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"Bill" feiert europäische Premiere

In den sechziger und siebziger Jahren musste die Kunst zeitgenössisch sein. In dieser Zeit gründete Baronin Batsheva de Rothschild in Israel die Batsheva Dance Company. In Frankfurt waren sie mit dem Stück "Bill" von Sharon Eyal zu Gast.

Von Wiebke Hüster | 05.11.2011
    Ohad Naharin, der 1990 als Künstlerischer Direktor der Batsheva Dance Company anfing, eine Weltkarriere als Choreograf aufzubauen, schuf in der Folge Werke für viele europäische Ensembles. Seine Tanzsprache wurde als leidenschaftlich wahrgenommen und seine Fähigkeit, für Gruppen zu choreografieren, als Abbild kollektiven politischen Fortschrittsbewusstseins gefeiert.

    Aber dann kam einerseits der Konzepttanz und schwemmte die Begeisterung für bis anhin noch als sinnlich empfundenes Tanzen fort und rückte anderseits in Deutschland die Tanzkunst der Sasha Waltz als sinnlich in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Und so war Batsheva, ohne wirklich etwas dafürzukönnen, gleichsam über Nacht ins Abseits der Tanzöffentlichkeit abgeschoben

    Nun dreht sich der Wind seit einigen Jahren und bläst heftig in die entgegensetzte Richtung - so wie etwa auf den großen Kunstmessen regelmäßig die Rückkehr der Malerei gefeiert wird und in der Literatur die Wiederkehr des Erzählens - so wird auch in der Welt des zeitgenössisches Tanzes nicht zwangsläufig das Interesse von Choreografen an tänzerischer Bewegung nicht mehr als konservativ-revolutionär gebrandmarkt. Erfreulich. Sharon Eyal, wie Ohad Naharin seit zwanzig Jahren Mitglied von Batsheva, überwiegend allerdings als Tänzerin, riss mit ihrem Stück "Bill" jetzt - ganz in Übereinstimmung mit dieser Entwicklung - das Publikum in Frankfurt zu Beifallstürmen und Füßetrampeln hin. Eyal ist ein interessantes Beispiel der komplizierten und verwirrenden Verhältnisse im zeitgenössischen Tanz. Ihr Stück zu Beats, die jeden Klub in einen heißen, engen, lauten Wirbel sich ekstatisch bewegender Leiber verwandeln würde, ist mitreißend, witzig, und sehr überraschend in seinem eklektizistischen Vokabular. Ihre zwanzig Tänzer auf der leeren, dramatisch beleuchteten Bühne sehen irre aus. Alle haben aschgrau gefärbte Haare und Bärte und ihre Augen glänzen hinter Kontaktlinsen in einem außerirdischen unheimlichen Blau. Ihre einheitlichen hoch geschlossenen Trikots mit langen Armen sind aus so dünnem Material, dass es wirkt, als wären die Tänzer bloß grau geschminkt auf nackter Haut. Wie in einer ironischen Umkehrung der Ausstellung schöner Körper einst bei Ohad Naharin schickt Eyal als Erstes vier Männer nacheinander zu Solotänzen auf die Bühne. Ihre Bewegungskunst setzt sich aus klassischen Sprüngen und Drehungen versetzt mit raffinierten MTV-Clip-Hüftschwüngen, reinen Diskotänzen und Zitaten von Nijinskys Faun. Eyal macht das interessant, indem sie abwechslungsreich phrasiert - hier eine Bewegung ungewöhnlich in die Länge zieht oder einfriert, dort zu eruptiven Sprüngen wie aus dem Nichts ansetzt. Dann gibt sie dem tanzenden Subjekt noch einen fantastischen Knacks mit - in einem Moment sind die Darsteller souveräne Handelnde im Vollbesitz ihrer Virtuosität, im nächsten Irre, in die Bewegungen einfahren wie der Blitz und den Bewusstseinsstrom schlagartig unterbrechen. Dieses Wechselbad von Ironie und Brillanz ist es, das zusammen mit der hypnotisierenden Musik und der fast ununterbrochenen Anwesenheit der Tänzer als nach verborgenen Gesetzen einheitlich agierender Gruppe den Betrachter in eine fremde faszinierende Welt entführt. Das Stück ist von brillanter Klarheit. Es entwirft ein kluges, konzentriertes, höchst unterhaltsames Szenario und spielt es ohne jede Abschweifung zu Ende durch. Es geht Sharon Eyal um die Anziehungskraft zwischen Individuum und Gruppe, um das Begehren zwischen einzelnen, um die Frage, sind wir alle meistenteils bei Verstand oder doch nur hormongesteuerte tanzende Roboter - und von wo, aus welchem Part unseres Gehirns werden Handlungen und Bewegungen hochgespielt.