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Bildungspaket "war von Anfang an nicht gewollt"

Seit zwei Jahren können arme Eltern für ihre Kinder Gutscheine für Sportvereine oder Musikunterricht beantragen. Allerdings nutzen nur wenige das Angebot. Die bürokratischen Hürden seien viel zu groß, kritisiert der Präsident des Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers.

Heinz Hilgers im Gespräch mit Manfred Götzke | 02.04.2013
    Manfred Götzke: "Jedem Kind ein warmes Essen" – mit dieser Parole wirbt Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen für ihr Bildungs- und Teilhabepaket, und zwar schon seit zwei Jahren. Kinder aus ärmeren Familien bekommen daraus Zuschüsse für ein warmes Mittagessen, aber auch für Nachhilfe, den Basketballverein oder den Oboenunterricht. Jetzt hat allerdings der NDR herausgefunden: das Paket wird viel zu selten abgeholt. Mehr als die Hälfte der Mittel wurden im vergangenen Jahr gar nicht abgerufen. Heinz Hilgers ist Präsident des Kinderschutzbundes – Herr Hilgers, ist das Konzept Bildungsteilhabe durch Gutscheine gescheitert?

    Heinz Hilgers: Ja, das war klar, dass das scheitern würde, von Anfang an. Sehen Sie, die Regierung, die Politik ist vom Bundesverfassungsgericht gezwungen worden, sich um das Thema Bildung und Teilhabe von armen Kindern zu kümmern in Deutschland, und sie hat das nur sehr widerwillig gemacht, und das merkt man dem ganzen Konzept auch an.

    Götzke: Woran denn?

    Hilgers: Ja, an den ganzen bürokratischen Vorschriften. Sehen Sie, man muss für jede Leistung mehrmals im Jahr einen Antrag stellen. Für das Mittagessen, Lernförderung, für die Bildung und Teilhabe im Sportverein oder in den Musikschulen. Für das Letztere gibt es dann zehn Euro im Monat. Dafür kann man vielleicht noch den Mitgliedsbeitrag in einem Fußballverein für ein Kind bezahlen. Und, sehen Sie, die anderen Institutionen wie Musikschule, die sind natürlich mit zehn Euro im Monat überhaupt nicht finanzierbar. Bei der Lernförderung ist es so, wenn ein Kind zwei Fünfen hat, dann hat es dann einen Anspruch auf Förderung nach dem Bildungs- und Teilhabepaket. Hat dann aber der Nachhilfelehrer Erfolg und das Kind hat dann nach einem halben Jahr Lernförderung eine Vier, dann wird die Lernförderung eingestellt. Was erfolgreich ist, wird eingestellt.

    Götzke: Das ist aber nicht in allen Bundesländern so. Es ist ja so, dass jedes Bundesland diese Regelungen verändert hat, auch unterschiedlich ausgestaltet hat. In NRW ist es ja jetzt so, dass auch bei einer Versetzungsgefährdung, die gar nicht so akut sein muss, zumindest die Möglichkeit auf Nachhilfe besteht. Haben manche Bundesländer das Bildungs- und Teilhabepaket zu rigide ausgestaltet?

    Hilgers: Es gibt sicherlich unterschiedliche Anwendungen. Das ändert aber nichts daran, dass das ganze Bildungs- und Teilhabepaket von Anfang an nicht gewollt war und von Anfang an zu bürokratisch ausgestaltet ist. Es ist richtig, dass zum Beispiel einzelne Städte und Kreise deutlich bessere Ergebnisse haben. Das haben sie immer dann, wenn sie auf Antragsverfahren verzichten. Das macht zum Beispiel die Stadt Hamburg weitgehend. Sie schließt direkt Verträge mit Mensa-Vereinen ab übers Mittagessen und macht Pauschalüberweisungen. Das sind alles gute Ansätze und die sind natürlich sofort auch erfolgreicher. Aber das zeigt, dass das ganze System mit seinem bürokratischen Antragsverfahren völlig daneben liegt.

    Götzke: Sie haben Hamburg genannt. In Bremen ist es ja ganz ähnlich. Dort wurden mehr Mittel abgerufen, als eigentlich für Bremen zur Verfügung stehen, und die machen das ja auch relativ unkompliziert. Da muss man eine entsprechende Berechtigtenkarte beantragen. Wenn man die hat, dann kann man die Mittel relativ einfach und unkompliziert bekommen. Heißt das vielleicht auch für die anderen Bundesländer, von Bremen und Hamburg lernen und das genauso umsetzen?

