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Bildungsystem
"Schüler müssen wissen, warum sie in die Schule gehen"

Etwas gelernt werde nur dann, wenn man den Lernprozess selbst gestalten könne und es selbst wolle, sagte Hirnforscher Gerald Hüther im Dlf. Er kritisierte den Schulzwang, plädiert für mehr Freiwilligkeit und forderte die Abschaffung Schulgesetz.

Gerald Hüther im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 13.07.2018
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    Hirnforscher Hüther rät unzufriedenen Eltern, ihre Kinder nach den Zeugnissen in den Arm zu nehmen: "Wenn die Ferien vorbei sind, noch mal von vorne, und dann gucken wir mal, ob es dann besser wird". (imago)
    Tobias Armbrüster: Es ist Sommer, der 13. Juli. In einigen Bundesländern ist es schon so weit, heute auch in Nordrhein-Westfalen. Es ist der letzte Schultag, der Beginn der Sommerferien, und auch im bevölkerungsreichsten Bundesland NRW sollte das heißen, dass Eltern und natürlich vor allem die Kinder eins sollen: entspannen, Ferien machen. Aber immer häufiger geht dieses Ferien machen in eine ganz andere Richtung. Kinder - das hört man dann von Lehrern und auch Eltern -, die sollen diese sechs Wochen intensiv und effektiv nutzen, sich vorbereiten auf das nächste Schuljahr, für Nachprüfungen büffeln oder Stoff wiederholen. Im Internet gibt es sogar jede Menge Angebote für regelrechte Mathe-Camps.
    Ist das eine gute Entwicklung, oder läuft da etwas grundsätzlich schief beim Thema Ferien, beim Thema Lernen? - Ich habe darüber vor wenigen Minuten mit dem Neurobiologen Gerald Hüther gesprochen, Autor zahlreicher Bücher zum Thema. Ich habe ihn zunächst gefragt, ob das zusammen passt, Schulferien und Lernen?
    Gerald Hüther: So waren die Ferien jedenfalls ursprünglich mal nicht gedacht. Aber Sie meinen ja dieses schulische Lernen. In der Tat ist es so, dass Menschen immer was lernen. Es ist ja nicht nur so, dass Lernen in der Schule stattfindet. Man hat mal eine Zeit gehabt, da hat man auch noch Dinge gelernt, die nichts mit Schule zu tun hatten, und dafür gab es die Ferien und das war auch gut so, glaube ich.
    Lernen "nicht noch in den Ferien oder abends oder zuhause"
    Armbrüster: In den Ferien lernen für Mathe oder Erdkunde, geht das?
    Hüther: Das wäre in meinen Augen ein Zeichen für eine völlige Kapitulation oder eine Bankrotterklärung eines Schulsystems, weil die Schule ist ja dazu da, dass die Schüler das dort lernen und nicht dann noch in den Ferien oder abends oder zuhause oder im Nachhilfeunterricht.
    Armbrüster: Was ist denn, wenn ein Kind spezielle Schwächen hat in einem Fach, oder wenn beispielsweise eine Nachprüfung ansteht?
    Hüther: Das Problem sitzt, glaube ich, ein bisschen tiefer, weil es ist ja so, dass man eigentlich nur dann etwas lernen kann - ich bin ja Neurobiologe -, wenn man selbst diesen Lernprozess auch gestalten kann. Das heißt, es kann einem ja niemand diese Verschaltungen ins Hirn bauen. Die muss man sich selbst da reinbauen, und deshalb kann man im Grunde genommen nur dann was lernen, wenn man es auch selber will. Das ist ein zentraler Punkt. Dann geht es einem auch unter die Haut. Dann ist es einem wichtig und dann ist der Lernprozess auch emotional aufgeladen.
