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Bildung in Russland
St. Petersburger Europa-Universität vor dem Aus

Die Studenten der Europäischen Universität Sankt Petersburg sorgen sich um ihre Zukunft: Russlands Kontrollbehörde für Bildungseinrichtungen hat der Hochschule die Lizenz entzogen. Beobachter haben keinen Zweifel, dass das Vorgehen politisch motiviert ist, denn die Universität gilt als Hort kritischen Denkens.

Von Thielko Grieß | 09.10.2017
    Die Europa-Universität in St.Petersburg, Russland
    Derzeit gibt es in der Europa-Universität in St. Petersburg nur öffentliche Vorlesungen und keine Lehrveranstaltungen (AFP PHOTO / Yevgeny Asmolov)
    "Man kann nicht verbieten, dass wir studieren", rufen Studierende und andere Anhänger der Europäischen Universität. Sie stehen im Frühjahr dieses Jahres im Matsch des durchnässten Marsfelds, einer weitläufigen Grünfläche in der Sankt Petersburger Innenstadt. Ihre Hochschule drohte schon damals geschlossen zu werden, weil eine Behörde befand, dass es an einer Fakultät zu wenige Lehrende gab. Damals ging es zwar weiter, doch inzwischen sind die Schwierigkeiten noch ernster geworden. Der Rektor ist im Sommer zurückgetreten; der Neue heißt Nikolaij Wachtin. Er lehrt schon lange an der Universität. Vor Kurzem sagte er:
    "Dieses 22. Jahr an der Europäischen Universität begehen wir auf sonderbare Art und Weise. Im Raum sind weder der frühere Rektor, noch die sonst üblichen Stühle oder Studienanfänger. Aber trotzdem lese ich aus Ihren Gesichtern Freude darüber, dass wir wieder zusammen sind. Wir eröffnen heute das 22. Jahr der Arbeit der Uni, aber nicht das Studienjahr."
    Das, so sieht es die Universität, liegt an der Behörde Rosobrnadsor. Die untersteht dem Bildungsministerium und kontrolliert Lehrpläne und Lehrbedingungen an den Hochschulen in Russland. Im Fall der Europäischen Universität bemängelt sie, dass etliche Räume nicht barrierefrei seien. Einer der Prorektoren, Wadim Wolkow, beklagt im Sender Doschd:
    "Eine Kommission hat die Räume geprüft, aber nicht erklärt, was sie beanstandet. Wir haben am Eingang eine Brailleschrift, auch Computer, die mit Gesten gesteuert werden können, das haben wir alles. Aber weil die Behörde nichts präzisiert, können wir den Mangel auch nicht beheben. Das ist so, als ob ihr Auto kaputt ist, aber Ihnen niemand sagt, welches Teil genau."
    Liberale Hochschule in einem zunehmend restriktiven Klima
    Dass Regeln und ihre Auslegung nicht eindeutig sind, ist in Russland Alltag. Ein neuer Jahrgang ist nun nicht immatrikuliert worden, außer öffentlichen Vorlesungen gibt es keine Lehrveranstaltungen; die Universität firmiert bis auf weiteres als Forschungsinstitut. Neben den Bauvorschriften könnte es weitere Gründe für den Stopp geben. Rektor Wachtin zitiert, was im Netz an Gerüchten auftaucht, unter anderem von einem angeblichen früheren Dozenten, der namentlich nicht genannt wird.
    "Dieser Jemand betonte, dass bei uns LGBT-Ideologie und die Ideologie des radikalen Feminismus verbreitet werde. Außerdem würden Mitarbeitern und Studierenden aktiv westliche politische Sichtweisen aufgedrängt. Der ehemalige Dozent hat sich am meisten über die in der Uni florierenden privaten Beziehungen zwischen Studierenden und Lehrenden? empört. Sie lägen an der Grenze des Zulässigen, spielten aber eine wichtige Rolle für ein erfolgreiches Studium."
    Solche Vorwürfe seien nicht ernst zu nehmen, erklärt Wachtin weiter. Doch dass die liberale Hochschule in einem zunehmend restriktiven gesellschaftlichen Klima im Staatsapparat nicht nur Gefallen findet, ist zu vermuten. Dabei wird die Europäische Universität in Sankt Petersburg international geachtet für ihre akademischen Leistungen: Mit weniger als 200 Studierenden ausschließlich in Masterstudiengängen und Doktorandenprogrammen, etwa in Anthropologie, Soziologie oder Geschichte, ist sie klein. Sie finanziert sich durch Spenden, einen eigenen Fonds und Studiengebühren. Vom Staat ist sie – jedenfalls finanziell – unabhängig.
    Aus den alten Räumen ausziehen
    Bei ihrer Gründung 1994 standen westliche Ideale von freier Forschung und Lehre Pate. Schon damals engagiert war Alexej Kudrin, ehemaliger Finanzminister unter den Präsidenten Putin und Medwedew. Der Wirtschaftsliberale zählt noch immer zu den Beratern Wladimir Putins und ist noch heute Mitglied des Kuratoriums der Europäischen Universität. Der Lizenzentzug trifft auch ihn, schließlich sind liberale Positionen, wie er sie vertritt, seit einigen Jahren in der Defensive. Kudrin sagt:
    "Wir spüren den Druck auf die Uni, den Standort zu wechseln. Ich habe daraufhin mit Präsident Putin gesprochen. Er hat den Auftrag gegeben, uns zu unterstützen, damit wir entweder hier bleiben können oder ein anderes Gebäude bekommen. Aber der Gouverneur hat uns zu verstehen gegeben, dass er nur bereit sei, ein neues Gebäude zur Verfügung zu stellen. Dieses hier müssen wir verlassen."
    Anfang dieser Woche muss die Universität aus den alten Räumen ausziehen. Studierende organisieren sich inzwischen in einer Facebook-Gruppe, rufen sich gegenseitig dazu auf, Briefe an die Verantwortlichen zu schreiben. Eine Antwort oder Stellungnahme seitens der Behörde gibt es nicht.