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Biografie
Deng Xiaoping - der pragmatische Opportunist

Innerhalb weniger Jahrzehnte führte Deng Xiaoping China vom Steinzeitkommunismus zur Wirtschaftsmacht – ein Demokrat war er deshalb noch lange nicht. Auf Dengs Befehl hin rollten am 4. Juni 1989 die Panzer auf den Platz des Himmlischen Friedens. Der Journalist Felix Lee zeichnet in der Biografie "Macht und Moderne" ein differenziertes Bild des Reformers.

Von Ralph Gerstenberg | 02.06.2014
    Der frühere chinesische Staatschef Deng Xiaoping (aufgenommen im September 1975)
    Der frühere chinesische Staatschef Deng Xiaoping (aufgenommen im September 1975) (picture alliance / dpa - Stringer )
    Wer das heutige China auch nur ansatzweise verstehen wolle, komme an dem Namen Deng Xiaoping nicht vorbei, schreibt Felix Lee in der Einleitung zu seinem Buch. Diese Erkenntnis habe sich bei ihm eingestellt, seit er als Korrespondent für deutschsprachige Zeitungen aus Peking berichte.
    "Deng ist ja weiterhin sehr präsent hier. Eigentlich hatte ich ihn vor allem in positivem Kontext gesehen. Das, was China geschafft hat, nämlich zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt aufzusteigen, das geht in irgendeiner Weise auch auf Deng zurück, zumindest auf seine Zeit. Er hat die Weichen für Chinas Aufstieg gestellt. Das aber schon damals zu dem Preis, dass einige wenige besonders stark davon profitieren und andere sehr langsam oder so gut wie gar nicht aufschließen. Und genau das beschreibt ziemlich genau das heutige China."
    Deng sei als "Chinas großer Reformer" in die Geschichte eingegangen, meint Felix Lee. Er habe das Land "von dem Schrecken und dem gegenseitigen Misstrauen der Mao-Zeit" befreit. Aber er war zugleich auch der "Schlächter vom Tiananmen-Platz", derjenige, der am 4. Juni 1989 den Befehl gegeben hatte, mit Panzern gegen friedlich demonstrierende Studenten vorzugehen. Dengs Reform sei stets und strikt auf die Wirtschaft bezogen gewesen – also keine Reform, die einen Demokratisierungsprozess eingeleitet hätte. Die führende Rolle der Kommunistischen Partei galt für ihn als unantastbar.
    "An Macht durfte die KP nicht einbüßen, denn alles andere hätte auch seine Macht beschnitten. Und genau das wurde dann ja im Zuge der Proteste von 1989 dann doch auch in Zweifel gestellt. Und das wollte er dann doch nicht zulassen. Und in dem Sinne hat er dann nur konsequent gehandelt. Sobald die Kommunistische Partei in Frage gestellt wird, wird er hart durchgreifen. Und so ist es ja auch leider geschehen."
    Doch wer war der Mann, der Chinas Wandel einleitete, der das bevölkerungsreichste Land der Welt innerhalb von wenigen Jahrzehnten vom Steinzeitkommunismus zur Wirtschaftsmacht mit dem größten Wohlstandgewinn in der Menschheitsgeschichte führte, der Mann, dem so etwas wie die Quadratur des Kreises gelungen war: die Kombination von Marktwirtschaft und Sozialismus - oder wie es bei Felix Lee heißt: "Prada und Gucci unter Hammer und Sichel"?
    KP als Machtinstrument
    "Ich bezweifle inzwischen sehr stark, dass Deng aus innerer Überzeugung wirklich ein Sozialist oder überhaupt ein Kommunist war. Die Kommunistische Partei, die war schon immer, also seitdem er selbst Mitglied war, immer ein Instrument, ein Machtinstrument, nämlich um selbst an die Macht zu kommen. Anders als bei Mao spielte die Ideologie für ihn nie eine besonders große Rolle. Insofern war es für ihn auch nicht schwierig, in den 90er-Jahren, wo er merkte, dass es mit marktwirtschaftlichen Reformen auch sehr gut funktioniert, vom Kommunismus im Sinne von Mao Abschied zu nehmen und das dann in irgendeiner Weise umzudeuten zu dem, was heute das chinesische System darstellt."