    Das Riesenproblem, was wir haben, ist nicht, dass wir schlechte Schulen haben oder schlechte Lehrer, sondern dass wir ein Schulsystem haben, was so aufgebaut ist, dass man dort hin muss. Wir haben ein Schulgesetz, ein Schulanwesenheitspflicht-Gesetz, und solange das so ist, dass ein Schüler, wenn er aus der Schule kommt und gefragt wird, warum gehst Du in die Schule, nichts anderes sagt als, weil er muss, dann ist da was grundlegend falsch. Das mag vielleicht im vorigen Jahrhundert oder im Kaiserreich noch sinnvoll gewesen sein, Schüler zwangsweise in die Schule zu schicken, aber das ist im 21. Jahrhundert einfach nicht mehr die richtige Art. Das führt dann dazu, dass die Schüler in der Schule, wie wir das sagen, unmotiviert sind. Das heißt, die wissen gar nicht, warum sie dorthin sollen, oder die gehen nur dort hin, weil sie müssen, und unter solchen Umständen kann man nicht viel lernen. Das Ergebnis ist, dass auch nicht viel hängen bleibt, und das führt dazu, dass dann so viel mit Nachhilfe versucht wird. Und zwei Jahre nach dem Abitur - da gibt es ja wunderbare Untersuchungen dazu - ist 90 Prozent von all dem, was die da in den 13 oder 12 Jahren gelernt haben, wieder weg. Das ist doch einfach völlig uneffektiv. So kann man im Grunde genommen nicht weitermachen.
    "Schüler müssen wissen, warum sie in die Schule gehen"
    Armbrüster: Was sagen Sie denn? Was müsste sich ändern?
    Hüther: Ich denke, wir müssen das Schulgesetz abbauen. Das muss weg. Die Schüler müssen wissen, warum sie in die Schule gehen, nämlich weil sie hin wollen.
    Armbrüster: Das heißt, Schule wird freiwillig?
    Hüther: Ja. Deshalb funktioniert ja Nachhilfe. In die Nachhilfe gehen Sie ja auch freiwillig. Die sind dann in der Schule so schlecht, dass sie sagen, dann gehe ich jetzt zur Nachhilfe, aber das ist wenigstens freiwillig. Dafür wird auch bezahlt. Im Gymnasium, wo heute so viele sagen, damals war alles noch so großartig - das Gymnasium war eine privilegierte Schulform. Dort hat sich jeder, der da hingegangen ist, ausgezeichnet gefühlt. Der ist da gerne hingegangen. Und dann klappt das Lernen. Aber immer dort, wo man hin muss, und wenn man nicht weiß und man keinen Grund hat, warum man dahin muss, da kann Lernen nicht funktionieren.
    Ich sage es noch mal: Es gibt drei Gründe oder drei Möglichkeiten, den Lernstoff emotional aufzuladen. So heißt das wissenschaftlich. Das heißt, das muss unter die Haut gehen. Der erste ist, dass es einen wirklich interessiert, und dann will man es auch und dann lernt man auch alles. So beginnt ja auch in der Zeit, bevor wir die Kinder in die Schule schicken, der Lernprozess und so ist er ja auch richtig.
    Dann, wenn das nicht möglich ist, geht es noch, dass man jemand anders zuliebe lernt. Das ist dann die berühmte Grundschullehrerin oder der tolle Lehrer, den man hat. Dann lernt man eigentlich nicht gerne Mathe, sondern man will jemanden glücklich machen. Manchmal auch die Mama.
    Die dritte und ungünstigste Form, den Lernstoff emotional aufzuladen, besteht darin, dass man ihn mit Belohnung oder mit Bestrafung koppelt, mit guten oder schlechten Zensuren. Das ist im Grunde genommen kein Lernen, was da stattfindet; das ist Dressur. Das war im vorigen Jahrhundert vielleicht okay. Da hat man ja auch viele Leute gebraucht, die den ganzen Tag immer dieselben Bewegungen an ihren Maschinen gemacht haben und fast genauso funktioniert haben wie die Maschinen. Aber im 21. Jahrhundert ist das völlig daneben. Da braucht man keine gut abgerichteten, gut funktionierenden Leute, sondern welche, die irgendwie Freude am Lernen haben und die das Wichtigste, was sie in die Schule mit hineinnehmen, nämlich diese Entdeckerfreude und Gestaltungslust, hinten auch zumindest in gleicher Stärke wieder mit rausbringen.
    "Die Lust an Mathe vergeht durch negative Erfahrungen"
    Armbrüster: Herr Hüther, ich kann mir vorstellen, dass da viele Leute jetzt gerade sagen, da ist der Herr Hüther aber sehr idealistisch. Was ist denn los, wenn sich ein Schüler jetzt partout nicht für Mathe interessieren will, wenn er da auch nichts Spielerisches dran entdeckt und wenn er auch niemanden hat, dem zuliebe er es lernt? Dann bleibt ja eigentlich nur noch, ihn irgendwie dazu zu bringen, sich mit Mathe auseinanderzusetzen.
