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Bildungsministerin Schavan verteidigt "Turbo-Abitur"

In der Diskussion um eine verkürzte Gymnasialzeit hält Bundesbildungsministerin Annette Schavan die damit verbundenen Probleme für lösbar. "Die Diskussion ist bei den Kultusministern angekommen", sagte die CDU-Politikerin. Es sei wichtig, den Schulen einen flexibleren Umgang mit den Stundenkontingenten zu ermöglichen.

Moderation: Christoph Heinemann | 07.03.2008
    Christoph Heinemann: Jeder französische Bildungsminister weiß, dass er auf einem Schleudersitz Platz genommen hat. Viele Ressortchefs wurden unter dem Druck der Straße aus dem Amt getrieben. Bei der éducation nationale, der Schulpolitik, die von Paris aus geleitet wird, verstehen die Franzosen keinen Spaß.

    Französische Verhältnisse inzwischen auch in Deutschland? Insbesondere in Hessen führte die Schulpolitik vielen Wählerinnen und Wählern die Feder beim Kreuzchen auf dem Stimmzettel. Das Ergebnis ist bekannt. Das harmlos klingende Buchstaben- und Zahlenpaar G8 bringt nicht nur in Hessen manche Lehrer, Eltern und Schüler auf die Palme. Stimmen aus Hessen zur Verkürzung der gymnasialen Schulzeit von neun auf acht Jahre:

    "Dadurch, dass wir jetzt ein Jahr verkürzt haben, sind die Lehrpläne so zusammengedrängt und auch schon in der Fünften und Sechsten zum Beispiel in Deutsch merkt man einfach, dass da viele Dinge kommen, die sonst nach hinten verschoben waren, es einfach viel komprimierter ist."

    "Also man kann sich dann am Ende meistens nicht mehr konzentrieren, weil man so viel Unterricht hat."

    "Und hört dann auch manchmal nicht zu."

    "Ein großer Teil des Wissens, das in der Schule vermittelt werden soll, ist absolutes Wegwerfwissen und wird unmittelbar nach der Prüfung entsorgt."

    "Es sind sehr, sehr viele Eltern besorgt, dass die Kinder überfordert sind. Es ist einmal der Stundenumfang, das reine Volumen, dann die Stoff-Fülle, dann die Mittagsverpflegung und dann der Fremdsprachenunterricht, das heißt Englisch und das Vorziehen der zweiten Fremdsprache."

    "Manchmal lasse ich dann auch was ausfallen, weil: Ich habe dreimal die Woche Fußball."

    "Wenn die Eltern zu Hause helfen können, ist das natürlich Luxus, wunderbar. Aber das sollte eigentlich so nicht sein. Schule sollte im Grunde so funktionieren, dass die Kinder das in der Schule mit den Lehrern klären können und schaffen können und die Eltern höchstens ein bisschen Kontrollfunktion übernehmen."

    "Ich bin zuversichtlich, weil ich die Gymnasien für sehr, sehr lernfähig halte: die Musterlehrpläne, auch die Absprachen, die Aufforderung an den Schulen, macht nur einen langen Tag, gebt keine Hausaufgaben auf, wenn die Kinder einen langen Tag haben, für den nächsten Tag. Ich bin zuversichtlich, dass das greifen wird."

    "Die Turbo-Schule bereitet vor auf eine Turbo-Gesellschaft, eine Turbo-Gesellschaft, in der es darum geht, möglichst schnell möglichst viel zu produzieren, zu konsumieren und wieder wegzuwerfen."

    Stimmen aus Hessen von Lehrern, Eltern und Schülern.

    Gestern bemühte sich die Kultusministerkonferenz, den Schaden zu begrenzen. Es soll bei den acht Schuljahren bleiben. Auch die Zahl der Unterrichtsstunden wird nicht verändert. Sie sollen aber - und das ist die Zauberformel - flexibler gehandhabt werden. Mit von der Partie war Annette Schavan (CDU), die als Bundesbildungsministerin zwar nicht für die Schulpolitik zuständig ist, als ehemalige Ressortchefin in Baden-Württemberg gleichwohl mit dem Stoff vertraut ist. Guten Morgen!

    Annette Schavan: Guten Morgen, Herr Heinemann.

    Heinemann: Frau Schavan, Sie haben den G8-Cocktail gestern gerührt, nicht geschüttelt. Reichen die Stimmenverluste der letzten Landtagswahlen noch nicht?

