrealismus eine Möglichkeit, damit umzugehen, auch wesentlich aggressiver mit einer eigenen Stimme ins Feld zu ziehen. Zu sagen, es gibt ganz konkrete, sich in der Situation aktualisierende Positionen, die ich einnehmen muß, zu denen ich auch gezwungen bin, sie einzunehmen. Und das ist, glaube ich, etwas, was der Surrealismus zu einer Strategie gemacht hat, und das fand ich so spannend, das mit einer gesellschaftlichen Situation zu verbinden, die nicht mehr die der Surrealisten ist."

    Die Analyse des surrealistischen Diskurses über den Wahnsinn ist für die Autorin deshalb nur ein Mittel, um postmoderne Theorien zu hinterfragen. Ob dieser allzu notwendige Anstoß allerdings eine breite Leserschaft erreichen kann, mag man bezweifeln. Denn bei aller Originalität ist Regina Mundels Buch auch schwer verdaulich. Allzusehr bleibt ihre trockene wissenschaftliche Sprache hinter dem sinnlichen Diskurs der Surrealisten zurück. Vielleicht ist sie hier dann doch nur ein leidenschaftsloses Kind der postmodernen Zeit, das gegen den Mainstream anblökt.