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Billiglohnland Serbien
Marodes Gesundheitssystem

Misswirtschaft, Krieg, Korruption: Serbiens Gesundheitssystem ist marode und kaputtgespart. Das zeigt sich deutlich während der Covid-19-Pandemie. Und auch das Pflegepersonal und die Ärzte kehren dem Land den Rücken. Sie zieht es angesichts niedriger Gehälter und schlechte Arbeitsbedingungen ins Ausland.

Von Dirk Auer | 06.04.2020
Die Erste-Hilfe-Abteilung eines Krankenhauses in Serbien
Jedes Jahr verlassen bis zu 1.000 ausgebildete Krankenschwestern, Pfleger und Ärzte Serbien (imago / Pro Photo)
Snežana Jelovac hat Feierabend und kommt nach Hause. Es ist keine große Wohnung, sagt sie, als sie in ihrem 1-Zimmer-Apartment im fünften Stock eines Wohnblocks im Belgrader Stadtteil Zemun steht. Aber immerhin, es ist ihre eigene. Sie ist Mitte 40 und selbst in diesem Alter ist es in Serbien keinesfalls selbstverständlich, auf eigenen Füßen zu stehen: "Zum Beispiel: Mein Bruder, er hat zwei Kinder und lebt bei unserer Mutter. Er hat ein Gehalt von 400 Euro, seine Frau von 350 Euro. Die Chance, dass er mit diesem Gehalt selbstständig wird, im Sinne, dass sie sich etwas aufbauen, ist gleich null. Keine Chance."
Hoffnung auf ein besseres Leben in Deutschland
Es klingelt. Eine Freundin kommt zu Besuch. Jasna, eine Kollegin. Und eine Freundin, betont Snežana. Seit vielen Jahren schon arbeiten die beiden Krankenschwestern zusammen im selben Krankenhaus. Doch vielleicht nicht mehr lange. Jasna lernt Deutsch, weil sie sich mit dem Gedanken trägt, aus Serbien wegzugehen. "Ob ich es tatsächlich realisiere, weiß ich noch nicht. Aber ich bin auf dem Weg, mal sehen. Vielleicht werde ich am Anfang noch nicht als Krankenschwester arbeiten, sondern etwas weniger Qualifiziertes machen. Aber wenn ich dann die Sprache besser kann, dann kann ich sicher auch in meinem Beruf arbeiten."
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe Serbien - Arbeiten im Billiglohnland.
Snežana hört mit gemischten Gefühlen zu. Sie versteht, wenn jemand woanders ein besseres Leben sucht. "Aber es gehen einfach immer mehr, letztes Jahr waren es mindestens zehn meiner Kollegen. Und jetzt arbeiten sie in Deutschland und fehlen hier. Manchmal gibt es richtige Wellen: Die Leute fangen, an die Sprache zu lernen, organisieren sich, und dann zieht eine Kollegin die andere nach."
Krankenschwestern, Pfleger und Ärzte zieht es ins Ausland
Es gibt keine offiziellen Statistiken, aber Schätzungen zufolge verlassen jedes Jahr bis zu 1.000 ausgebildete Krankenschwestern, Pfleger und Ärzte das Land. "Innerhalb der letzten fünf Jahre sind bei uns vielleicht 100 Leute weggegangen. Und das ist nicht wenig in einem Krankenhaus mit 1.000 Mitarbeitern. Es gab eine Gehaltserhöhung von 15 Prozent, das heißt, wir bekommen jetzt 500 statt 450 Euro. Na super. Mit 50 Euro kannst du selbst hier nicht viel machen. Ich weiß wirklich nicht, wie der Staat die Leute halten will, solange die Gehälter so niedrig sind."
Andere Krankenhäuser verlieren sogar noch mehr Leute als wir, sagt Jasna. Ja, bestätigt Snežana, und es gibt noch einen neuen Trend: "Es gehen nicht mehr nur die jungen, sondern auch Kolleginnen und Kollegen, die schon 45 oder 50 Jahre alt sind. Sie sagen, dass es ihnen reicht und fangen an, Deutsch zu lernen. Weil sie noch einmal 15 Jahre leben und arbeiten wollen, ohne dauernd daran zu denken, wie sie ihre Rechnungen bezahlen."
"Die meisten lernen deutsch."
"Sie lernen, um zu gehen."
"Deutsch ist die Zukunft!"
Versprechungen reichen der jungen Generation nicht aus
Und inzwischen fehlt es nicht nur in Kliniken an Personal. Selbst die Busfahrer gehen weg, erzählt Jasna. Und Handwerker und Bauarbeiter. Snežana wird bleiben. Aber auch sie hat schon im Ausland gearbeitet, in Afrika und auf Zypern, jeweils für ein paar Monate. Das und eine Fachausbildung zur Perfusionistin (Fachkraft für die Herz-Lungenmaschine) machen es ihr möglich, in Serbien über die Runden zu kommen.
"Aber ich verstehe vollständig die Jungen, die Anfang 20 sind und nicht mehr warten wollen. Sie wollen sofort ein anständiges Gehalt." Szenana brüht noch einen türkischen Kaffee auf. Und dabei wird sie nachdenklich: Das gute Leben - Reisen, die Welt sehen und ein normales Einkommen zu Hause. Für ihre Generation war das immer nur ein Versprechen. In den 1990er-Jahren waren sie eingeschlossen im eigenen Land. Dann die Hoffnung auf den demokratischen Aufbruch.
"Ich dachte wirklich, dass wir uns nach dieser ganzen hässlichen Milosevic-Zeit zu einer Demokratie entwickeln, dass die Korruption zurückgeht. Und ich habe gedacht, dass wir sehr schnell der EU beitreten: 2005 vielleicht schon. Oder 2006. Wir haben immer irgendwie auf etwas gewartet. Dass sich etwas ändert."
"Und noch immer warten wir."
Angst, das Wenige zu verlieren
Morgen haben die beiden frei. Es ist Nationalfeiertag, mit dem an den ersten serbischen Aufstand gegen das Osmanische Reich im Jahr 1804 erinnert wird. Einen Aufstand, den müsste es auch heute noch einmal geben, überlegt Snežana. "Aber das größte Problem ist wohl, dass wir Angst haben, das Wenige zu verlieren, was wir haben. Und so leben viele Leute hier wie unter einer Glasglocke. Sie sagen, mich interessiert nichts. Ich komme morgens zur Arbeit und bin schon alle Nachrichten durchgegangen, und dann sage ich zu meinen Kollegen, habt ihr gelesen … was auch immer, es ist nicht wichtig. Und normalerweise bekomme ich zur Antwort: Ach, hör auf, davon bekomme ich nur Kopfschmerzen."
Na ja, sagt Snežana am Schluss nachdenklich: "Vielleicht wird es ja tatsächlich nie besser. Vielleicht ist 500 Euro für eine Krankenschwester das Maximum, das wir erwarten können." Aber das will sich Jasna gar nicht vorstellen. Sie winkt ab. Gib mir noch einen Tee, sagt sie. Das Wichtigste ist doch die Liebe. Und da muss auch Snežana lachen. "Ja, wenn wir über Gehälter, über Politik, über das Leben nachdenken: Nur die Liebe kann uns retten."