    Geboren wurde Deng Xiaoping 1904 in der Provinz Sichuan. In den 20er-Jahren ging er nach Paris, um zu studieren, musste jedoch vorwiegend als schlecht bezahlter Fabrikarbeiter seinen Lebensunterhalt fristen. In der französischen Hauptstadt freundete er sich mit anderen Auslandschinesen an, die in der Jugendliga der Kommunistischen Partei tätig waren. 1925 beteiligte er sich an einem Überfall auf die chinesische diplomatische Gesandtschaft in Paris und floh vor der Gendarmerie über Moskau, wo er ein Jahr lang Marxismus-Leninismus studierte, zurück nach China. Im dortigen Bürgerkrieg schlug er sich auf die Seite Maos, beteiligte sich am langen Marsch und stieg rasch auf in der Parteihierarchie. Mao schätzte Dengs Organisationstalent - hielt ihn in ideologischen Fragen jedoch stets für einen unsicheren Kandidaten.
    "Er war ein Meister darin, gute Kontakte zu knüpfen zu einflussreichen Leuten, er hatte immer Fürsprecher um sich herum. Das hat ihm viel geholfen. Und so ein schlechter Theoretiker er war, so war er doch ein großartiger Organisator. Schon zu Bürgerkriegszeiten hat Mao ihn zu schätzen gelernt als einen, der Kriege zu gewinnen weiß aufgrund seines organisatorischen Geschicks. Diese Stärke hat er in all den Jahrzehnten beibehalten. Und das hat ihm unglaublich viel Ansehen innerhalb der Partei verschafft, aber auch sehr viel Macht."
    Während der Kulturrevolution fiel Deng Xiaoping in Ungnade, wurde gedemütigt und verbannt.
    "Deng musste in den nächsten Jahren in einer nahe gelegenen Fabrik halbtags als gewöhnlicher Arbeiter Traktoren reparieren, während er am Nachmittag in einem Hausbeet Gemüse pflanzte. Seine Frau wurde im gleichen Werk als Putzfrau eingesetzt. (...) Nach mehr als vierzig Jahren in der Kommunistischen Partei und mehr als zehn Jahren an der Staatsspitze war Deng bloß noch einfacher Landarbeiter. (...) Seiner offiziellen Biografie zufolge soll er in dieser Zeit die wesentlichen Werke von Marx und Lenin durchgearbeitet haben, außerdem eine Reihe von chinesischen und ausländischen Büchern, von der Antike bis zur Neuzeit."
    Theoretisch gefestigt kehrte er 1973 zurück, erwarb sich Verdienste bei der Wiederherstellung der maroden Infrastruktur und gewann immer mehr an Einfluss. Nach dem Tod Maos im Jahre 1976 übernahm Deng peu à peu die Macht im Land. Damals war er bereits Anfang 70. Sein Reformeifer war jedoch ungebremst. Überall in China ließ er Sonderzonen einrichten, in denen er Experimente mit freiem Unternehmertum und marktwirtschaftlichen Strukturen förderte.
    "Einer seiner Hauptansätze war: 'Von Stein zu Stein tastend den Fluss überqueren' - sprich: Ausprobieren! Ausprobieren! Ausprobieren! Was gut funktioniert, soll beibehalten werden, was nicht funktioniert, davon wird wieder Abstand genommen."
    Diskussion über Massaker von 1989 noch immer tabu
    Felix Lee zeichnet in seinem gut geschriebenen Buch das Porträt eines pragmatischen Opportunisten und äußerst geschickten Machtpolitikers, der China nach 30 Jahren der Abschottung unter Mao öffnete, Bildung und Wirtschaft reformierte und dem Land eine Zukunft gab. Forderungen nach mehr Demokratie hingegen beantwortete Deng Xiaoping mit dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Eine Diskussion darüber sei auch nach 25 Jahren im heutigen China absolut tabu, erklärt Felix Lee. Der Geist von Deng ist immer noch allgegenwärtig.
    "Intellektuelle, Kritiker, Dissidenten, die haben das natürlich noch sehr, sehr präsent, was damals passierte und wissen auch um die Rolle Dengs und kritisieren ihn auch dafür. Aber die große Mehrheit, würde ich behaupten, weiß davon nichts. Und die Kommunistische Partei verschweigt das Thema natürlich vollkommen. Und insofern wird Deng in dem Sinne auch nicht angezweifelt."
    Felix Lee: "Macht und Moderne. Chinas großer Reformer Deng Xiaoping. Die Biographie."
    Rotbuch-Verlag, 304 Seiten, 24,95 Euro
    ISBN: 978-3-867-89195-0