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Biografie "On Ecstasy"
Barrie Kosky auf den Spuren von Dionysos

Regisseur Barrie Kosky hat bereits 2008 in Australien das Buch "On Ecstasy" veröffentlicht: In autobiografischen Reflexionen und Anekdoten erzählt er darin vom Aufwachsen in Melbourne, von seinem Karrierestart und immer wieder vom Inszenieren. Nun ist der Band erstmals auf Deutsch erschienen.

Von Elisabeth Richter | 15.03.2021
Barrie Kosky, Intendant und Chefregisseur der Komischen Oper Berlin, sitzt im Rahmen einer Pressekonferenz im Zuschauerraum
Seit 2012 ist Barrie Kosky Intendant und Chefregisseur der Komischen Oper Berlin (picture alliance/dpa - Jörg Carstensen)
"Das Theater scheint mir der ideale Ort für die Manifestation des Ekstatischen zu sein. Theater ist von seiner Natur her eine alchemistische Mischung aus Manipulation, Ritual und Stimulation. Körper, Stimme, Licht, Klang", schreibt der Regisseur Barrie Kosky in seinem Büchlein "On Ecstasy". Und eigentlich, betont er, sei das Theater schon immer dagewesen.
"In der griechischen Mythologie und im alten griechischen Theater Dionysos war der Gott des Theaters. Dionysos war auch der Gott der Ekstase, der Gott von Exzessen, der Ambivalenz. Das bedeutet in der DNA, besonders von der westlichen Theater, Musiktradition, Dionysos ist da. Ektase gehört zum absoluten Anfang unserer Musiktheater-Tradition."
Barrie Kosky im Zuschauerraum der Komischen Oper Berlin
Kosky: "Manchmal muss man Mamas Busen geben"
Was der Theater- und Opernregisseur Barrie Kosky anpackt, wird zum Erfolg. Seit 2012 leitet Kosky die Komische Oper Berlin – und wird von seinen Mitarbeitern ebenso geliebt wie vom Publikum.
Barrie Kosky wuchs in Australien auf, aber seine Vorfahren kommen aus Osteuropa und England.
"Dieses Thema Ekstase war sehr verbunden mit meiner Kindheit in Australien, war tief verbunden mit meinen Teenager-Jahren in Australien, mit meinen ersten Erfahrungen mit Kultur in Europa und Amerika, und eigentlich dann meine 20er, 30er-Jahre, die doch soll voll von Drugs, Sex and Rock’n‘roll sein sollten. Ich glaube, das ist, was man machen soll, wenn man jung ist."

Hühnersuppe von Koskys polnischen Großmutter

Am Anfang aller ekstatischen Erfahrungen standen für den siebenjährigen Barrie der Geruch und der Geschmack der in einem mehrtägigen Ritual zubereiteten Hühnersuppe seiner polnischen Großmutter.
"Ihre Hühnersuppe war der Caravaggio der Suppen. Der Rainer Maria Rilke der Suppen. Der Arturo Benedetti Michelangeli der Suppen" - und eine Hühnersuppe wie das Gold in Tutanchamuns Grabmal! Barrie Kosky packt mit einer wunderbar opulent bildreichen Sprache. Man folgt ihm mit Spannung in den "dunklen Wald der Nerzmäntel" im Pelzgeschäft des Vaters, spürt das "Kribbeln" des Fells auf der Haut und die Kühle der Seide, die Kosky mit einem "Sorbet nach der Hitze der Nerze" vergleicht.
"Ich war 15, als ich meine erste Regie gemacht habe. Ich habe, seit ich drei war, Klavier gespielt, und Cello gespielt und gesungen im Chor und Schauspieler und getanzt mit meiner Schwester, alle diese Sachen waren toll. Ich habe immer gedacht: etwas stimmt nicht für mich als Schauspieler, ich möchte kein Schauspieler sein, ganz genau wie beim Klavierspielen, ich habe es geliebt, aber ich habe gedacht, ich bin kein Klavierspieler, ich würde keine Konzerttourneen machen, das ist nicht meine Sache."