    Schavan: Ich habe die Diskussion in der KMK zur G8 nicht erlebt. Wir haben uns unterhalten vor allen Dingen über die Qualifizierungsinitiative. Aber ich glaube nicht, dass man sagen kann, es wird sich nichts ändern. Die Beratungen, die stattgefunden haben in den Ländern und gestern auch in der KMK, werden ganz gewiss die Sorgen aufnehmen, die auch in den Stellungnahmen eben geäußert worden sind. Man hat gesagt, wir werden uns um die Lehrpläne kümmern. Natürlich kann in acht Jahren nicht alles gelehrt werden, was früher in neun Jahren gelehrt wurde, aber schon die Verschlankung von Lehrplänen führt dann ja wieder auch zu Kritik, nämlich zu der Frage, was kann denn rausgenommen werden, was muss drin bleiben? Weniger Stunden kann am Ende auch bedeuten, dass es eine andere Art der Überforderung ist. Also ich glaube, es ist jetzt wichtig, dass die Schulen unterstützt werden mit einem flexiblen Umgang mit den Stunden, also nicht jede Stunde, die einem Fach zugeordnet wird, sondern auch Stunden für Vertiefung, für individuelle Förderung, Sorge dafür tragen - das ist das Thema, wo der Bund ja mithilft -, dass möglichst viele Schulen eine Mensa bekommen, vernünftige Mittagsverpflegung, Ganztagesangebote ausgeweitet werden. Da ist etwas in Gang gekommen. Die Diskussion ist bei den Kultusministern angekommen. Deshalb teile ich die letzte Stimme: Ich bin zuversichtlich, dass diese Diskussion zu Verbesserungen führen wird, dazu dass die Sorgen ernst genommen werden.

    Heinemann: Frau Schavan, aber das hätte man doch alles vorher regeln müssen. Wie kann die Politik nur so stümperhaft in der Lebenswelt der Familien herumstochern?

    Schavan: Es gibt viele Gymnasien in Deutschland, die eine gute Umstellung von G9 auf G8 geleistet haben.

    Heinemann: Aber viele auch nicht.

    Schavan: In den allermeisten Ländern ist übrigens auch nach wie vor über den Weg der Realschule und dann der beruflichen Gymnasien oder anderer Schulen das Abitur nach 13 Jahren möglich. Ich finde, dass jetzt auch wichtig ist, vor Ort alle zusammenzubringen und zu sehen, wie ist jetzt tatsächlich die Kritik an dieser Schule, nicht pauschal, nicht alle über einen Kamm scheren, und dann bin ich gewiss, wird sich auch bei diesem Thema zeigen, dass eine gute Weiterentwicklung möglich ist.

    Heinemann: 7 Uhr aus dem Haus, Unterricht bis 14.30 Uhr, Mittagessen um 15.30 Uhr, anschließend Hausaufgaben. Entspricht das Ihrer Vorstellung von einer schönen Kindheit?

    Schavan: So muss ja der Umgang mit Zeit nicht sein. Es kann eine Mittagspause eingelegt werden.

    Heinemann: Die meisten Schulen können die Kinder noch nicht verpflegen.

    Schavan: Die Zahl der Schulen, die eine Mensa bekommen, wächst von Tag zu Tag. Sie wissen, dass das Programm des Bundes jeder vierten Schule die Möglichkeit geben wird in Deutschland, die entsprechende Logistik zu haben.

    Heinemann: In Zukunft, aber, Frau Schavan, so etwas muss man doch vorher regeln.

    Schavan: Das Programm ist Ende des kommenden Jahres abgeschlossen!

    Heinemann: Also Versuch am Lebendobjekt.

    Schavan: Das ist ungerecht, weil es viele Schulen gibt, die längst, obwohl sie noch kein Gebäude haben, auch die Mittagsverpflegung einrichten. Ich bin dafür, genau hinzusehen und nicht aus Kritik an einem Teil der Schulen oder an einem Teil der Länder - in den neuen Ländern gibt es überhaupt keine Diskussion darüber, da ist es eingeführt und akzeptiert.

    Heinemann: G8 ist ein Beschäftigungsprogramm für Nachhilfelehrer, sagen viele Lehrer, denn die Langsamen hinken gnadenlos hinterher bei dieser verkürzten Schulzeit.

    Schavan: Wir haben eine Studie über Nachhilfeunterricht in Deutschland. Diese Studie zeigt, dass im Wesentlichen Nachhilfeunterricht in Anspruch genommen wird zur Verbesserung von Noten, nicht weil der Schulerfolg insgesamt gefährdet ist.

    Heinemann: Und um nicht sitzenzubleiben.

    Schavan: Das ist nicht der Hauptgrund, sondern eine weitere Verbesserung von Noten. Das zeigt die Studie sehr deutlich.

    Heinemann: Die neunjährige gymnasiale Schulzeit hat es Schülern gestattet, sich in Sportvereinen zu bewegen oder an Musikschulen Instrumente zu lernen. Wann sollen Kinder künftig Fußball spielen, Klavier üben, wenn sie nachmittags nach Hause kommen und dann auch noch Hausaufgaben erledigen müssen?

    Schavan: Das wird auch in Zukunft so sein.

    Heinemann: Was wird so sein?

    Schavan: An manchen Schulen werden entsprechende Angebote in der Schule gemacht. Aber es gibt kein Land in Europa, in dem es so viele außerschulische Bildungsangebote gibt.