    Hilgers: Natürlich können einzelne Städte und Kreise aus dem Bildungs- und Teilhabepaket mehr rausholen. Aber trotzdem bleibt das von Anfang an eine bürokratische Konstruktion, die geprägt ist vom riesigen Misstrauen gegenüber den armen Eltern und von unberechtigtem Misstrauen. Denn die ganz große Zahl der armen Eltern spart sich das Letzte vom Mund ab, damit es ihren Kindern besser geht. Und sie ist geprägt darüber hinaus auch von einem fast widerwilligen Geist, der am liebsten wenig Geld ausgibt dafür.

    Götzke: Aber wie erklären Sie sich dann, dass in manchen Städten und auch Stadtstaaten wie zum Beispiel in Berlin, da werden ja nur 25 Prozent der Mittel abgerufen, dass die Akzeptanz dort so gering ist. Gerade in Berlin gibt es ja sehr viele arme Familien. Warum wird es dort nicht abgerufen. Liegt es, wie Sie sagen, nur an der Bürokratie, oder macht die Stadt, das Land da irgendwas falsch?

    Hilgers: Also in Berlin, muss man bedenken, ist der Anteil der Migranten, die nicht über die entsprechenden Möglichkeiten, nicht über die entsprechende Bildung verfügen, um mit einer komplizierten Bürokratie regelmäßig umgehen zu können, besonders hoch. Da wirkt das natürlich sehr abschreckend, wenn man vier- bis achtseitige Antragsformulare für Migrantenfamilien in die Welt setzt in der Erwartung, dass die da alle zwei Monate Anträge stellen. Das kann nur daneben gehen. Es gibt ja zwei Strategien, wie die Bundesregierung das alles vermeiden könnte. Sie könnte einerseits dafür sorgen, dass über die Institutionen den Kindern zum Beispiel ein Mittagessen oder eine individuelle Förderung von Anfang an kostenlos angeboten wird. Und sie könnte auf der anderen Seite dafür sorgen, dass für die übrigen Leistungen die Eltern das Geld bekommen, damit sie für ihre Kinder wie alle anderen Eltern auch einkaufen können.

    Götzke: Das heißt, Sie würden das Bildungs- und Teilhabepaket komplett abschaffen und die Hartz-IV-Sätze erhöhen für Kinder?

    Hilgers: Zum einen Teil. Und zum anderen Teil die Leistungen sofort kostenlos in der Kita oder in der Schule anbieten.

    Götzke: Das würde ja dem Geist des Verfassungsgerichtsurteils widersprechen, denn es ging ja darum, speziell Kindern aus ärmeren Familien Bildung und Teilhabe zugute kommen zu lassen. Da müsste man ja trotzdem noch etwas anderes tun.

    Hilgers: Das Urteil schließt nicht aus, dass für alle Kinder Leistungen kostenlos erbracht werden. Sehen Sie, das, was jetzt betrieben wird, ist ja ein riesiger bürokratischer Aufwand. Es ist ja so, dass die Kommunen sagen, dass sie noch einmal doppelt so viel Aufwand haben, wie sie vom Bund erstattet bekommen. Das würde bedeuten, dass mehr Geld für die Bürokratie ausgegeben wird als für die Kinder. Und wenn Sie dann noch berechnen, dass auch die ganzen Träger ja einen riesigen bürokratischen Aufwand haben, die Schulen, die Kitas, um das alles abzurechnen, dann setzt das doch dem Fass die Krone auf. Das ist doch nun wirklich unerträglich, dass in unserem Land aus lauter Sorge, dass Eltern einen Euro zweckentfremden könnten, der Staat das Vielfache ausgibt an Bürokratiekosten, um das zu verhindern. So viel, wie der Staat hier verschwendet in der Bürokratie, können Eltern gar nicht zweckentfremden.

    Götzke: Viel Bürokratie, wenig Nutzen, findet Heinz Hilgers, Präsident des Kinderschutzbundes. Vor zwei Jahren wurde das Bildungspaket eingeführt.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.