    Hüther: Ich glaube, dass es das gar nicht gibt, dass sich ein Schüler für gar nichts interessiert. Das muss ihm dann jemand ausgetrieben haben.
    Armbrüster: Nicht für gar nichts, aber für ein bestimmtes Fach. Es kann ja sein, dass es für Zahlen einfach keine besondere Zuneigung gibt.
    Hüther: Das hat mit Zuneigung nicht so viel zu tun. Am Anfang des Lebens wollen alle Kinder auch Mathe lernen. Das müssen schon schlechte Erfahrungen sein. Vielleicht hat ihm jemand gesagt, dass er das nicht richtig kann, oder er hat das nicht richtig zeigen können, und dann vergeht die Lust. Die Lust an Mathe vergeht nicht durch Mathe, sondern durch negative Erfahrungen mit denjenigen Personen, die mit Mathe in Zusammenhang stehen, und deshalb heißt die Antwort auf Ihre Frage, dann muss jemand kommen und muss noch mal versuchen, ihn richtig einzuladen und zu ermutigen und zu inspirieren, dass er wieder Lust kriegt, sich mit Mathe zu befassen. Das ist komischerweise genau das, was die Nachhilfelehrer meistens können. Das sind oft Studenten, die Physik oder irgendwas studieren und nebenbei Nachhilfe machen, und dann kommt so ein Schüler, der in Mathe eine Fünf hat, und macht mit denen Mathe und die erklären ihm das, und plötzlich macht ihm Mathe Spaß und ein Jahr später haben Sie eine Eins in Mathe. Das haben wir alles schon gesehen und das ist ein Zeichen dafür, dass es prinzipiell geht, aber dass es offenbar in den Schulen, so wie die aufgebaut sind, nicht funktioniert. Und da können gar nicht so sehr die Lehrer was dazu, sondern das ist die Struktur dieser Schule, die hier so ungünstig ist, weil sie noch aus dem vorigen Jahrhundert stammt.
    Gruppen-Lernprozesse: "Die ziehen sich gegenseitig hoch"
    Armbrüster: Wenn Sie, Herr Hüther, das Lernen so sehr den Eltern und auch den Schülern freiwillig überlassen wollen, was machen Sie dann mit Schülern, die aus einem Elternhaus kommen, wo das vielleicht überhaupt nicht besonders beachtet wird, wo das Kind auf sich alleingestellt wird und wo sich auch die Eltern nicht besonders weiter darum kümmern, was aus der Schullaufbahn wird?
    Hüther: Auch dafür gibt es schöne Beispiele. Das geht meistens gut in sogenannten Peergroups. Gerade hier in Göttingen hat eine Gesamtschule den Deutschen Schulpreis bekommen, weil sie solche Gruppen-Lernprozesse eingeführt haben. Da kann es durchaus sein, dass da Schüler dabei sind, die erstens keine Lust auf ein bestimmtes Fach haben, oder wo auch zuhause keiner ist, der ihnen weiterhilft. Aber die bilden dann eine Lerngruppe, auch mit welchen, die in dem Fach meinetwegen gerade mal besonders gut sind, und dann helfen die sich gegenseitig und die ziehen sich gegenseitig hoch. Das ist eigentlich eine viel bessere Variante und da hat auch der Lehrer dann am Ende viel weniger Arbeit.
    Zeugnisse: "Ihr Kind in den Arm nehmen"
    Armbrüster: Herr Hüther, Anlass unseres Gesprächs heute Morgen ist wie gesagt der letzte Schultag vor den NRW-Sommerferien. Deutschland mitten in der Ferienzeit. An so einem Tag der Zeugnisübergabe, was sagen Sie Eltern, die heute, wenn sie das Zeugnis lesen, nicht ganz zufrieden sind mit dem, was sie da lesen? Was sollen die machen?
    Hüther: Die sollen ihr Kind in den Arm nehmen und sagen, wir versuchen das, wenn die Ferien vorbei sind, noch mal von vorne, und dann gucken wir mal, ob es dann besser wird.
    Armbrüster: Der Neurobiologe und Buchautor Gerald Hüther hier bei uns in den "Informationen am Morgen". Vielen Dank für das Gespräch.
    Hüther: Gerne! – Schönen Tag noch.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.