    Heinemann: Warum wohl.

    Schavan: Und im Übrigen reden wir nicht über Schüler und Schülerinnen in der beruflichen Bildung, die selbstverständlich auch am Nachmittag sehr viel mehr als Gymnasiasten durch Arbeit oder Schule belegt sind. Man kann nicht alles haben. Man kann nicht internationalen Standards gerecht werden wollen - das war ein wichtiges Argument für G8, zu sagen, die Schülerinnen und Schüler in Deutschland sollen in der gleichen Zeit die Möglichkeit haben, ihren Abschluss zu machen - und gleichzeitig außerhalb der Schule ein immer ausgiebigeres Angebot aufrecht erhalten. Ich glaube, dass die Dinge sich miteinander verbinden lassen, und an vielen Stellen, noch einmal gesagt, gelingt das.

    Heinemann: Aber der Tag hat nur 24 Stunden. Darauf können wir uns einigen.

    Schavan: Ja, und die Schule braucht davon einen gewissen Anteil, um wirklich das zu erreichen, was heute mit einem qualifizierten Abschluss im internationalen Vergleich notwendig ist.

    Heinemann: Frau Schavan, nach der Schule kommt die Berufsausbildung. Sie haben gestern zusammen mit den Kultusministern der Länder die Schwerpunkte der Qualifizierungsinitiative vorgestellt - Überschrift "Aufstieg durch Bildung". Wo fängt das an, und wo hört das auf?

    Schavan: Es fängt an in der Stärkung der frühkindlichen Bildung. Wir haben beschlossen, mehr Möglichkeiten zu schaffen wie die Zusammenarbeit von Kindergärten und Grundschulen, die Weiterqualifizierung der Erzieherinnen voranzubringen, vor allen Dingen aber die Sprachförderung vor der Schule zu verbessern, damit jedes Kind seinen Lehrer am ersten Schultag versteht. Wir haben uns verständigt darüber, Maßnahmen in Gang zu setzen, damit jeder Schüler zu einem Schulabschluss kommt und auch zu einer Qualifizierung, die für die berufliche Bildung notwendig ist. Wir wollen uns vor allen Dingen um ungefähr 100.000 Schulabsolventen kümmern, die keinen Ausbildungsplatz gefunden haben. Die Bundesregierung wird mit Hilfe der Bundesagentur für Arbeit einen Ausbildungsbonus an die Unternehmen zahlen, die einen zusätzlichen Ausbildungsplatz für benachteiligte Jugendliche zur Verfügung stellen. Wir wollen vor allen Dingen den Zugang für die, die in der beruflichen Bildung sind und studieren möchten, erleichtern - also ein durchlässiges Bildungssystem. Wir werden ein Aufstiegsstipendium einrichten für die, die aus der beruflichen Bildung heraus studieren, und, ein ganz wichtiger Punkt, Fachkräftenachwuchs in den Naturwissenschaften, in den Ingenieurwissenschaften. Wir haben erfreulicherweise eine erste positive Trendwende, wieder mehr Studierende in den Natur- und Ingenieurwissenschaften, aber da muss weiter zugelegt werden, weil das Branchen sind, in denen viele neue Arbeitsplätze entstehen. Es soll deutlich werden, dass Bildung wirklich der Weg für Aufstieg und Zukunftsperspektiven ist.

    Heinemann: In den kommenden drei Jahren stellen Bund und Länder insgesamt 500 Millionen Euro zur Verfügung. Betriebe, die zusätzliche Ausbildungsplätze für schwer vermittelbare Jugendliche schaffen, und das ist eine große Problemgruppe, sollen bis zu 6000 Euro pro Ausbildungsplatz erhalten. Keiner wird infrage stellen, dass man für diese Gruppe etwas tun will, aber wie kann man sicherstellen, dass Arbeitgeber einen Menschen und nicht nur eine Prämie in den Betrieb holen?

    Schavan: Weil die Unternehmen wissen, dass für diesen jungen Menschen die Ausbildung wichtig ist, aber auch für das Unternehmen, denn wir laufen in eine Bevölkerungsentwicklung, in der schon in wenigen Jahren die Zahl der Schulabsolventen zurückgehen wird. Die Dynamik der Wirtschaft ermöglicht aber immer mehr Arbeitsplätze. Das heißt, wer heute nicht ausbildet, wird händeringend in wenigen Jahren nach Fachkräften suchen. Also das Unternehmen und die Jugendlichen profitieren davon. Und wer sich den Ausbildungspakt ansieht, der spürt ja: Es gibt eine wieder gewachsene Bereitschaft, diese Ausbildung zu ermöglichen. Diese Stimmung wollen wir auch nutzen, um bis zum Ende der Legislaturperiode hier wirklich einen großen Schritt zu tun.

    Heinemann: In den "Informationen am Morgen" sprachen wir im Deutschlandfunk mit Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU). Dankeschön für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Schavan: Auf Wiederhören, Herr Heinemann.