Kosky inszenierte als Jugendlicher Büchners "Woyzeck

Ein Lehrer in der Schule ermuntert ihn ein Theaterstück seiner Wahl zu inszenieren, in der Schulbibliothek findet Kosky Büchners "Woyzeck". Er verwendet Musik von Gustav Mahler.
"Als mein Woyzeck-Junge die Kehle seiner Geliebten, Marie, aufschlitzte, unterlegte ich die Szene mit dem 3. Satz der 1. Sinfonie. Immer wenn ich die Musik höre, sehe ich das Küchenmesser meiner Mutter, das ich mir für die Aufführung geborgt hatte, den Hals eines heranwachsenden Jungen im schwarzen Kleid entlangfahren." (Zitat aus dem Buch)
Schon damals weiß Barrie Kosky von der "perversen" Form von Ekstase, er hat sie nie geleugnet. Ähnlich blutrünstig wie in Büchners "Woyzeck" geht es viel später in Essen in Koskys Inszenierung von Wagners "Fliegendem Holländer" zu. Er lässt Senta dem Titelhelden die Kehle durchschneiden. Und in Wien sieht er in der Tat der Kindsmörderin Medea eine sexuelle Komponente.
"Es war weder die Axt noch das Blut noch die Tat der doppelten Enthauptung. Es war dieser Schrei, der ihrer Vagina entsprang, durch ihren Körper ging und aus ihrem Mund hervortrat." (Zitat aus dem Buch)
Die Körperlichkeit der Ekstase hat Barrie Kosky immer wieder "ergriffen". Faszinierend, wie er mögliche Sinneserfahrungen bei "Isoldes Liebestod" am Ende von Wagners "Tristan" beschreibt.
"Man muss sehen, wie die Melodie aus der Tiefe des singenden Körpers emporsteigt; hören, wie sie aus dem Munde der Sängerin geboren wird; sie berühren, wenn sie sich durch den Raum bewegt; sie riechen, wenn sie um einen herumschwebt; sie schmecken, wenn sie in den eigenen Körper eintaucht. Ein Echo. Ein Vibrieren. Ekstase." (Zitat aus dem Buch)

Deutsche Fassung des Buches ergänzt mit Kosky-Interview

Dreiviertel dieser theatral-biografischen, auch unterhaltsam-anekdotischen Reflexionen kamen schon 2008 in Australien heraus. Jetzt wurde die deutsche Fassung durch ein Interview mit Barry Kosky ergänzt, geführt von Übersetzer Ulrich Lenz. Heute würde er wohl eher über das Lachen oder Melancholie schreiben, denn Ekstasen, verrät Kosky, werden mit der Zeit weniger. Auch, wenn er sie bei Rameau oder Monteverdi erlebt habe, oder den Operetten der Weimarer Republik, für deren Wiederbelebung Kosky sich als Intendant der Komischen Oper in Berlin stark eingesetzt hat.
Sein Umgang mit Richard Wagner sei objektiver und analytischer geworden, besonders durch die Erfahrung 2014 in Bayreuth "Die Meistersinger" inszeniert zu haben. Hier zeigt er Hans Sachs als Richard Wagner und stellt ihn wegen Antisemitismus vor Gericht, das Bühnenbild: der Gerichtssaal der Nürnberger Kriegsgerichtsprozesse.
"Bei den Wagner-Inszenierungen zuvor hatte ich jedes Mal das Gefühl, da säße bei den Proben immer so eine Art Gargoyle oder Gollum oder Incubus von Richard Wagner auf meiner Schulter und flüstere mir ins Ohr: ‚Dreckiger Jude! Dreckiger Jude! Dreckiger Jude!‘ Es mag verrückt klingen, aber ich hatte wirklich und wahrhaftig dieses körperliche Gefühl. Und weil ich in meiner Meistersinger-Inszenierung den Spieß gewissermaßen umdrehte, indem ich sagte: ‚Fuck you, ich stelle dich vor Gericht!‘, ist dieser kleine Wagner-Gollum-Dämon auf einmal verschwunden. Wir können diese Musik genießen, wir können intellektuell und künstlerisch in diesen Werken versinken, aber wir müssen uns endlich von diesem Wagner-Kult befreien." (Zitat aus dem Buch)

Wagner und Kosky

Ein Kult, den Wagner selbst "inszeniert" hat, unter anderem indem er sein eigenes Theater, seinen "Tempel" in Bayreuth baute, ein Kult, den die Familie bis heute pflegt, dem manche Wagnerianer gerne folgen.
"Der Mann war und ist, bleibt tief problematisch. Und diese Problematik ist in der Musik und im Text. Das ist alles, das ich den Menschen sagen möchte. Ich habe ein großes Problem, wenn Menschen sagen, nein, man kann den Mann von der Musik trennen, und man kann seine unappetitlichen Seiten von der Musik und von der Performance trennen, das ist unmöglich. Unmöglich!"
Barrie Kosky: "On Ecstasy"
Aus dem Englischen von Ulrich Lenz, Verlag: Theater der Zeit, 104 Seiten, 15 Euro.